Neuer Wein in alten Schläuchen

Der Aufstieg des computerintegrierten ManagementsEin Ergebnis der Organisationsentwicklung - die Technologie gibt's schon von der Stange (5. Teil)

22.05.1987

Wer schnell und kundenindividuell auf Marktanforderungen regieren will, muß auf Computer-Integration setzen. Das erfordert von der Informationstechnologie Netzwerkkommunikation, Ausfallsicherheit, Softwaretechnologie der vierter Generation, um Datenstrukturen flexibel an Strukturwandlungen bei Technologien und Märkten anpassen zu können. Vor allem aber erfordert das von der Organisationsentwicklung eine Unternehmenskultur, die zum Management des Wandels befähigt.

Unter "just in time" (JIT) werden technisch voneinander unabhängige Fertigungsprozesse verstanden, die parallel und informationsgesteuert gekoppelt ablaufen. Die synchronisierte (just in time) Verzahnung der Teileanlieferung erfolgt dabei reihenfolgegerecht und ohne jede Lagerhaltung für die anschließende Montage. Seit einem Jahr praktiziert Audi einen solchen Vertikalverbund mit dem Hersteller der Autositze, der Firma Schmitz & Co. in Neuburg, etwa 30 Kilometer von Ingolstadt entfernt. Die Firma Schmitz muß dabei Sitze aus etwa 8000 Sitzvarianten für Audi herstellen, deren reihenfolgegerechtes Produktionsprogramm ihr jedoch nur sechs Stunden (abzüglich einer halben Stunde Transportzeit} vor Einbau in die Fahrzeuge bekanntgegeben wird.

Von der Fertigung direkt in die Montage

Zu diesem Zeitpunkt erst kann die Firma Schmitz mit der Sitzfertigung beginnen: Teilekommissionierung auftragsbezogen, Nähen und Sitzmontage sowie Gehängebestückung über die automatische, auftragsgesteuerte Sortiervorrichtung. Die Sitze sollen nämlich in Gehängen ohne jedes weitere Handling von der Schmitz-Fertigung in die Audi-Endmontage transportiert werden. Dazu werden bei Schmitz und bei Audi identische Andockstationen für den Lkw-Transport benötigt, durch die eine lückenlose Transportkette bis zur Hängebahn-Einsteuerung in die Audi-Sitzmontage gebildet wird. Über die integrierte Fördertechnik werden im Stundentakt jeweils 18 Gehänge je Lkw mit Sitzen reihenfolgegerecht in die Transportkette eingesteuert und dieselbe Zahl von Leergehängen für den Rücktransport zur Sitzfertigung ausgesteuert -alles vollautomatisch; der Lkw-Fahrer braucht sein Fahrzeug dazu nur an die Audi-Stromversorgung anzuschließen. Niemand wird nervös bei Audi, wenn nur 15 Sitze im Haus sind. Wären es allerdings nur fünf dann würde der Schmitz-Lkw gar nicht erst losfahren; dann müßte dieses Fertigungslos ohne Sitze komplett für eine Nachrüstaktion ausgesteuert werden - ein Fall bisher nur für die Sandkastenspiele der Planer.

So faszinierend die technischen Details sein mögen, hier fasziniert vor allem das Konzeptionelle des Vorgangs:

- Bestände werden durch Informationen ersetzt, weil der Lieferant über Bildschirmdialog wie eine eigene Fertigungsstelle in das Montage-Informationssystem einbezogen wird. Durch die Genauigkeit dieser Informationen werden Pufferbestände beim Lieferanten und beim Verarbeiter gar nicht erst gefertigt, weil sie infolge der Verzahnung der Logistikkette nicht benötigt werden. Integration durch Vertikalverbund.

- Interorganisations-Systeme schaffen Partnerschaft selbständiger Unternehmen in wechselseitiger Abhängigkeit, die sich eigentlich als Käufer und Lieferant in Wettbewerbsposition befinden. Statt dessen verfolgen sie eine Koalitionsstrategie zum gegenseitigen Nutzen. Der Käufer verzichtet auf Qualitäts- und Wareneingangskontrollen, indem gemeinsam erforderliche Gütestandards beim Lieferanten sichergestellt. werden. Zwischen Käufer (Sattlerei für die hauseigene Sitzefertigung, die zur Zeit noch zwei Drittel des VoIumens beisteuert) und Lieferant wird ein völlig offener Know-how-Transfer vereinbart, obwohl die Firma Schmitz auch Mitbewerber BMW mit Sitzen beliefert. Eine vollständige Offenlegung der Kostenstruktur und der Gewinnkalkulation wird praktiziert. Allerdings ist auch vereinbart, daß Audi und sein mittelständischer Lieferant einen eventuellen Produktionsrückgang anteilig gemeinsam tragen würden.

