Vorauseilende Kritik begleitet den Aufbau der neuen Telekommunikations-Infrastruktur:

Der erhobene Zeigefinger kommt aus der alternativen Ecke

29.05.1987

Technische Großprojekte unterliegen mehr und mehr der öffentlichen Kritik. Das künftige Dienste integrierende digitale Telekommunikationsnetz, kurz ISDN, macht da keine Ausnahme, wenn es auch nicht in dem Maße spektakuläre Schlagzeilen macht wie etwa Vorhaben der Weltraumtechnik, des Kraftwerkbaus oder auch des Luft-, Straßen- und Schienenverkehrs. Schließlich steckt das künftige System zur Übertragung von Mindestens so erklärungsbedürftig wie heutige Computer, darüber hinaus aber mit der Hypothek zahlreicher schlechter Erfahrungen im Umgang mit Technik befrachtet, fordert ISDN gerade die alternative Ecke im politischen Spektrum heraus. "Die Grünen", allen voran, fühlen sich berufen, eine Diskussion über "ISDN - der schnelle Brüter der Nachrichtentechnik" vom Zaum zu brechen. Aber auch Informatiker melden Bedenken an.

Erster Protagonist der zur allumfassenden Technikkritik angetretenen "Realos" und "Fundis" ist Herbert Kubiczek, seines Zeichens Professor der Betriebswirtschaftslehre an der Uni Trier, darüber hinaus etikettiert mit den "Gewerkschaften nahestehend". Wir zitieren hier einige kurze, bewußt aus dem Zusammenhang gerissene Passagen eines Vortrags, den Kubiczek am 16. September 1986 auf dem ISDN-Congress in Frankfurt gehalten hat. Erster Satz des Manuskripts:

"Im folgenden sollen Rechtsgrundlage und inhaltliches Konzept des ISDN im Lichte des Kalkar- und des Volkszählungs-Urteils des Bundesverfassungsgerichts diskutiert werden.

Einen wichtigen Maßstab für die inhaltliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des ISDN hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Volkszählungs-Urteil selbst geliefert. Einige Dienstemerkmale lassen nach meiner Auffassung Gefahren nicht nur 'mit einiger Wahrscheinlichkeit' erwarten, sondern sind offensichtlich mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nicht vereinbar. Dies gilt insbesondere, für den 'Einzelgebührennachweis' sowie für das 'Identifizieren' und 'Anklopfen'.

In der gegenwärtigen Form halte ich das ISDN-Konzept mit diesen Zusatzmerkmalen und den unzureichenden Datenschutzbestimmungen der TKO für eindeutig grundrechtswidrig. Im Wege der Individualklage kann dies allerdings erst gerichtlich festgestellt werden, wenn diese Leistungsmerkmale verwirklicht und die ersten Zielnummern ohne Einwilligung gespeichert beziehungsweise Rufnummern ohne Wissen weitergeleitet worden sind. Man kann als Verantwortlicher für die Planung weiterhin der Diskussion ausweichen und auf die ersten Urteile warten - wie zu Beginn der Errichtung der ersten Kernkraftwerke."

Volkswirtschaftlich wäre es eine enorme Verschwendung, heute ohne Umsicht den Einstieg in etwas zu beginnen, aus dem eventuell in 10 oder 15 Jahren wieder ausgestiegen werden muß. Gebietet nicht politische Verantwortung die vergleichende Abschätzung verschiedener Ausbaukonzepte unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen? Kann man es sich nach den Erfahrungen mit der Kernenergie im allgemeinen und mit dem Schnellen Brüter im besonderen wirklich so einfach machen und darauf hoffen, daß mit teuren Werbekampagnen die Akzeptanz auch langfristig gesichert wird? Der Bedeutung der Fernmelde-Infrastrukturen angemessen wäre die Erarbeitung von mehreren Ausbaustrategien mit einer vergleichenden Abschätzung ökonomischer und sozialer Folgen sowie deren breite öffentliche und parlamentarische Erörterung. Noch ist Zeit, auf diese Weise einen breiten Konsens zu schaffen. Wenn die nächsten beiden Jahre jedoch, wie geplant, nur für technische Betriebsversuche genutzt werden, tragen die Verantwortlichen damit selbst dazu bei, daß die Analogie zwischen Schnellem Brüter und ISDN noch passender wird."

Wo Kubicek die ganze Misere des Schnellen Brüters beschwört und vor dem krassen Vergleich zwischen Nukleartechnik und ISDN nicht zurückschreckt, da lassen sich "Die Grünen im Bundestag" weit allgemeiner und grundsätzlicher über die künftigen Pläne zur Postpolitik aus. Unter dem Schlagwort "Sozialverträglichkeit" melden sie Zweifel an den demokratischen Voraussetzungen der Einführung neuer Telekommunikationsnetze und -dienste an, reklamieren mehr parlamentarische Mitwirkung an Entscheidungsprozessen, die die Verbraucher beziehungsweise Nutzer der Postdienste betreffen.

