Remote Collaboration

Der digitale Wollschnur-Zwilling

10.06.2020
Von 
Alexandra Mesmer war bis Juli 2021 Redakteurin der Computerwoche, danach wechselte sie zu dem IT-Dienstleister MaibornWolff, wo sie derzeit als Head of Communications arbeitet.
Ein agiles Großprojekt am Laufen zu halten, glich schon vor Corona einer Herkulesaufgabe. Worauf es ankommt, wenn diese im Rahmen von Remote Collaboration gestemmt werden soll, zeigt das Beispiel der Deutschen Telekom.
Agile Planung bei der Telekom vor Corona: Die Teams veranschaulichten ihre Aufgaben und Ziele mit Klebezetteln an Stellwänden, rote Wollschnüre symbolisierten die Abhängigkeiten. Für alles, auch für die Wollschnüre, existieren nun digitale Zwillinge.
Agile Planung bei der Telekom vor Corona: Die Teams veranschaulichten ihre Aufgaben und Ziele mit Klebezetteln an Stellwänden, rote Wollschnüre symbolisierten die Abhängigkeiten. Für alles, auch für die Wollschnüre, existieren nun digitale Zwillinge.
Foto: Deutsche Telekom

Agile Teams waren auch deshalb so kreativ und wendig, weil sie beim täglichen Standup die Köpfe zusammensteckten, beim Pair Programming Seite an Seite codeten, oder beim PI Planning alle in einem Raum die Sprints für die nächsten zehn Wochen planten. Tanja Augustin koordiniert als Release Train Engineer bei der Deutschen Telekom die Produkt-Teams nach dem Scaled Agile Framework, einem der verbreitetsten Rahmenwerke, um die agile Zusammenarbeit für große Teams zu skalieren.

Groß ist das Projekt, für das Augustin arbeitet, allemal. Bis zu 300 Cloud- und Embedded-Entwickler, Machine-Learning-Spezialisten, Computerlinguisten, Designer und Tester von der Telekom und IT-Dienstleistern arbeiten agil zusammen, um den Lautsprecher "Smart Speaker" inklusive intelligentem Sprachassistenten und Sprachplattform weiterzuentwickeln. Bislang kann man über Sprachbefehle Telekom- Dienste wie Telefonie, Smart-Home-Steuerung oder Entertain TV nutzen, auch Amazons "Alexa" lässt sich über den Lautsprecher ansteuern. Einer der Höhepunkte im agilen Prozess ist das große PI-Planning-Treffen, das alle an einem Ort zusammenführt, um die nächsten zehn Wochen zu planen. Augustin erwartete zunächst nicht, dass dieses Treffen virtuell funktionieren kann. Nach der geglückten Premiere im April nennt sie einige Bedingungen für effizientes virtuelles Zusammenarbeiten: "Die Scrum Master müssen ihre Teams gut auf die Veranstaltung vorbereiten. Es ist hilfreich, wenn die Teams bereits Erfahrungen haben, wie ein solches PI Planning abläuft."

Tanja Augustin, Deutsche Telekom: "Über allem steht die Kommunikation mit den Projektmitarbeitern. Wichtig ist, ihnen aufzuzeigen: Ob Kinderbetreuung, Homeschooling oder technische Probleme – keiner ist damit allein, wir sitzen alle im selben Boot."
Tanja Augustin, Deutsche Telekom: "Über allem steht die Kommunikation mit den Projektmitarbeitern. Wichtig ist, ihnen aufzuzeigen: Ob Kinderbetreuung, Homeschooling oder technische Probleme – keiner ist damit allein, wir sitzen alle im selben Boot."
Foto: Tanja Augustin

"Damit retten wir viele Bäume"

Zudem brauchten alle Zugriff auf Informationen, die sie auch beim realen Treffen vor Ort vorgefunden hätten. Für gewohnte Darstellungsformen wie Planungswände voller Klebezettel und Wollschnüre, die die Abhängigkeiten der Projektaufgaben symbolisieren, brauchte es digitale Zwillinge. "Diese funktionierten so gut, dass wir sie künftig weiter nutzen wollen." Für Augustin auch ein Beitrag zum Schutz der Ressourcen: "Damit retten wir viele Bäume, die sonst als kleine Zettel an unserer Planungswand gelandet wären."

