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Der Internet-Boom gefährdet die Online-Dienste

30.08.1996

Am 22. August hatte der deutsche Online-Markt sein erstes Opfer. Der Server der Europe Online S.A. (EOL) in Luxemburg wurde abgeschaltet. "Wir fahren Europe Online runter auf eine juristi- sche Minimaldimension", umschreibt Andreas Struck, Ex- Geschäftsführer bei EOL und ab sofort Verlagsleiter der Focus Magazin-Verlag GmbH, München, das Ende des einstigen Hoffnungsträgers auf dem europäischen Online-Markt als Briefkastenfirma.

Vor gut einem Jahr hatte sich EOL auf den Weg gemacht, zunächst im proprietären Format die Online-Gemeinde in Europa mit lokalen Inhalten in der Landessprache zu versorgen. Weil der gesamteuropäische Dienst dennoch den nationalen Charakter pflegen wollte, räumten Analysten EOL zunächst gute Chancen ein. Allerdings wußten die Fachleute zum Zeitpunkt dieser optimistischen Prognose noch nicht, daß dem Management alles weitere mißlingen sollte. Die Chefetage hielt zu lange am Konzept eines proprietären Clients fest, brachte den Dienst zu spät auf den Markt und konnte vor allem aufgrund der komplizierten Gesellschafterstruktur zu keinen schnellen Entscheidungen kommen.

Als Hauptaktionär Burda im Juni dieses Jahres glaubte, mit den bisherigen rund 20 Millionen investierten Mark genug finanzielle Löcher gestopft zu haben und sich verbittert aus der Beteiligung zurückzog, kam das Aus für EOL. Verhandlungen mit Compuserve und der Deutschen Telekom AG über die Fortführung des Dienstes scheiterten kürzlich, so daß EOL nun nur noch eine Postanschrift und rund 70 Millionen Mark Schulden hinterläßt.

Doch die Häme der Konkurrenten im heißumkämpften deutschen Online- Markt angesichts derartigen Mißmanagements blieb aus. Denn abseits aller Fehlentscheidungen durch die Chefetage hat die EOL-Pleite sehr deutlich vor Augen geführt, daß das Geschäft anfällig ist. Trotz des guten Absatzes von Online-Anschlüssen in Deutschland müssen die verbleibenden Dienste vor allem Strategien aushecken, um ihre Existenz gegen das Internet zu festigen.

Aber womit lassen sich Abonnenten an kostenpflichtige Services binden, wo doch das übermächtige Netz der Netze fast alles bietet, was das Herz des Online-Surfers begehrt? Im Internet gibt es News- Gruppen für den Hilfesuchenden, Foren für den Schwatzhaften, Extranet-Dienste, die professionellen Anwendern geschlossene Benutzergruppen einrichten. Informationen bietet das Internet zu fast jedem Thema, und mit Hilfe von Suchmaschinen und Gelben Seiten wie Yahoo oder Web.de verliert das Internet zudem einen Teil seiner vielgescholtenen Unübersichtlichkeit.

Diese Einschätzungen lassen die Betreiber von Compuserve, AOL oder T-Online allerdings nicht gelten. Sie versuchen, die Kunden mit Angeboten zu ködern, die sich mit einem reinen Internet-Zugang nicht finden lassen. Zu den Appetitmachern gehören, so betonen die Anbieter unisono, exklusive Inhalte, landessprachliche Angebote sowie benutzerfreundliche Oberflächen, die dem Online-Surfer den Weg weisen.

"Wir haben eine sehr gute Hotline", macht etwa Marielle Bureick, Leiterin der Marketing-Abteilung bei der Compuserve GmbH, Unterhaching, den eigenen Dienst schmackhaft, der mit nur 16 Einwählknoten in vielen Teilen Deutschlands nicht über Ortstarif zu erreichen ist. "AOL ist die ideale Möglichkeit zur Kommunikation und ein sicheres System, das auch Transaktionsmöglichkeiten anbietet", rührt Bernd Schiphorst, President und COO bei Bertelsmann New Media, die Werbetrommel für den Schwatzkanal, der kürzlich für rund 19 Stunden komplett ausfiel. Dagegen versucht die Telekom, professionelle Anwender mit Angeboten wie geschlossenen Benutzergruppen für T-Online zu begeistern.

Doch das Internet legt die Meßlatte für die klassischen Online- Dienste immer höher. Schritt für Schritt erobert es Bereiche, in denen sich die Online-Dienste noch sicher fühlten. So muß die Telekom etwa einen Kunden gehen lassen, der bis dato den Btx- Dienst auch für interne Belange nutzte. In lediglich sechs von 620 Filialen der Atlas Reisen GmbH, Köln, stehen noch Btx-Start- Terminals, über die die Reisebüros die Buchungen vornehmen. "Wir tauschen die Btx-Geräte gegen Voll-Start-Terminals aus", beschreibt DV-Organisator Guido Bremer das Ende der Btx-Ära bei Atlas Reisen.

Dennoch ist dort nicht das Ende der Online-Welt angebrochen. Alle künftigen Online-Aktivitäten konzentrieren sich demnächst auf das Internet, über das die Kundschaft künftig ihre Reisen reservieren kann. Die Adaption des HTML-Angebots auf das T-Online-Format ist nicht vorgesehen.

