Visionen auf dem Prüfstand/Virtuelle Realität: Von der Spielwiese in die Produktion

Der Elchtest im Ledersessel

10.01.2003
In fremde Welten eintauchen zu können ist ein Menschheitstraum. (Schein-)Welten sind mit den Techniken der virtuellen Realität (VR) simulierbar. Als Nutzer kann man sich darin bewegen, imaginäre Objekte anfassen und verändern, beschallt von Geräuschen, die genau aus der virtuellen Ecke kommen, in der eine Säge zu kreischen scheint. VR ist heute wesentliches Werkzeug der Produktentwicklung. Von Gerda von Radetzky*

Simulation mittels virtueller Realität (VR) erhält ihr Potenzial durch die Interaktion. Geht man von der lateinischen Wurzel des Adjektivs "virtuell" aus, beinhaltet "virtus" die "Tugend" oder die "Tauglichkeit" beziehungsweise das noch Schlummernde, Verborgene. Die klassische Definition von VR beinhaltet darüber hinaus auch Immersion - das Eintauchen - und Interaktion in Echtzeit.

Die Verbindung zwischen Simulationsrechner und Mensch läuft über den Datenhelm beziehungsweise das Head Mounted Display (HMD) als Ausgabegerät und das Mikrofon oder den Datenhandschuh als Eingabegerät (Cyberglove, Cypergrasp, Phantom Haptic Device, Space Mouse, Stylus). Die Daten werden getrackt, jede Bewegung des Kopfs wird registriert, so dass sich die Umgebung nach dem Betrachter richtet und umgekehrt.

Schon die Höhlenmaler bildeten nicht die Realität, sondern ihre Wünsche ab. Das zumindest meinen Kunsthistoriker. Ein paar tausend Jahre später wollten Maler wie Leonardo da Vinci oder Albrecht Dürer die Wirklichkeit für den Betrachter so sichtbar machen, wie sie sie sahen: dreidimensional. Vorn sollte vorn sein, hinten als hinten empfunden werden. Mit der perspektivischen Darstellung gelang es, die Illusion des Raums zu erzeugen. Mehr als zweihundert Jahre später ließ sich der irische Maler Robert Barker seine Panorama-Bilder patentieren. Zuschauer konnten in einer Rotunde quasi "in die Ferne sehen"; er hatte einen Vorläufer des heutigen Imax-Kinos erfunden.

Mitte der 90er Jahre beschrieben Journale aller Art - vom Nachrichtenmagazin bis zur Fachzeitschrift - die schöne neue Welt "Cyber". Sie wird zum Kultbegriff für Technokids, Medienmacher und Marketiers; aus Fahrrädern werden "Cyberbikes", aus Spielen "Cybergames". Den Terminus "Cyberspace" als Bezeichnung für eine nicht existente Umgebung hatte der Science-Fiction Autor William Gibson kreiert in seinem Buch "Burning Chrome", der Geschichte zweier Hacker, die ins weltweite Netz eindringen, wobei ihr eigenes Nervensystem außer Kraft gesetzt wird, sie also Teil ihrer virtuellen Umgebung werden. Diese "Immersion" schildert Gibson als Droge, die alles zerstören kann.

Helden, die Verlierer sind

Obwohl in heutigen Anwendungen der Begriff Cyberspace für virtuelle Entwicklungsumgebungen benutzt wird, hat er seinen gesellschaftlichen Bezug nicht ganz verloren. Es entwickelte sich nämlich eine Cyberpunk-Literatur mit Helden, die gesellschaftliche Verlierer sind. Die Computerspieleindustrie kam in Verruf: Ihre Produkte könnten sich des Menschen bemächtigen, der Spieler nicht mehr unterscheiden zwischen Realität und Fiktion. Andererseits hat - neben der militärischen Forschung - genau diese Industrie die Entwicklung der VR-Techniken maßgeblich vorangetrieben. Was bei den Kids nicht ankommt wie eine von Nintendo vermarktete virtuelle Figur, das hat keine Chance.