Früher musste sich Scrum Master Silke Tautorat auf einen Hocker stellen, um sich bei der Sprintplanung Gehör zu verschaffen. Das funktioniert in Videokonferenzen nun auch ohne Hocker.
Früher musste sich Scrum Master Silke Tautorat auf einen Hocker stellen, um sich bei der Sprintplanung Gehör zu verschaffen. Das funktioniert in Videokonferenzen nun auch ohne Hocker.

Dreh- und Angelpunkt sei aber die Kommunikation mit den Projektmitarbeitern, und zwar über das Fachliche hinaus. Es gelte aufzuzeigen, "dass wir alle mit den gleichen Problemen zu kämpfen haben. Ob Kinderbetreuung, Homeschooling oder technische Probleme, keiner ist damit allein, wir sitzen alle im selben Boot." Dem stimmt Thomas Eifinger, Geschäftsbereichsleiter des IT-Dienstleisters QAware, zu: "Da wir alle von zuhause arbeiten, ist das Verständnis für die Situation groß. Auch der Kunde kann nachvollziehen, wenn ein Kind in der Videokonferenz vorbeischaut." Mit im Boot sitzt auch Silke Tautorat, Scrum Master bei QAware. Da sie und ihr Team schon länger im Telekom-Projekt eingebunden sind, arbeiteten manche auch zuvor schon zum Teil remote. Das half bei der Umstellung auf 100 Prozent remote genauso wie digitale Whiteboards, die die riesige Pinnwand ersetzten. Für Tautorat änderten sich weniger ihre fachliche Aufgabe denn ihre Verhaltensmuster: "Wir müssen den Austausch regelmäßig suchen und gezielt Termine vereinbaren, etwa das gemeinsame Review eines Tickets ansetzen." Die Teams stimmen sich in täglichen Videokonferenzen ab, auch über die Kultur dieser virtuellen Meetings haben sich Tautorat und ihr Team Gedanken gemacht: "Für mich ist es eine Frage der Höflichkeit, sich im kleinen Meeting zu zeigen und das Bild freizuschalten."

Silke Tautorat, QAware: "Seit wir nur noch verteilt und virtuell zusammenarbeiten, haben sich unsere Verhaltensmuster geändert. Wir müssen den Austausch regelmäßig suchen und gezielt Termine vereinbaren, etwa das gemeinsame Review eines Tickets ansetzen."
Silke Tautorat, QAware: "Seit wir nur noch verteilt und virtuell zusammenarbeiten, haben sich unsere Verhaltensmuster geändert. Wir müssen den Austausch regelmäßig suchen und gezielt Termine vereinbaren, etwa das gemeinsame Review eines Tickets ansetzen."
Foto: QAware GmbH

Die Entwickler kommen mit remote gut zurecht, sagt Eifinger: "Auch Pair Programming funktioniert verteilt sehr gut, war schon vor Corona sehr beliebt, unter anderem weil es die Entwickler toll finden, den eigenen großen Bildschirm nur für sich zu haben und mit dem entsprechenden Tooling gemeinsam zu arbeiten." Eine wichtige Orientierung bilde das vor einem Jahr eingeführte Framework, so Tautorat: "Diese Struktur hilft uns sehr, weil wir zu jedem Zeitpunkt wissen, was wir liefern müssen. Wichtig ist, bei der Planung die veränderten Arbeitssituationen zu berücksichtigen und nur das zu versprechen, was wir zu den Rahmenbedingungen liefern können." Das habe bisher gut geklappt. Auch vor Corona musste man Puffer einplanen, etwa wenn neue Mitarbeiter einzuarbeiten sind oder Kollegen die Teams wechseln.

