Stress, Hektik und keine Ruhe

Der Kampf gegen die Zeitknappheit

15.12.2015
Von Thorsten Giersch

Wie die Sorgen verschwinden

Neben der Langeweile ist ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen Mensch und Tier unsere Fähigkeit, dass wir uns über die Zukunft Gedanken machen. Martin Heidegger bezeichnete die Sorge als das "diensthabende Organ" für die Erfahrung mit Zeit. Und tatsächlich sind die allermeisten Menschen ständig dabei, vorzugreifen.

Wir gehen nun mal nicht gänzlich im Augenblick auf, sondern prüfen instinktiv, ob unsere Erwartungen an die Zukunft erfüllt werden können. Jean-Jacques Rousseau ging davon aus, dass die Sorgen verschwinden, wenn man nichts mehr besitzt. Ohne Eigentum keine Sorgen - das lässt sich durchaus durch Studien von indigenen Stämmen belegen.

Heutzutage prägt das Wort Risiko das Denken viel mehr als Sorge, wobei die beiden Begriffe eng verwandt sind. Wie sehr wir uns in einer "Risikogesellschaft" bewegen - den Begriff prägte der renommierte Soziologe Ulrich Beck 1986 - merkte man spätestens in der Finanzkrise. Rüdiger Safranski schreibt: "Risiken sind die unbeabsichtigten Nebenfolgen des Handels. Des Einen Risiko ist des Anderen Gefahr."

Nirgendwo wird das derzeit so deutlich wie beim Kreditsystem, also dem Wirtschaften mit der Zukunft: Nicht nur die Abfälle häufen sich, sondern auch die Rückzahlungstermine. Wer derzeit ab und zu mal Nachrichten guckt, weiß: Nicht nur bei Umweltverschmutzung, sondern auch bei Schulden gilt immer häufiger der Grundsatz "Mitgehangen, mitgefangen". Wir lagern die Sorgen in die Zukunft aus.

Entsprechend wächst der menschengemachte Anteil an der Zukunft, auch wenn Terrorismus und Naturkatastrophen jede Berechenbarkeit fehlt. Die Medien vergrößern den daraus resultierenden Schrecken oftmals und werden zum Handlanger der Sorge. Wie damals befinden wir uns derzeit wieder an einem Wendepunkt der Epochen.

Die Ära der digitalen Revolution hat bereits begonnen und wird unseren Alltag noch viel stärker verändern als ohnehin schon. Entschleunigen wird sich das Leben nicht von allein - da muss jeder Einzelne an sich arbeiten. Oder um auf Hölderlin zurückzukommen:"So eile denn zufrieden" - und das gilt heute mehr denn je. (Handelsblatt)