Unstrittig ist, dass der Markt für VR-Labors, in denen künstliche Menschen erzeugt werden, zurückgeht. Noch vor zwei Jahren erfuhren sie auf Messen in Amsterdam und San Francisco großen Zuspruch. Bis zum Nachrichtensprecher im TV sollte alles und jedes durch virtuelle Objekte ersetzt werden. Vor allem im Marketing versprachen die Auguren den Durchbruch: Es sollten Fahnen flattern, die nicht existierten.

VR mit "echter Realität" mischen

Das Militär erkannte die Vorteile, Flugsimulatoren entstanden bereits im Zweiten Weltkrieg. Inzwischen hat VR die produzierende Industrie erobert. 1985 baute das damalige Mercedes-Benz einen Simulator, um Entwicklungszeiten zu verkürzen. Heute tauchen Raumfahrer in Schwimmbecken ab, um ihr Verhalten in der Schwerelosigkeit zu trainieren, über den Datenhelm wird der Weltraum "eingespielt".

Vor allem im Kraftwerksbau werden erhebliche Kosten gespart. Erwin Rusitschka, Leiter des CAE-Teams bei der Frameatome ANP in Erlangen, erklärt, der eigentliche Wert von VR-Techniken liege im Mix mit der "echten" Realität. CAD-Modelle entständen mit viel Aufwand, schlummerten dann aber häufig in irgendeiner Schublade, statt als "Schlüssel zur Information" genutzt zu werden. Das geschieht mittels VR und durch automatisches Überlagern mit realen Szenen. Mit diesem Verfahren prüfe man, ob Planung und Montage übereinstimmen. Design-Reviews, die früher drei bis vier Wochen gedauert hätten, ließen sich jetzt in zwei bis drei Tagen bearbeiten. Hätten an einem Plastikmodell eines Kraftwerks früher noch mehrere Leute jahrelang gearbeitet, so sei das heute in etwa fünf Prozent der Zeit machbar. Das wesentliche Einsparpotenzial von VR liege bei den Prototypkosten.

Inzwischen entstehen Fabriken in VR. Für das neue BMW-Werk in Leipzig, in dem ab 2005 die Autos vom Band rollen sollen, wurden sämtliche Produktionsanlagen und Fertigungsprozesse bis hin zu ergonomischen Arbeitsplätzen mit VR getestet. Siemens zeigte vor einem Jahr der erstaunten Öffentlichkeit, wie künftig ein Münchner Stadtteil, der auch Siemens-Gebäude enthält, aussehen soll. Selbst Architekten kannten die neuen Darstellungsmöglichkeiten noch nicht: Statt auf Klötzchen zu schauen, konnten sie sich in, aber auch zwischen den Häusern bewegen und sich so buchstäblich in die künftigen Bewohner und Arbeitenden hineinversetzen, Raumverhältnisse bei unterschiedlicher Sonneneinstrahlung nicht nur theoretisch messen, sondern praktisch "erleben".

Das Haptische ist unzureichend

Einzug hatte die Technik 1997 bei Siemens gefunden, als sich eine Abteilung zur 150-Jahr-Feier per VR präsentierte. Jetzt weist Siemens-Forscher Detlef Teichmann auf ein Projekt hin, bei dem 35 Lokführer aus ganz Europa austesten sollen, wie ein Fahrerstand künftig zu konstruieren ist. Bisher kann ein deutscher Lokführer nicht unbedingt eine italienische Lok bedienen, mal ist ein bestimmter Funktionshebel rechts, mal links, mal direkt am Steuer, mal daneben montiert. "Optik und Akustik beherrscht man gut, unzureichend ist bisher das Haptische. Das richtige Gefühl stellt sich bei solchen Simulationen noch nicht ein", erläutert der Wissenschaftler. Für den Test wird eine Mischung aus realer und fiktiver Welt hergestellt: Die Lokführer sitzen in echten Cockpits, fahren die Strecken virtuell ab und sollen die Lage der Instrumente, die Ausstattung, den Führerstand und vieles mehr verbessern, um schließlich zu einer standardisierbaren Lösung zu gelangen. Hier ist VR kein Selbstzweck mehr. "Für uns ist der Hauptnutzen, dass die Prozesse beschleunigt werden", sagt Teichmann. VR sei nur dann sinnvoll, wenn sie zum Standardwerkzeug eines jeden Mitarbeiters in der Prozesskette wird, von der Planung über die Herstellung bis zum Service.

