DV-Chefs müssen ein Gespür für Pseudonormen entwickeln

Der Droge "Standard" folgt häufig der große Katzenjammer

06.11.1992

Die Sucht nach Standards führt DV-Manager auf Abwege und ruft Abhängigkeiten hervor, die für Unternehmen und Karriere schädlich sein können. Für den Erfolg von DV-Verantwortlichen ist es entscheidend, so Walter Föhr* ein Gespür für diese Art von Pseudonormen zu entwickeln und wenigstens dafür zu sorgen, daß es einen firmeneinheitlichen Standard gibt. Nur so lassen sich Fehlinvestitionen vermeiden: Der Droge folgt nämlich der Katzenjammer.

In etablierten Technologiezweigen werden Standards zur Normierung von Endprodukten und Bauteilen vorgegeben. Sie dienen dem Schutz der Anwender vor Kompatibilitäts- und Qualitätseinbußen. Da große Bereiche der Informationsverarbeitung technisch unausgegoren sind, gibt es für sie noch keine Standards.

Trotzdem behaupten einige Hersteller, es gäbe sie, und wiegen damit Anwender in der trügerischen Sicherheit, mit der Entscheidung für ein Standardprodukt klar definierte Qualitäten und Kompatibilität erworben zu haben.

Auf diese Art wird der Begriff "Standard" zur Droge, zum Tranquilizer, der den Blick auf die schwer zu ertragende und komplexe DV-Realität verstellt.

Negative Konsequenzen für Unternehmen und nicht zuletzt für die Karrieren von DV-Managern sind die Folge, weil sie Entscheidungen für Standards getroffen haben, die bei näherem Hinsehen keine sind und damit Fehlinvestitionen und Enttäuschungen verursachten.

"Bei der Entscheidung für Personal Computer und Peripherie orientieren wir uns am Industriestandard", so ist es landauf, landab von DV-Verantwortlichen zu hören. Geschäftsführung und User sind davon überzeugt, damit auf Nummer Sicher zu gehen.

Industriestandard steht für solide und etablierte Technik, etwa für MS-DOS-Mikrorechner, XT- beziehungsweise AT-kompatibel.

Allein, der Begriff täuscht: Industriestandard bedeutet auch Disketten unterschiedlicher Formate und Schreibdichte, die nicht von verschiedenen Rechnern des gleichen "Standards" gelesen werden können. Industriestandard schützt ebenfalls nicht vor erheblichen Abweichungen in der Tastaturbelegung, die immer wieder zu Verwechslungen und Wut bei den Usern führen.

Unterschiedliche Monitore, die über verschiedene Modi angesteuert werden müssen, führen zu zeitaufwendiger Anpassung oder gar zu Unverträglichkeiten.

Verschieden leistungsstarke Prozessoren mit erheblichen Abweichungen in der Taktfrequenz in der Kombination mit unterschiedlichen Festplattensystemen erschweren dabei eine Beurteilung der Leistungsmerkmale.

Diverse Druckertypen und -treiber machen das Verwirrspiel perfekt, das sich hinter dem harmlosen Begriff "Industriestandard" verbirgt - ganz zu schweigen von Anwendungssoftware-Packages, die sich einmal mehr und einmal weniger gut mit den unterschiedlichen Systemen verstehen.

Das Ergebnis sind stachelige PC-Insellösungen, die kaum Gemeinsamkeiten aufweisen und von keinem Netzwerk der Welt zu integrieren sind. DV-Manager, die rechtzeitig firmeninterne Normen definierten, die enger und konkreter gefaßt waren als der sogenannte Industriestandard, und dafür sorgten, daß diese Normen auch befolgt wurden, bewiesen Umsicht und Weitblick - Eigenschaften, die sich heute für Unternehmen und Karriere gleichermaßen auszahlen dürften. Wer sich ausschließlich auf den Industriestandard verließ, ist heute verlassen. An diesem Beispiel wird ein Phänomen deutlich, das auch in anderen Bereichen der Datenverarbeitung zu beobachten ist: Standards, die definiert werden, während die Technik noch gärt, werden von der Entwicklung hinweggefegt!