Der Halbleiterchip und der Kondratieff-Zyklus

13.06.1980

James Martin über die Technologien der Zukunft

Die 80er Jahre werden sich als eine außergewöhnliche Dekade herausstellen; als eine Zeit, die wirtschaftlich zwar chaotisch zu sein scheint, die aber technologisch ein enormes Potential zur Schaffung von Wohlstand hat", sagte James Martin kürzlich auf der DP-Training Conference 1980 der amerikanischen Deltak, Inc., in Chikago.

Dem IBM-Fellow und "DV-Propheten" galt ein Bericht der CW-Schwesterpublikation "Computerworld" (Ausgabe 18 vom 5. Mai), die wir im folgenden nachdrucken. Übersetzung: H. J. Hoelzgen, Böblingen.

Das Analogon von der Welle kommt nicht etwa von der Musik des Punk-Rock, sondern von dem Kurvenverlauf eines Computermodells der globalen Wirtschaftsentwicklung, die seit 1730 einen 50-jährigen Zyklus von Schwingungen aufweist. Die jüngste Schwingung ist die 50 Jahre dauernde Periode zwischen der Wirtschaftskrise in den 30er Jahren und der sich abzeichnenden Rezession von 1980, meinte er.

Dieser 50-Jahres-Zyklus wurde schon in den 30er Jahren von dem Russen Kondratieff zwar festgestellt, von ihm selbst aber nicht ganz ernst genommen. Nach Ansicht von Martin sind wir seit etwa sieben Jahren auf dem absteigenden Ast des Kondratieff-Zyklus. In den 80er Jahren wird aber ein durch neue Technologien beflügelter Aufschwung einsetzen besonders bei Computern.

Der heutige Niedergang wird durch das schwerwiegende Problem der Infrastruktur unserer heutigen Gesellschaft und durch die Tatsache angezeigt, daß etablierte Wirtschaftszweige wie die Mineralöl- und die Automobilindustrie nicht mehr wie früher arbeiten. "Die 80er Jahre werden eine Dekade sein, in der ein gründliches Mischen der Karten in der Hand der Gesellschaft stattfinden wird. In der Vergangenheit mächtige Branchen werden den Weg freimachen müssen für neue Branchen der Zukunft", betonte Martin.

So wie die Aluminiumindustrie widerstrebend den Kunststoffen weichen mußte, werden der Tradition verbundene Arbeitsmethoden der Computertechnik weichen müssen. "Es gibt eben zu viel Menschen in dahinsiechenden Sektoren der Wirtschaft. Sie versuchen in allen Ebenen, sich an ihre alten Jobs zu klammern anstatt neue Methoden zu akzeptieren", meinte Martin, der 1978 das aufsehenerregende Buch "The Wired Society" geschrieben hat.

Neue Technologien

"Die neue Schwingung des Kondratieff-Zyklus bedeutet eine neue Flut von Technologien", sagt Martin. "Die Frage ist nur, wie schnell wir uns von der Welle emportragen lassen können, ohne gefährlich lang in der Talsohle bleiben zu müssen." Es kommt entscheidend darauf an, schnell voranzukommen, denn heute hat man zum ersten Mal die Talsohle des Kondratieff-Zyklus erkannt und begriffen.

Mit einer Dia- und Ton-Show auf fünf Projektionswänden fesselte Martin seine Zuhörer durch seine Erläuterungen kommender Technologien, von denen er aufzählte:

þKünstliche Intelligenz

Das Ziel sind Schaltungen, mit denen die Natur nachgeahmt wird, beispielsweise das Gehirn einer Ente. Schachspielende Maschinen sind das erste schwache Anzeichen.

þRoboter

Nahe verwandt mit der künstlichen Intelligenz, werden Industrieroboter in den 80er Jahren ihre Wachstumsrate von 60 Prozent im Jahr beibehalten.

þKernfusion

Langfristig wird sie zu unserer ergiebigsten Energiequelle werden. Der Aufwand, der 1961 mit dem Ziel begonnen wurde, 1970 den Menschen auf dem Mond landen zu lassen, war nicht größer, als er heute zur Zähmung der Kernverschmelzung unternommen wird. Martin äußerte sich auch enthusiastisch zur Sonnenenergietechnik.

þRaumfahrtindustrie

Gegen Ende der 80er Jahre werden im extraterrestrischen Raum Fabrikationsanlagen zur Herstellung von Halbleitern im reinsten Volvakuum-Milieu gebaut. Viele, auch außeramerikanische Firmen haben bereits Forschungskapazität auf den kommenden Raumfährenflügen gebucht, bemerkte Martin.

þMeeres- and Hydroponik-lndustrie

Um das Jahr 2000 wird die Weltbevölkerung 6 Milliarden Menschen betragen. Bis dahin werden neue Nahrungsmittelquellen entscheidende Bedeutung erlangen.

þBiotechnik

Rasch zerfallende Pflanzen werden als neue Alkoholquellen Bedeutung erlangen und neue, bereits herstellbare Substanzen, wie das Interferon, werden im großen Stil zur Krebsbekämpfung eingesetzt.

"Wenn es uns gelingt, die Technologien zu erkennen und zu fördern, die einen Aufschwung des Kondratieff-Zyklus bewirken, wird es Wohlstand für viele geben", sagt Martin.

Branchen einer neuen Welle

Unter den bereits tätigen Branchen, die den Impuls zum Aufschwung geben können, ist die Halbleiterindustrie. Für diese sagte Martin noch höhere Integrationsgrade mit bis zu 10 Millionen Schaltkreisen auf dem Chip voraus. "Sicher sind wir immer noch weit von den naturgegebenen Grenzen der Physik entfernt", fügte er hinzu.

Wegen dem Erfolg des japanischen 256 K-Chip, das vor den in den Vereinigten Staaten hergestellten Chips einen technischen Vorsprung von etwa zwei Jahren hat, wird das erforderliche Wachstum der Halbleiterindustrie in den Vereinigten Staaten enorme Investitionen notwendig machen. "Es handelt sich hier um das kritischste Gebiet der heutigen amerikanischen Technologie", betonte der in Oxford ausgebildete Physiker.

Lichtleitkabel zur Übertragung von Milliarden Bit je Sekunde sind das zweite Gebiet, das nach Martins Prognose einen riesigen Aufschwung nehmen wird. Er rechnet mit einem völligen Umbau unserer drahtgebundenen Fernmeldenetze, deren Kupferleiter sämtlich durch Glasfasern ersetzt werden.

Es wird - so Martin - aber noch eine dritte Branche aufblühen. Die Videoplatten werden seiner Ansicht nach zum wichtigsten Speichermedium werden und eine völlig neuartige Speichertechnologie erschließen.

Bei jeder neuen Technologie kommt es auf die letzte Erfindung an, die dem ganzen zum Erfolg verhilft. Er nannte in diesem Zusammenhang erfolgreiche Erfindungen, die von den Zeitgenossen völlig abgelehnt wurden oder bestenfalls als "interessant aber kommerziell nutzlos" bezeichnet wurden, sich aber schließlich doch durchsetzten.