Der Beigeschmack des Verspielten

Bis vor kurzem jedoch scheiterten solche Vorstellungen noch am Geld oder an der Gebrauchsfähigkeit des VR-Equipments. Für Teichmann hat beispielsweise der Datenhelm einen wesentlichen Nachteil: Man kann damit kaum kommunizieren, obwohl eingespielte Daten direkt verwertet werden können. Noch aufwändiger sind Cave (Cave Automated Virtual Environment), durchsichtige Plastikwürfel, in die der Betrachter physisch eintritt und die ihn dann völlig umgeben. Sie gelten als das beste Display, doch sind sie mit sehr hohen Kosten verbunden. Ein früher Vorläufer war das Sensorama des amerikanischen Kameramanns und Filmemachers Morton Heilig: Stereo-Sehen und -Hören mit Gerüchen und Haptik-Effekten durch Rütteln beispielsweise einer Kabine oder Vibrationen einer Lenkstange schufen eine komplette Illusion. Doch verschwanden diese Holzkästen bald wieder aus den Spielhöllen, da sie die raue Behandlung durch die Nutzer nicht aushielten. Geblieben ist die unbefriedigende Gebrauchsfähigkeit der Interaktionshardware Helm und Handschuh, die damit verbundene schwierige Navigation durch komplexe virtuelle Umgebungen in Echtzeit und die erschöpfende Simulation des Verhaltens der dargestellten Objekte.

Vor allem in der Medizin dient VR als Hilfsmittel in der Diagnose, der Ausbildung und zur Vorbereitung operativer Eingriffe. Das virtuelle Abbild des Patienten ist in greifbare Nähe gerückt. VR hat dort Zukunft, wo wie in der Architektur raumbezogene Daten eine wesentliche Rolle spielen. Die Visualisierung geologischer Verhältnisse und von Strömungen sind heute Voraussetzung für Ölgesellschaften auf der Suche nach neuen Quellen, bevor die erste Bohrung angesetzt wird. Ein weites Feld öffnete sich auch für Künstler, Kunsthistoriker und Archäologen. Erst kürzlich wurde der Kopf einer Moorleiche simuliert und anschließend als Modell reproduziert, um Auskunft über frühe Vorfahren zu erhalten.

Peter Zimmermann, Leiter der seit 1994 auf 27 Studios angewachsenen VR-Labs des VW-Konzerns, bringt die Vorteile von VR auf den Punkt: "Reduktion von Entwicklungszeit und -kosten durch simultanes Arbeiten mit Zugang zu allen Entwicklungsdaten für jeden, Erhöhung der Qualität von Teilen und Prozessen und damit Prototypen." Es gelte, "so viel Hardware wie möglich" zu ersetzen. "Ziel der VR kann (aber) nicht sein, Hardware komplett zu eliminieren", meint denn auch Human Ramezani, Leiter des Virtual Reality Centers von BMW. Er macht die Kostenersparnis an Zahlen fest. Dauerte die Serienentwicklung vor zehn Jahren noch fünf bis sechs Jahre, so kam der neue 7er schon nach 34 Monaten auf den Markt. Der Z4 war in 30 Monaten reif.

VR hat sich vom "Beigeschmack des Verspielten", wie Ramezani betont, befreit. Die Methoden beginnen sich zu etablieren, werden Standard, auch seien sie "sehr effektiv, um Optimierungsschleifen einzuziehen". Vielleicht bahnt sich da eine Evolution an wie einst bei den ersten Computern: 1950 meinte IBM, fünf reichten weltweit. Heute nutzt die Automobilindustrie VR zur Simulation von Navigation, für Ergonomiestudien und Crash-Tests, in der Klimatechnik, für die Montage und das Strömungsverhalten und sogar in der Marketing-Abteilung.

