Stress, Hektik und keine Ruhe

Der Kampf gegen die Zeitknappheit

15.12.2015
Von Thorsten Giersch

Warten muss nicht die Hölle sein

Heute laufen wir Gefahr, zwischen Zeitfetzen zu vagabundieren. Die Gretchenfrage lautet: Wie viel Flexibilität verträgt jeder Einzelne? Wie viel die Gesellschaft? Wer kann den gesundheitlich gesehen höchst sinnvollen Mittagsschlaf wirklich machen? Oder lachen wir Deutschen in Wahrheit nicht, wenn wir Fotos von Japanern sehen, die mittags mit dem Kopf auf dem Schreibtisch eingedöst sind für eine Viertelstunde?!

Der Mensch braucht Lücken in seinen Abläufen: "Ohne Intervalle, ohne Pausen ist die Musik nichts als Lärm. Ohne Dehnungsfuge ist kein Haus stabil", schreibt Geißler. Er betont, wie wichtig Pausen sind, ein "Dazwischen". Doch durch die Verdichtung von Abläufen werden die für den Menschen so wichtigen Intervalle zusammengeschoben. Raucherpausen haben Vor- und Nachteile. Doch gönnt uns der Arbeitgeber wirklich Nichtraucherpausen?

Allein schon auf einen verspäteten Zug zu warten ist für viele Menschen schrecklich: uneffektiv, ungeplant, einfach die Hölle. Dabei könnte man Wartezeit auch positiv sehen: als Chance für einen kreativen Moment, als Mußeminute zum Reflektieren des Erlebten. "In der Welt des Zeit-ist-Geld-Diktats spielt es keine Rolle, dass das Warten von unterschiedlicher Qualität sein kann", schreibt Geißler. Wartenkönnen bereichere das Leben. Oder um es mit Leo Tolstoi zu sagen: "Denn alles nimmt ein gutes Ende für den, der warten kann."

Für den Philosophen Arthur Schopenhauer wurde Zeit nur im Warten erfahrbar. Aber niemand zeigt so schön, dass leeres Warten den Menschen verändern kann, wie Samuel Beckett in "Warten auf Godot". Zwei Landstreicher warten auf Godot, ohne zu wissen, ob er kommt und wer er genau ist. Irgendwann kommen sie zu dem Schluss: "Komm, wir reden zusammen - wer redet, ist nicht tot." Ein Satz, als ob Becket die Generation Facebook und die gehetzten Manager mit ihren Smartphones als Gegenmittel zur Langeweile voraussah.

Ablenkung, Kommunikation und das immer und überall: Der moderne Mensch hält es mit Sören Kirkegaard und seinem Ausspruch, dass die Langeweile die Wurzel allen Übels ist: "Der Mensch ist ein Wesen, das unterhalten werden muss."

Die Angst vor der Langeweile ist heute ein Massenphänomen. Bis vor 200 Jahren gab es sie maximal bei einigen Adligen. Heute ist die Enttäuschung des Nichterlebens weit verbreitet durch alle Schichten: Die modernen Nomaden erleben sie beim Warten an Flughäfen und Bahnhöfen, viele andere vor den Fernsehern. Aufmerksamkeitsspannen werden immer kürzer: Schulstunden dürften eigentlich nur noch rund 23 Minuten dauern, denn Studien haben ergeben, dass die Aufmerksamkeit von jungen Menschen genau so lange voll da ist. Übrigens fast auf die Sekunde genauso lange, wie eine Folge der TV-Serie "Simpsons" dauert.