"Im Postausschuß wird lediglich 'zur Kenntnis genommen' und 'empfohlen'. Das ist denn auch die einzige Form, in der sich die Grünen, denen ein Sitz im Postverwaltungsrat verweigert wird, offiziell an der Postpolitik 'beteiligen' dürfen. Genau diesen Kaffeekranzcharakter des Postausschusses und die aus der undemokratischen Poststruktur resultierende verbraucherfeindliche Politik wollen die Grünen ins Gerede bringen mit dem Ziel, demokratischere Strukturen zu entwerfen.

Die Grünen im Bundestag haben zur Reform der Deutschen Bundespost ein Diskussionsmodell entwickelt. Dies beinhaltet:

1. Alle wesentlichen Entscheidungen über die Einführung neuer Telekommunikations-Netze und -Dienste müssen vom Parlament getroffen werden.

2. Diesen parlamentarischen Entscheidungen muß ein gesellschaftspolitischer Dialog über die Sozialverträglichkeit der geplanten Maßnahmen vorausgehen.

3. Die Kulturhoheit der Bundesländer muß wieder hergestellt werden. Die Post soll auf ihre "dienende" Funktion verpflichtet werden. Dazu müssen die Länder mehr Mitwirkungsrechte erhalten.

4. Der Haushalt der Bundespost soll einer parlamentarischen Kontrolle unterliegen, das heißt, das Sondervermögen "Bundespost" bleibt erhalten, aber das Budgetrecht liegt beim Parlament (siehe den Änderungsantrag der Grünen zum Postverwaltungsgesetz). Drs. 10/5458 in der Anlage).

5. Der Postverwaltungsrat soll demokratischer zusammengesetzt sein, das heißt, zum Beispiel auch die Verbraucher beziehungsweise Nutzer der

Postdienste sollen vertreten sein.

6. Die Post und ihre Teilbereiche dürfen nicht privatisiert werden."

Mit technischen Argumenten, die auf ein "Mehr Intelligenz im Endgerät und weniger im Netz" hinauslaufen, geht Andreas Pfitzmann, Informatiker an der Uni Karlsruhe, in den Diskussionsring. Seine bevorzugten Bedenken richten sich auf die, wie er meint, mangelhaften Vorkehrungen im ISDN für Datenschutz und Datensicherung. Er befürchtet, daß ISDN zu einer mißbrauchbaren, gewaltigen Überwachungsmaschine degenerieren könnte, daß das System äußerst sabotageanfällig sei, mit anderen Worten eine Gefahr für die verbürgte informationelle Selbstbestimmung der Bürger, aber auch für den Staat als solchen.

"Noch einfacher und zudem für viele Teilnehmer auf einmal erhalten diejenigen die Daten, die sie sich direkt aus der Vermittlungszentrale beschaffen können. Zunächst einmal kann die Post (und damit der Staat, genauer seine Geheimdienste) als Betreiber der Vermittlungsanlagen beliebig Daten speichern und auswerten lassen. . . . Weiter können Personen (zum Beispiel Postangestellte, Wartungstechniker) oder Organisationen (zum Beispiel Hersteller), die Zugang zur Vermittlungszentrale haben oder hatten, beliebige Informationen erhalten: Vermittlungszentralen sind heute komplexe Rechensysteme mit vielfältigen Möglichkeiten zum Installieren 'Trojanischer Pferde', das heißt von Systemteilen, die Information auf verborgenen Kanälen einem nicht empfangsberechtigten Empfänger zukommen lassen. Das Finden 'Trojanischer Pferde' ist äußerst schwierig und, da eine diesbezügliche Systemüberprüfung auch nach jeder Wartungsmaßnahme nötig ist, sehr aufwendig. . . .

Da der Personenkreis, der an die im Netz, insbesondere in den Vermittlungszentralen anfallenden Daten gelangen kann, so groß ist, wird es auch ausländischen Geheimdiensten möglich sein, die Daten zu erhalten. Interessensdaten können außer durch Abhören der Glasfaser oder über die Vermittlungszentralen auch noch von großen Kommunikationspartnern, etwa Datenbanken oder Zeitungsverlagen, gesammelt werden, sofern diese die Identitäten der Dienstnutzer erfahren. . . .