Für Mittelständler waren Labore bisher in der Regel zu teuer. Doch erklärt Herbert Beesten, Gründer und Geschäftsführer der Terakos GmbH in Magdeburg, dass Simulationen heute praktisch auf "jedem Aldi-PC" möglich und Prozessor- sowie Grafiksoftware inzwischen für jeden erschwinglich seien. Gegründet im Jahr 2000, kann seine Firma bereits den Einstieg in die Automobilindustrie melden. So soll jeder VW-Mitarbeiter, der an irgendeiner Stelle in die Fertigung involviert ist, künftig VR-unterstützt und realitätsnah arbeiten können. Ein Labor sei dafür nicht mehr nötig, es reiche ein gut ausgestatteter PC mit Windows und Grafik-Software.

VR-Zukunft in der Automobilindustrie

Auch Konrad Zürl, Geschäftsführer der Advanced Realtime Tracking GmbH in Herrsching, sieht die VR-Zukunft hauptsächlich in der Automobilindustrie. Für ihn steht die "Augmented Reality" (AR) im Vordergrund, das Verfahren, das VR in Kombination mit realen Umgebungen nutzt. Zürl skizziert: Der potenzielle Autokäufer setzt sich beim Händler in einen echten Fahrersitz, alles weitere läuft über Datenhelm und -handschuh: Der Kunde lässt die Landschaft an sich vorbeirauschen, er bestimmt, in welcher Farbe die Instrumente aufleuchten, und möglichweise macht er sogar den Elchtest im Ledersessel. (bi)

*Gerda von Radetzky ist freie Autorin in München.

Virtual Reality - Zeitschiene

4. Jh. v. Chr. Euklid beschreibt den physiologischen Zusammenhang zwischen Stereoabbildern und räumlichem Seheindruck.

1506 Albrecht Dürer reitet nach Bologna, um perspektivisches Zeichnen zu lernen.

1787 Robert Baker lässt sich seine Panoramabilder patentieren.

1822 Louis Jacques Mandé Daguerre eröffnet in Paris das Diorama.

1838 Sir Charles Wheatstone erfindet das Stereoskop.

1849 Sir David Brewster erfindet die Zwei-Objektiv-Kamera.

1853 Wheatstone führt ein stereoskopisches Guckkasten-Kino vor.

1890 William Friese-Green baut eine stereoskopische Filmkamera.

1903 Die Gebrüder Lumière führen zur Weltausstellung in Paris 3D-Kurzfilme vor.

1927 Los Angeles, Ambassador-Hotel: Kinobesucher erhalten Rot-Grün-Brillen, um den abendfüllenden Spielfilm "The power of Love" in 3D zu erleben.

1937 Berlin: Aufführung des ersten 3D-Farb-Ton-Films "Zum Greifen nah"; die Volksfürsorge-Lebensversicherung produziert einen Werbefilm in 3D; Chrysler führt auf der Weltausstellung in New York den 3D-Werbefilm "Motor Rythm" vor.

1940 Einsatz mechanischer Simulatoren zur Ausbildung von Kampffliegern.

1948 Dennis Gabor produziert die erste Holografie.

1949 Erste Computergrafik auf Whirlwind-Computern am MIT.

1954 Fred Waller baut das Cinerama, ein Kino mit gewölbter Projektionswand.

1956 Morton Heilig stellt Sensorama vor, eine Holzkabine mit vollständiger Immersion.

1963 Sketchpad, das erste interaktive Computergrafik-System, kommt auf den Markt.

1965 Ivan Sutherland veröffentlicht in "The Ultimate Display" die theoretischen Grundlagen der Virtual Reality.

1968 Sutherland baut das erste 3D Head Mounted Display (HMD).

1985 Die Nasa stellt View vor: Virtual Interactive Environment Workstation.

1985 British Aerospace führt das Virtual Cockpit ein, Mercedes-Benz einen Fahrsimulator.

1992 Cruz Neira stellt Cave (Cave Automated Virtual Environment) vor.

1994 Mark Pesce und Tony Parisi zeigen auf der WWW-Konferenz in Genf den Prototypen eines 3D-Browsers. Daraus entwickelt Silicon Graphics VRML (Virtual Reality Markup Language, heute Virtual Reality Modelling Language), die Beschreibungssprache für das 3D-Grafik-Dateiformat.

2000 Einzug der VR in bezahlbare Anwendungen.