Neue Technologien vernichten Jobs in der Dienstleistungsbranche

Der IT-Arbeitsmarkt ist ein Tummelplatz für die Info-Elite

24.04.1998

Während auf dem Arbeitsmarkt im allgemeinen Flaute herrscht, boomt die IT-und Multimedia-Industrie. Das könnte zu der Vermutung führen, daß die optimistischen Prognosen von Arbeitsmarktexperten in puncto Multimedia stimmen. Allen voran Forschungsminister Jürgen Rüttgers hatte immer wieder angekündigt, der Einstieg in die Informationsgesellschaft werde Millionen neue Jobs schaffen. Doch die erste Euphorie ist vorüber, die heutigen Zahlen sehen wesentlich realistischer aus.

Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann vom Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIfF) haben die Versprechen der letzten Jahre und das Potential der IuK-Technologie untersucht. Vor allem 1994 bis 1996 haben demnach Branchenkenner ihre eigenen Vorhersagen über neue Arbeitsplätze kräftig nach unten korrigiert. So habe das Beratungsunternehmen Arthur D. Little im Jahr 1994 noch von drei Millionen neuen Stellen in der EU gesprochen. Davon sollten allein 700000 in der Bundesrepublik entstehen. 1996 legten die Berater dann die Studie "Innovation und Arbeit im Informationszeitalter" vor, die zu einem völlig anderen Ergebnis kam. Für die Bundesrepublik wurden bis zum Jahr 2010 nur noch 57000 neue Jobs erwartet - und denen stünde ein Rückgang von 910000 Arbeitsplätzen in den wichtigsten Anwenderbranchen gegenüber.

Auch im Hause des Münchner Unternehmensberaters Roland Berger wurden die Prognosen nach unten revidiert: "Eine halbe Million neue Arbeitsplätze in Deutschland bis zum Jahr 2000 wären viel, 100 000 neue Stellen sind nach jüngsten Schätzungen realistischer. Darüber hinaus ist Multimedia nicht nur ein Beschäftigungsmotor, sondern auch ein Jobkiller", erklärt Unternehmenschef Berger.

Die anspruchsvollen neuen Jobs erwartet er hauptsächlich in mittelständischen Unternehmen, die im Service- und Softwarebereich tätig sind. Einen Stellenabbau prognostiziert der Berater vor allem bei den Banken und Versicherungen, aber auch im Handel.

In der Tat könnten Banken und Versicherungen in Zukunft mit weniger als der Hälfte ihres jetzigen Personals auskommen. So ist die Mitarbeiterzahl im privaten Bankgewerbe in Deutschland von 1992 bis 1996 bereits um 7000 Stellen auf 213000 Beschäftigte zurückgegangen. HBV-Gewerkschaftssekretär Jürgen Jürgens: "Da stehen noch Tausende von Jobs auf dem Spiel. Durch den verstärkten IT-Ein- satz und Homebanking nimmt die Arbeit in den Filialen stark ab. "

Diese Aussage will der Frankfurter Unternehmensberater Frank Sempert so nicht stehenlassen: "Daß bei den Banken Jobs verlorengehen, hat rein gar nichts mit dem IT-Einsatz zu tun. "Für ihn liegt das Problem in der Infrastruktur. Immerhin gebe es in Deutschland mehr Bankfilialen als Metzgerläden. Seiner Meinung nach bringen neue Technologien langfristig gesehen mehr Jobs, als man es sich heute vorstellen könne.

Berger empfiehlt der deutschen Wirtschaft ebenfalls eindringlich, sich auf die Risiken der Zukunftsbranche Multimedia einzulassen. Sehr optimistisch scheint der Münchner Berater indes nicht zu sein. Warum sonst hätte er auf der letzten Anhörung der Bundestagsenquete "Zukunft der Medien - Deutschlands Weg in die Informationsgesellschaft" erklärt, "die Politik muß sich entscheiden, welches Arbeitslosenniveau tolerabel ist, da mindestens mittelfristig keine positiven Arbeitsmarkteffekte in der Informationsgesellschaft zu erwarten sind"?

Darin sind sich die meisten Arbeitsmarktexperten einig: Neue Arbeitsplätze in der Cyberwelt können nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, denn in anderen Branchen entwickelt sich die IT mit ihrem Rationalisierungspotential zunehmend zum Arbeitsplatzvernichter.

Millionen Jobs werden wegrationalisiert

Die Würzburger Wirtschaftswissenschaftler Rainer Thome und Boris Kraus etwa kommen zu einem ernüchternden Ergebnis: Rationalisierungsprogramme werden Millionen von Arbeitsplätzen im Handel, in der Verwaltung und bei Banken vernichten. "Nach unseren Untersuchungen werden - rein rechnerisch - innerhalb der nächsten Dekade über 40 Prozent der qualifizierten Arbeitsplätze im Servicesektor überflüssig. "Gute Aussichten bestätigten die Wissenschaftler dagegen den Beschäftigten mit innovativen Tätigkeiten. Diese seien auch in Zukunft nicht wegzurationalisieren. Trotz der insgesamt düsteren Perspektiven warnen Thome und Kraus davor, die IT zu verdammen. Langfristig könnten nur durch ihren Einsatz Konkurrenzfähigkeit und Arbeitsplätze gesichert werden.

Wie jede neue Technologie schafft auch die Informationstechnik bisher unbekannte Produkte und damit Märkte, aus denen positive Arbeitsmarkteffekte entstehen können. In Rezessionsphasen wird die IT aber vorrangig als Rationalisierungsinstrument eingesetzt. Genau dies ist derzeit in Deutschland der Fall. FIfF-Vertreter Ruhmann fordert daher die Schaffung von wirtschaftspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen die IT ihre arbeitsschaffenden Potentiale entwickeln kann: "Die Politik darf sich nicht länger aus ihrer Verantwortung für künftige wirtschaftliche Weichenstellungen herausstehlen. ".

Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.