Stress, Hektik und keine Ruhe

Der Kampf gegen die Zeitknappheit

15.12.2015
Von Thorsten Giersch

Wie viel Flexibilität verträgt die Gesellschaft?

Was vordergründig Egoismus ähnelt, schadet uns selbst - oft ohne dass wir es rechtzeitig merken. Denn die natürliche Taktung des Lebens, auch die des Körpers, wird durch die Uhr ausgehöhlt: Leben ist auf Dauer nur mit gewissen Rhythmen vereinbar. Zeitkrankheiten breiten sich aus, vor allem bei denen, die mal nachts und mal tagsüber arbeiten.

Die Pausen- und Erholungskultur geht danieder und der freie Abend wird zersägt durch Mobiltelefone. Die Kultur des Westens war jahrhundertelang geprägt von der Präferenz der Ruhe - doch inzwischen wird längst die Unruhe präferiert.

Dabei vergeht Zeit nicht immer gleich schnell: Ob beim Sex, beim Reden, beim Fernsehgucken, Lesen oder Tanzen. Beim Schauen der letzten Minuten des WM-Finals, wenn Deutschland 1:0 führt? Da braucht man nicht mal Einsteins Relativitätstheorie um zu merken, dass die Zeit keine absolute Größe ist. Doch in unserem Bewusstsein wird Zeit mit dem Instrument verwechselt, das sie misst.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass sich beides nicht verträgt: ständige Erreichbarkeit und die Herrschaft der Uhr. Der produktive Mensch ist nicht zwingend der pünktliche. Und der glückliche ist er allemal nicht. Typische Ratgeber bringen wunderbare Hinweise, wie man Zeit managen kann.

Das durchkalkulierte Leben mag effizienter sein, doch "Zeitmanager lieben die Zeit nicht", wie Karlheinz Geißler in seinem Buch "Time is honey" schreibt. Wir waren noch nie so frei, über unsere Zeit zu entscheiden, wie heute: "Und nie waren wir so wenig in der Lage, diese Freiheiten zu unseren Gunsten zu nutzen", meint Geissler.

Es ist ein Kampf gegen die Gewohnheit, gegen all das, was wir von Eltern, Lehrern, Chefs und auch Freunden mitbekommen haben: Effizienzdenken statt dessen, was die Römer mit "Carpe diem" meinten. Ablenkung statt Reflexion. Und: künstlicher Lebensstil statt natürlichem.

Der Mensch muss wieder seinem inneren Rhythmus folgen dürfen. Jahrtausendelang war die menschliche Innenwelt mit der natürlichen Außenwelt verbunden. Mit dem Mittelalter ging das verloren.