Die geplanten Kommunikationsnetze hingegen würden nicht nur eine viel umfassendere Beachtung Einzelner, sondern auch ohne großen Aufwand das Beobachten der gesamten Bevölkerung ermöglichen, und zwar nicht nur durch den eigenen Staat (Geheimdienst), sondern auch durch Fernmeldefirmen, Systemprogrammierer, fremde Staaten (Geheimdienste) und so weiter.

Dieser Aufwandsunterschied zwischen Beobachtung über Dienste integrierende Digitalnetze und anderen Überwachungstechniken beantwortet auch den umgekehrten Einwand, ob es sich überhaupt lohne, Daten in Netzen zu schützen, ohne gleichzeitig Gegenmaßnahmen gegen alle anderen Überwachungsmöglichkeiten anzugeben und zu ergreifen.

In entfernterer Zukunft könnten aber einige der anderen Überwachungsmöglichkeiten zu ebenso großen Datenschutzproblemen führen. Außerdem werden einige der Daten, die in Kommunikationsnetzen geschützt werden sollen, über Personalinformationssysteme, maschinenlesbare Personalausweise und ähnliches ebenfalls in Rechenanlagen gelangen. Hier ergibt sich (wie bei den Vermittlungszentralen) das Problem, daß die Einhaltung von Datenschutzgesetzen und -vereinbarungen nicht mit vernünftigem Aufwand überprüfbar ist."

Vom denkbar schlechtesten Szenario, wie es Pfitzmann, hier nur anrißweise wiedergegeben aufzeigt, zum kritischen Befürworter des ISDN: Peter Paterna, Mitglied der SPD und des Postverwaltungsrates. Aus seiner Praxisnähe resultieren Forderungen, die in den beschlußfassenden Gremien schon ernster genommen werden dürften, als die erhobenen Zeigefinger, der sich zu Kritik und Warnung berufen fühlenden "ISDN-Alternativen". Paternas Sorge gilt unter anderem dem Erhalt des Versorgungsmonopols der Deutschen Bundespost mit Fernsprechhauptanschlüssen, der Verhinderung von Tarifarbitrage und der Kompatibilität der künftigen Dienste. Zusammenfassend: Ein grundsätzliches "Ja, aber".

"1. Die Digitalisierung der Fernmeldenetze wäre technisch und wirtschaftlich auch dann sinnvoll, wenn es nicht zum ISDN, also zur Schaltung digitaler Teilnehmeranschlußleitungen, käme.

2. Der Investitionsanteil, der ISDN zuzurechnen ist, muß über entsprechende Gebühren und Ausbaugeschwindigkeiten mittelfristig rentierlich sein, also keine Subventionierung geschäftlicher Nutzungsvorteile durch privates, herkömmliches Telefonieren über einen längeren Zeitraum.

3. Die Benutzungsbedingungen nach TKO (Telekommunikationsordnung) dürfen nicht dazu führen, daß das Versorgungsmonopol der Deutschen Bundespost mit Fernsprechhauptanschlüssen ausgehöhlt wird.

4. Gebührenstruktur und Überlassungsbedingungen für Mietleitungen und festgeschaltete Leitungen müssen wirksam Tarifarbitrage größeren Umfangs verhindern, das heißt, Festhalten am Gebührenprinzip und Sicherung gewinnbringender Verkehre für die DBP, um genügend Finanzmasse zur Erfüllung gemeinwirtschaftlicher und insbesondere strukturpolitischer Aufgaben zu erwirtschaften.

5. Standardisierungs- und Zulassungskompetenz müssen Kompatibilität auch für Dienste gewährleisten, bei denen Geräte eingesetzt werden, in denen die klassische Trennung von TK (Telekommunikation) und EDV zunehmend überwunden wird.

6. Keine schon in absehbarer Zeit eingebaute Automatik des Übergangs von ISDN in ein langfristig flächendeckendes IBFN.

7. Die mit Wachsen der Netze und Dienste-Integration zunehmenden Datenschutzprobleme müssen vorausschauend gelöst werden.

8. Der forcierte Einsatz von IuK-Technologien steht unter der grundsätzlichen Verpflichtung zur Sozialverträglichkeit, das heißt vorausschauende Anpassung der gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen zum Beispiel in puncto Mitbestimmung, Arbeitsrecht, Arbeitsplatz und Arbeitsmarktproblematik.

Zusammenfassend: Ein grundsätzliches Ja zur Modernisierung der Übertragungsnetze und Endgeräte inklusive ISDN. Verhinderungsstrategien zur Vermeidung wachsender Probleme, indem auf Dauer Übertragungswege nach Diensten und Nutzern getrennt werden, erscheinen weder technisch noch administrativ praktikabel. Die Zustimmung steht demnach unter dem Vorbehalt, daß obengenannte Kriterien bei den diversen Einzelschritten bereits in den Einführungsphasen hinreichend erfüllt werden."