Auch Telekom-Engineer Augustin und ihr Team hatten vorher zwischen zwei und vier Wochen gebraucht, um das große PI-Planning-Treffen vorzubereiten, abhängig davon, wie viele neue Teams geschult werden mussten oder wie zeitaufwendig sich die Suche nach geeigneten Räumlichkeiten gestaltete. Auch für das erste virtuelle Treffen der 300 hielt sich der Vorbereitungsaufwand in diesen Grenzen.

Bernhard Hochstätter, Deutsche Telekom: "Natürlich kann auch jetzt nach dem Hörer gegriffen werden, um ad hoc Themen abzustimmen, wichtig ist nur, dass Ergebnisse sofort an alle, die es betrifft, nachvollziehbar geteilt werden."
Bernhard Hochstätter, Deutsche Telekom: "Natürlich kann auch jetzt nach dem Hörer gegriffen werden, um ad hoc Themen abzustimmen, wichtig ist nur, dass Ergebnisse sofort an alle, die es betrifft, nachvollziehbar geteilt werden."
Foto: Deutsche Telekom

Tools erlauben gleichen Zugang zum Wissen

Das freut auch Bernhard Hochstätter, der bei der Deutschen Telekom als Tribe Lead Voicification Platform die Plattfom-Teams fachlich steuert: "Schon vor Corona haben wir zum Teil verteilt zusammengearbeitet. Die Notwendigkeit, ausschließlich remote zu kommunizieren, zu planen und dennoch synchronisiert abzuliefern, hat diese Fähigkeiten noch einmal auf ein anderes Niveau gebracht." Hochstätter sieht in der aktuellen Konstellation durchaus Vorteile: "Da nun alle konsequent die gleichen Tools und Prozesse nutzen, werden einzelne nicht mehr benachteiligt, die nicht an der Kaffeemaschine Dinge ad hoc regeln können." Das Wissen werde über ein Collaboration Tool verteilt und gepflegt, alle Planungen in einem Tool bearbeitet, wichtige Informationen im Chat oder per Mail geteilt, so Hochstätter: "Natürlich kann auch jetzt nach dem Hörer gegriffen werden, um ad hoc Themen abzustimmen. Wichtig ist nur, dass Ergebnisse sofort an alle, die es betrifft, nachvollziehbar geteilt werden."

Thomas Eifinger, QAware: "Führung ist schwieriger geworden, da ich auf dem Flur nicht mehr mitbekomme, ob es dem Kollegen gut geht. Darum bin ich auf Hinweise aus den Teams angewiesen. Ich rufe auch jeden Tag einen meiner Mitarbeiter an, um ihn zu fragen, wie es ihm geht."
Thomas Eifinger, QAware: "Führung ist schwieriger geworden, da ich auf dem Flur nicht mehr mitbekomme, ob es dem Kollegen gut geht. Darum bin ich auf Hinweise aus den Teams angewiesen. Ich rufe auch jeden Tag einen meiner Mitarbeiter an, um ihn zu fragen, wie es ihm geht."
Foto: QAware GmbH

Die Videotelefonie ist für Thomas Eifinger von QAware ein wichtiges Führungsinstrument: "Führung ist schwieriger geworden, da ich auf dem Flur nicht mehr mitbekomme, ob es dem Kollegen gut geht. Darum bin ich auf Hinweise aus den Teams angewiesen. Ich rufe auch jeden Tag einen meiner Mitarbeiter an, um ihn zu fragen, wie es ihm geht." Auch Tanja Augustin sieht in Anrufen einen Weg, den Austausch zu beleben: "Jetzt muss man sich gezielt die Zeit nehmen, schauen, ob es in den Zeitplan des anderen passen könnte und abwägen, ob ein weiteres Telefonat gut, hilfreich und notwendig ist.