Erklärungsbedürftige Technik weist dem Marketing eine neue Dimension zu:

Der High-Tech-Marketier in der Rolle des Moderators

20.06.1986

Trotz - oder gerade wegen - der Superchip-Welle: Nicht der technische Spezialist muß künftig die Richtung des Unternehmens bestimmen, sondern der Marketier, postuliert Rolf Stein von der Unternehmensberatung Heidrick and Struggles International Inc. in Düsseldorf. Der Marketing-Experte nämlich kann die immer intelligentere Technik für den Anwender interpretieren helfen. Denn solange dem Verbraucher die Problemlösung nicht verständlich ist, bleibt er passiv und meldet auch keinen Bedarf an.

Man ist fast geneigt zu sagen, daß der permanente, immer noch revolutionär zu nennende Entwicklungsprozeß in der Elektronik das Marketing überrollt - sogar unnötig macht.

Täglich neue Schlagzeilen über Mega Chips, Super Chips und deren revolutionierende Anwendungsmöglichkeiten vermitteln den Eindruck einer gewissen Normalität. Trotzdem sind nur Spezialisten in der Lage, die jeweiligen Innovationen und bahnbrechenden neuen Anwendungsmöglichkeiten zu erkennen.

Aus der Sicht des Verbrauchers, des Anwenders, sieht das allerdings schon etwas anders aus. Betrachten wir einmal den logischen Entstehungsprozeß eines Produktes von der Forschung und Entwicklung über die Produktion bis zur Vermarktung.

Die Funktionen Forschung und Entwicklung haben in der High-Tech-Branche eine Eigendynamik gewonnen, die ihnen einen nahezu unantastbaren Sonderstatus beschert hat. Die "Spezialisten" sind vom "Fieber" der unbegrenzten Möglichkeiten befallen. "Kunst dient der Kunst, nicht dem Betrachter" Entwicklung dient dem Forschungsdrang, nicht (nur) dem Verbraucher. In etwa ist diese Situation mit dem Beginn der industriellen Revolution vergleichbar. Auch damals herrschte Aufbruchstimmung, überschlugen sich die technischen Innovationen. Der Unterschied zu heute: Die damaligen technischen Errungenschaften bedeuteten direkt nachvollziehbare Erleichterungen in allen Lebensbereichen. Die Eisenbahn war schneller und bequemer als das Pferd, Kunststoff leichter und billiger als Stahl. Kurz: Je nach Branche herrschte jahrzehntelang ein Anbietermarkt, der Markt sog die Produkte auf.

Der Anfang des elektronischen Zeitalters vollzog sich nach ähnlichen Mechanismen. Elektronik hieß Schnelligkeit, Vereinfachung bestimmter Prozesse. Markt und Bedarf waren analog zum industriellen Wachstum vorhanden.

Heute träumt man von den damaligen Wachstumsraten. Märkte sind gesättigt. Bescheidene Wachstumsraten werden im Regelfall nur nach vorhergehenden Schrumpfkuren, je nach Standort auch Marktbereinigungsprozeß genannt, erreicht. Die Elektronik, ursprünglich eine Hilfsfunktion, um wirtschaftliche Prozesse ökonomisch zu gestalten, um Wettbewerbsvorteile zu schaffen, wurde zum Job-Killer. Ein Teil der verlorengegangenen Arbeitsplätze konnte allerdings durch die gewaltige Expansion der High-Tech-Industrie kompensiert werden.

Marketing ist (über)lebenswichtig

Der Unterschied zur damaligen industriellen Revolution und der heutigen, wesentlich hektischeren und schnelleren Entwicklung im High-Tech-Bereich liegt also darin, daß die derzeitige Entwicklung auf sich langsam sättigende Märkte und dementsprechend zurückhaltende Aufnahmebereitschaft stößt.

Was hat das alles mit Marketing zu tun? Betrachten wir einmal die Entstehungsgeschichte der Marketing-Philosophie. Marketing als Unternehmensphilosophie, als Steuerung des Unternehmens vom Markt her, entstand in der Situation, als Märkte gesättigt waren, als Hardselling nichts mehr bewirkte; sich der Angebotsmarkt in einen Nachfragemarkt änderte. Der Verbraucher bestimmte, was er benötigte und deshalb auch kaufte. Dem Unternehmen oblag es, Verbraucherwünsche zu analysieren und mit entsprechenden Produkten zu befriedigen.

In genau dieser Situation befindet sich die High-Tech-Industrie heute. Märkte sind teilweise gesättigt. Neue Märkte müssen gefunden werden. Zusätzliche Schwierigkeiten sind durch schnelle Veralterung und starken Preisverfall gegeben.

Eine Situation, der die Aussage "Marketing tut not" schon nicht mehr gerecht wird. Marketing ist (über-)lebenswichtig. Theoretisch wird dies sicherlich von einigen Unternehmen erkannt, aber wie sieht die Umsetzung aus? Marketing wird lediglich als das Ende des eingangs erwähnten Entstehungsprozesses, als Vermarktung verstanden. Von den "Spezialisten" entwickelte Produkte werden mit aller Kraft in den Markt gedrückt; Marketing als Hardselling, als Verkaufshilfe mit bunten Bildchen und schönen Texten. Geplant und realisiert von eben den Verkäufern und Technikern. Wo bleibt da der Verbraucher, wo die Deckung echten Bedarfs? Die Grenzen sind zur Zeit insbesondere bei Home-Computern sehr deutlich erkennbar.

