Ein Selbstversuch

Der holprige Weg zum papierlosen Büro

26.11.2013
Von Sebastian Matthes
244 Kilogramm Papier verbraucht ein Deutscher im Jahr. Damit sind wir Weltspitze. Trotz Computern, Laptops und Smartphones ist das viel beschworene zettelfreie Büro kaum irgendwo Realität geworden. Warum eigentlich?

Unsere Sekretärin sagt, mein Büro habe in den vergangenen drei Monaten seine Seele verloren. Neben dem Monitor liegen nur noch ein iPad und ein Laptop, daneben eine Karaffe mit Wasser und eine Schale Obst. Sonst ist mein Schreibtisch leer.

Die Seele meines Büros, das waren: Stapel aus Büchern und Magazinen; Berge aus Zetteln, Kostenstellenberichten, Textausrissen; Mappen voll loser zerknautschter und zerknitterter Rechnungen und Notizen. Und zwischen den Stapelschluchten leuchteten gelbe Zettel auf der Schreibtischplatte wie Taxis im Schatten der Wolkenkratzer auf den Straßen Manhattans.

Ich fand mich gut in dieser Stapel-Welt zurecht, sie hatte ihre Ordnung. Nur wenn ich unterwegs war und Aufzeichnungen aus einem meiner Notizbücher suchte, wenn ich einen Artikel mit einer bestimmten Zahl brauchte, dann kam ich da nicht dran und habe das Papier verflucht.

Ein Leben ohne Zettel

Doch ein Leben ohne Zettel, das schien mir ein unmögliches Leben. Schließlich bin ich Journalist und arbeite für ein Magazin. Papier ist mein Kerngeschäft. Das zettelfreie Büro, da war ich mir sicher, das ist eine dieser Ideen von Technik-Utopisten - so wie die Brille, die uns Gedanken anderer Menschen lesen lässt.

Ich war ein typischer Deutscher. Nur in wenigen Ländern verbrauchen die Menschen mehr Papier als bei uns, in Österreich, Belgien und Luxemburg. Mit rechnerisch 244 Kilogramm pro Kopf und Jahr liegen wir laut dem Verband Deutscher Papierfabriken sogar über dem Niveau der USA. 1985, vor dem Beginn der Internet-Ära, verbrauchten wir nur 177 Kilogramm. Während die Menge gedruckter Kataloge und Zeitungen mittlerweile sinkt, wächst der jährlich produzierte Berg an Kartonverpackungen und Hygienepapier.

Büropapier weist der Verband nicht gesondert aus. Doch es gibt Indizien dafür, dass die Digitalisierung zu immer mehr bedruckten und bekritzelten Seiten führt: Laut einer Studie der amerikanischen Association for Information and Image Management steigt bei einem Drittel aller Unternehmen der Papierverbrauch - teilweise drastisch. Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen.

Wir sind Papier-Junkies, und bis vor drei Monaten war ich einer von ihnen.

Doch nachdem ich mich wieder einmal darüber geärgert hatte, meine Notizen im Büro vergessen zu haben, beschloss ich, auf Entzug zu gehen. Ich dachte mir: Vielleicht haben wir die Sache mit dem papierlosen Büro einfach nicht richtig versucht.

Digitales Gehirn

Und so habe ich in den vergangenen Monaten Scanner, Tablet-Rechner und Internet-Dienste ausprobiert und an regnerischen Wochenenden mein halbes Leben digitalisiert. Dabei habe ich nicht nur viel über die Bedeutung des Papiers für unsere Wissensgesellschaft gelernt. Ich konnte auch überraschende Einsichten in die Arbeitswelt der Zukunft gewinnen.

Viele Zitate, Essays und Gedanken aus der Zeit meines Selbstversuches liegen jetzt in Bits und Bytes zerhackt in meinem virtuellen Notizbuch Evernote. Das Programm hilft seinen Nutzern, Informationen online zu organisieren, es ist so etwas wie ein digitales Zweithirn. Evernote archiviert aber nicht nur Texte und PDF-Dateien. Ich kann darin sogar meine handschriftlichen Notizen nach Worten durchsuchen. Dafür gäbe es auch Alternativen. Google etwa hat Keep im Sortiment, ein Online-Notizbuch, und auch das deutsche Startup Keeeb hilft, Notizen im Netz zu sammeln. Aber Evernote macht die meisten in meinem Alltag anfallenden Dokumente durchsuchbar, und so wird der Dienst schnell zum Herzstück meiner papierlosen Recherchen.

Kurzer Test. Ich tippe in der Suchmaske von Evernote das Stichwort "papierlos" ein. "92 Notizen gefunden", meldet das Programm. Dutzende Texte, Fotos von alten Buchtiteln und Videos; alles Material, das ich in den vergangenen Monaten gesammelt habe, vieles davon zur jahrtausendealten Geschichte des Papiers.

Die Chinesen haben es etwa 100 Jahre vor Christi Geburt erfunden, bevor es einen langen Siegeszug erlebte. Erst 2000 Jahre später gibt es Anzeichen für ein Ende dieses Aufstiegs: In einem viel zitierten Artikel aus dem Jahr 1975 berichten Autoren der „Businessweek“ über die Idee des papierlosen Büros.

Der Computer alleine reicht nicht

Früher hätte ich den Text während meiner Recherche ausgedruckt, in eine rote Mappe geschoben und wichtige Stellen angestrichen. Wenn ich heute im Netz bemerkenswerte Artikel lese, klicke ich auf den grünen Evernote-Knopf in meinem Browser, schon liegt er in meinem digitalen Archiv. Auch dort kann ich Textteile farbig markieren oder an Kollegen weiterleiten. Den "Businessweek"-Text habe ich an vielen Stellen angestrichen

Ein Fernseher-ähnliches Gerät werde bald auf jedem Schreibtisch stehen und digitale Akten anzeigen, heißt es darin. Derlei Technik werde das papierlose Büro möglich machen. Doch die Experten von damals irrten. Der Computer allein reichte nicht.

Statt des papierlosen Büros kommen die Neunzigerjahre und das Internet. Die Menschen drucken und drucken und drucken. Feuilletonisten schreiben, dass die Welt ohne Papier nie funktionieren werde: Es lasse sich falten, in einen Umschlag stecken, bemalen und leicht sei es auch. Ein Wunderding. Nichts könne es ablösen.

Das hatte ich bis vor einigen Monaten auch gedacht. Mein Selbstversuch läuft allerdings besser als gedacht. Zeitschriften-Abos sind schnell auf iPad-Versionen umgestellt, Handyrechnungen und Kontoauszüge kommen elektronisch. Das Post-Papier-Zeitalter scheint näher zu sein, als wir denken, und das liegt auch daran, dass jetzt die meisten Techniken verfügbar sind, die wir für einen papierlosen Alltag brauchen.