Stress, Hektik und keine Ruhe

Der Kampf gegen die Zeitknappheit

15.12.2015
Von Thorsten Giersch

Wir haben mehr Zeit, doch was machen wir damit?

Da dies nicht einfach so weitergehen kann, erwarten Fachleute intensive Auseinandersetzungen: "Die Frontlinien der künftigen Kulturkämpfe in den westlichen Industriestaaten werden zwischen den Beschleunigern des digitalen Kapitalismus und den Entschleunigern verlaufen", schreibt der Bestsellerautor Rüdiger Safranski in seinem aktuellen Buch "Zeit". Und der einzelne? Auch der leidet unter dem massiven Konflikt von Eigenzeit und Gesellschaftszeit.

Um nur ein Beispiel zu nennen: Forscher publizierten jüngst Studienergebnisse über die "Leasure Disease", also die Freizeitkrankheit. Darin heißt es: 60 Prozent von uns werden in den ersten Urlaubtagen krank, weil wir aus dem Dauer-Adrenalindruck herausfallen. Dabei ist das Hormon mal für den seltenen Fall gedacht gewesen, dass wir vom Säbelzahntiger verfolgt werden. Der Kult-Psychiater Viktor E. Frankl beschrieb es so: "Das Gefühl der Inhaltsleere und der Sinnlosigkeit des Daseins, wie es gerade beim Stillstand wochentäglicher Betriebsamkeit ausbricht und zutage tritt."

All dies begann im Zuge der industriellen Revolution unterstützt durch die Erfindung des elektrischen Lichts und durch die Entwicklung des Transportwesens, allen voran der Eisenbahn im 19. Jahrhundert. Dies war der Durchbruch der synchronisierten Zeit, der Koordination der Uhren. Und so konnte sich das "wunderliche Phänomen" der Pünktlichkeit herausbilden. Ohne Pünktlichkeit hätten die Fabrikhallen nicht funktionieren können und was das aus den Menschen machte, kann man allein daran erkennen, dass bei Revolten in der Regel nicht die Maschinen zerschlagen wurden, sondern als Erstes die Uhren.

Sie waren die Symbole einer tiefgreifenden Kontrolle. Und sind es noch heute - nur dass die Mehrheit der Arbeitenden mittlerweile nicht mehr in Fabriken stehen, sondern überstundengeschwängerte Bürojobs haben. Dass auch hier jedes Potenzial genutzt wird, um versteckte Pausen zu minimieren, also Zeitreserven zu heben, ist offensichtlich. So wuchs die Kluft zwischen der "Zeit der Uhr" und der am eigenen Leib erfahrenen Zeit, der sogenannten "Eigenzeit".

Der Philosoph Rüdiger Safranski schreibt: "Es wächst der Zeit-Anteil, der eigenzeitlich genutzt werden kann. Doch wird er hauptsächlich vor dem Fernseher und dem Internet verbraucht und von den dortigen Zeit-Takten beherrscht." So vergeht auch die Eigenzeit fremdbestimmt. Verlief die Front über gut zwei Jahrhunderte lang zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, so verschiebt sie sich immer mehr in Richtung der Trennung zwischen der Technik als Beschleuniger und dem entschleunigtem Leben.

Safranski betont die paradoxe Wirkung, die die allgemeine Beschleunigung hat: "Die Steigerung der Verbrauchsgeschwindigkeit und die damit verbundene Auslagerung von Risiken in die Zukunft müsste eigentlich kompensiert werden durch eine Entschleunigung." Doch dazu kommt es offenkundig nicht. Safranski sieht einen Grund dafür in der Endverbraucher-Mentalität: "Die wollen nichts auf die lange Bank schieben, da sie alles von der Gegenwart erwarten, und auf Nachkommen brauchen sie keine Rücksicht zu nehmen." Wo Goethe mit seinem Doktor Faust also eine überzeichnete Figur schuf, ist sie heute zum Common Sense geworden: "Und was der ganzen Menschheit zugeteilt ist, will ich in meinem innern Selbst genießen."