Reicht das wirklich aus, um die eigentlichen Probleme zu lösen; Märkte zu machen, um zu überleben.

Sicherlich nicht. Denken wir zurück an die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Marketing. Er besitzt zwei wesentliche Dimensionen:

- Die Philosophie die sich aus der Forderung nach Steuerung des Unternehmens vom Markt her ausdrückt.

- Die Technik, die Instrumente, die eine optimale Koordination aller absatzrelevanter Funktionen und den entsprechenden Einsatz im Markt bedeuten.

Reibungsverluste durch Marktorientierung

Die erstgenannte Bedeutung ist im High-Tech-Bereich, wenn überhaupt, nur in Spuren sichtbar. Einen deutlichen Schritt in diese Richtung machte der US-Konzern Apple, der mit John Sculley einen Marketing-Spezialisten in die Unternehmensspitze berief. Damit wurde die Voraussetzung geschaffen, das Unternehmen auf den Markt auszurichten und die technischen Spezialisten stärker am Markt zu orientieren.

Das führt sicherlich zu Reibungsverlusten, da sich "Erbprinzen" nur ungern entmachten lassen. Apple-Gründer Steve Jobs hat bereits seine Konsequenzen gezogen und ist gegangen. Besser wäre sicherlich die Nutzung und Integration seiner Kreativität, aber mit der entsprechenden marktorientierten Kanalisierung, gewesen.

Zielsetzung eines strategisch operierenden High-Tech-Unternehmens muß in der Zukunft wesentlich stärker sein, das Unternehmen marktorientiert zu führen. Im konkreten Fall heißt das, nicht der technische Spezialist, sondern der Marketing-Spezialist muß die Richtung bestimmen.

Marketing-Spezialist muß Richtung weisen

Auch die unter dem zweiten Punkt genannte Marketing-Dimension, der koordinierte Einsatz des Marketing-Instrumentariums, erfordert Marketing-Spezialisten und nicht wie bisher technisch orientierte Verkäufer, die "auch Marketing machen". Mißverständliche Bezeichnungen für mehr oder weniger dilettantische Entwicklung von Verkaufsförderungshilfen, etwa Prospekten und in der Effektivität verpuffenden Anzeigen. Hier werden lediglich absatzfördernde Instrumente ohne konzeptionelle und strategische Basis eingesetzt.

Was wird wirklich getan, um den Verbraucher zum Beispiel an den PC heranzuführen. Immer neue Geräte mit für den Verbraucher kaum zu vergleichenden beziehungsweise zu durchschauenden Leistungskriterien werden auf den Markt geworfen. Verläßt man sich nur auf die nachwachsende Jugend, die zugegebenermaßen sehr effektiv als zukünftige Verbraucher herangezogen wird?

Die Branche steckt in dem Dilemma, daß im Konsumbereich zur Zeit eigentlich nur Spezialisten einen echten Bedarf haben. Als Spezialisten kann unter anderem ein großer Teil von Jugendlichen betrachtet werden, die bereits ihr Computerwissen aus der Schule beziehen. Diese "Verbraucher" sind im reinen Konsumbereich die einzigen, die überhaupt die regelmäßig neu erscheinenden Home-Computer und PCs in ihrem technischen Fortschritt verstehen.

Wenn man den riesigen Markt für PCs in den deutschen Kleinbetrieben betrachtet, stellt sich die Frage, warum hier erst fünf Prozent der Betriebe über einen PC verfügen. Die Antwort ist sicherlich nicht darin zu suchen, daß noch keine entsprechende technische Problemlösung für diesen Markt gefunden wurde. Ganz im Gegenteil. Ein PC aus dem Jahre 1983 wird sicherlich, unter anwendungsbezogenen Wirtschaftlichkeitskriterien gesehen, gleich qualifizierte Problemlösungen bieten wie der neueste PC der in diesem oder im nächsten Jahr erscheinen wird.

Marketing und Technik Hand in Hand

Hier wird besonders kraß deutlich, wie die Technik immer intelligenter wird, aber dem Verbrauch noch nicht einmal "der Schuh von gestern" paßt.

Solange die Problemlösung nicht verständlich für ihn ist, hat er subjektiv auch keinen Bedarf. Hier müssen Marketing und technische Entwicklung Hand in Hand arbeiten. Die Entwicklung, indem sie mehr Gewicht auf simple Anwendungssysteme legt, das Marketing, indem es stärker eine Aufklärungs- und Lehrfunktion gegenüber dem Konsumenten wahrnimmt. Auf diese Weise können aus passiven Marktteilnehmern aktive Verbraucher werden.

Marketing aus dieser Sicht kann demnach vereinfacht auf die Dimensionen Ausbildung der potentiellen Verbraucher sowie verbrauchsorientierte Beeinflussung der technischen Entwicklung reduziert werden.

Denn der Verbraucher entscheidet letztlich über Sinn und Nutzen der Technik.