Eine mögliche Antwort auf die Internet-Herausforderung zeigt trotz seines unrühmlichen Endes das Beispiel EOL. Statt gegen das Internet anzukämpfen, versuchte EOL, auf dessen Erfolgswelle mitzuschwimmen, indem der Dienst sich dem weltweiten IP-Rechner- Verbund öffnete. Dieses Konzept wurde von Microsoft Network (MSN) bereits übernommen, Compuserve will sein proprietäres Format bis Ende des Jahres zugunsten eines HTML-konformen Clients aufgeben.

Beim größten deutschen Online-Dienst fallen die Annäherungsversuche an das Internet dagegen etwas zaghafter aus. Nachdem T-Online seit Mitte letzten Jahres seinen Kunden ein Gateway zum Internet einrichtete, räumt die Telekom nun auch die Barrieren für Internet-Besucher, die in dem Btx-Nachkömmling surfen wollen, aus dem Weg. "Bis zum Ende des Jahres ist T-Online in technischer Hinsicht IP-fähig", verspricht Jürgen Homeyer, Pressesprecher bei der Telekom. Wann das Schlupfloch allerdings vom Betreiber geöffnet wird, ist noch nicht klar.

Lediglich AOL gibt die distanzierte Haltung zum HTML-Format nicht auf. In den USA erteilte der AOL-Betreiber Spekulationen über einen Wechsel vom proprietären zum Internet-Format kürzlich eine Absage. "Wir haben eine klare Strategie: Einen proprietären Dienst plus Internet, inklusive aller technischen Finessen, die heute im Markt angeboten werden", unterstreicht Bertelsmann-Manager Schiphorst die Gültigkeit der Aussage auch für den deutschen Markt, in dem AOL seit Anfang des Jahres schon 100000 Nutzer für sich gewinnen konnte.

AOL vermeidet mit dieser konsequenten Haltung ein Problem, dem sich HTML-kompatible Online-Dienste gegenübersehen und das die Telekom lösen sollte, bevor sie T-Online dem Internet öffnet: Wie sind die via WWW zu erreichenden Inhalte zu tarifieren? Womit wollen die Dienste, die ein Teil des Internet sind, ihr Geld verdienen und es einziehen? "E-Cash wird es in Deutschland in naher Zukunft nicht flächendeckend geben", schließt etwa Jörg Bueroße, Chefredakteur bei "Focus Online", die Eignung von virtuellen Zahlungssystemen aus. Kreditkarten sind ebenfalls ungeeignet. Abgesehen von offenen Fragen bezüglich der Sicherheit ist die Plastikkarte hierzulande nur mäßig verbreitet.

Sollte sich T-Online wirklich der IP-Welt öffnen, könnte sich ein Modell anbieten, das von EOL eingeführt wurde. Es sieht ein gestaffeltes Online-Angebot vor und schließt das Gros der Internet-Gemeinde aus dem Kernbereich aus. In diesem Modell ist der Online-Dienst in drei konzentrische Kreise gegliedert. Zum äußeren Ring haben alle Nutzer, auch die nicht zahlenden Besucher aus dem Internet, freien Zugang. Der mittlere Kreis enthält kostenpflichtige Angebote. Sie sind für fremde Internet-Surfer, aber auch für registrierte Kunden am entfernten PC sichtbar. Diese Dienste lassen sich aber nur gegen Gebühren ohne Einschränkungen nutzen.

Der kleinste innere Kreis ist dagegen ausschließlich für die Abonnenten zugänglich. Der Mehrwert, den der Kunde eines Online- Dienstes hat, fokussiert sich demnach auf diesen Kreis. Dort liegen die Inhalte und Dienste, mit denen sich die Online- Betreiber von reinen Internet-Providern abgrenzen und für die die Klientel monatliche Grundgebühr plus Nutzungkosten zu zahlen bereit sein sollte.

Ob sich das Tauschgeschäft - Inhalte, Benutzerführung und Support gegen monatliche Grundgebühr plus Nutzungsentgelt - für die Betreiber rechnet, ist zur Zeit noch fraglich. Compuserve mußte jedenfalls im ersten Quartal des bis zum 31. Juli 1997 laufenden Geschäftsjahrs Verluste in Höhe von 17,7 Millionen Dollar ausweisen und einen Abonnentenrückgang von 3,2 auf drei Millionen hinnehmen.

"In Deutschland verzeichnet Compuserve steigende Kundenzahlen", relativiert Managerin Bureick die Zahlen. "Compuserve ist als einziger Online-Dienst ein profitables Unternehmen. Die schlechten Zahlen des letzten Quartals sind eine Ausnahme", kommentierte sie die Nachrichten aus den USA und widerspricht Analysten, die auch für kommendes Quartal ein Negativergebnis erwarten.

Der Fall Compuserve ist zwar nicht symptomatisch für die Branche, aber zusammen mit den Schicksalen von EOL und dem Ende 1995 eingestellten Online-Dienst "E-World" von Apple zumindest ein warnendes Zeichen. Vielen Unternehmen reicht der Atem und der Geldbeutel nicht, um bis zur Reife des von allen erwarteten großen Geschäftes mit den elektronischen Medien durchzuhalten. Zunächst müssen sie mehrere Millionen Mark für die Infrastruktur und für die Fachleute aufbringen, um einen elektronischen Dienst betreiben zu können. Und nicht immer - das zeigen die ersten Beispiele - zahlen sich die Investitionen aus.