- Die Kostenauswirkungen sind erheblich: Einsparungen von 15 Prozent bei Transportkosten, 50 Prozent bei den innerbetrieblichen Handlingskosten, 80 Prozent bei den Kapitalbindungskosten, Wegfall von zwei Dritteln der sonst erforderlichen Bereitstell- und Lagerflächen. Berücksichtigt man diese indirekten Kosten, binden nämlich eine Million derartiger Pufferbestände etwa 25 bis 30 Prozent laufende Kosten pro Jahr. Audi konnte durch dieses JlT-Projekt eine Erweiterungsinvestition von 25 Millionen Mark in der hauseigenen Sattlerei vermeiden.

- Der Verarbeiter kann durch dieses Just-in-Time-Konzept gleich eine ganze Anzahl von Zielen erreichen: 1. Versorgungssicherheit der Fertigung bei besonders variantenreichen Fertigungsprogrammen. 2. Flexible Anpassung an individuelle Kundenwünsche unter Ausnutzung der Kostenvorteile der Bandfertigung. 3. Einkauf maßgeschneiderter Entwicklungsleistungen vom Lieferanten. 4. Rationalisierungsvorteile durch Fertigung in selbständigen, überschaubaren Fertigungseinheiten mit einem Führungspotential, um das sich die eigene Personalabteilung nicht kümmern muß. Und so genau hat man bei Audi vorher auch gar nicht gewußt, was die Sitze eigentlich so kosten . . .

- Für mittelständische Zulieferbetriebe eröffnet die Befähigung zur Just-in-Time-Produktion eine Verbesserung der eigenen Wettbewerbsposition, angestoßen durch die Informationstechnologie. Und zum gegenseitigen Nutzen, denn natürlich deckt jede Lagerhaltung immer auch ein Mäntelchen der Nächstenliebe über betriebliche Schwachstellen - wo auch immer.

Ziele für die nächsten fünf Jahre

Natürlich hat das JlT-Konzept verschiedene Ausprägungen. Da ist zunächst das Interorganisationsmodell, das Audi neben den Sitzen auch bei Türverkleidungen und Stoßdämpfern betreibt. Es wird geschätzt, daß sich das reihenfolgegerechte JIT von :30 000 Kaufteilen nur bei etwa 100 Teilen anwenden lasse - Realisierungsziel für die nächsten fünf Jahre. Entfernungen bis 100 Kilometer werden als unkritisch angesehen. Voraussetzung ist allerdings die Informationsqualität, daß das Fertigungsprogramm der nächsten drei bis fünf Arbeitstage zu über 85 Prozent fixierbar ist. Zweitens gibt es aber noch das blockgenaue JIT ohne Lagerhaltung mit einer beherrschbaren Reichweite von etwa 400 Kilometern, bei dem die Reihenfolgegerechtheit aufgegeben wird. Drittens wird das Direktbelieferungs-JIT praktiziert, bei dem mit bundesweiter Reichweite über die auftragsbezogene Feinterminierung zwar ein Pufferlager am Fertigungsband nicht aber eine Lagerverwaltung unterhalten wird. Daneben wird das JlT-Konzept natürlich auch innerhalb der eigenen Fertigungsorganisation angewendet, zum Beispiel beim Audi-Motorenzusammenbau der für die unterschiedlichen Motorenausstattung reihenfolgegerecht mit einer Vorlaufzeit von 4,5 Stunden vor dem Zeitpunkt des Einbaus ebenfalls erst angestoßen wird.

Befragt nach den Problemfeldern in der Einführungsphase gilt auch für die Audi-Manager das "Vergessen Sie das C bei CIM". Die Hardware der Informations- und Fördertechnik funktionierte reibungslos. Schwierig war die Veränderung des mind sets der Organisation, Überzeugungsarbeit und Durchsetzungskonsequenz für das JIT-Konzept das Gebot der Stunde.

Unverkennbar hat die Informationstechnologie dramatische Auswirkungen auf die Unternehmensorganisation. Einige Stichworte haben wir genannt: Management des Wandels, Führung des Linienmanagements beim Innovationsprozeß, interdisziplinäres Anforderungsprofil des Informationsmanagers, Multrix-Organisation, Vertikalverbund in der Logistikkette durch Interorganisations-Systeme (Just-in-Time-Konzept). Ein weiteres Merkmal wurde bei der Charakterisierung der verkabelten Gesellschaft angesprochen (siehe Abbildung 1, CW 16, Seite 44): die weltweite Kommunikation. Als Beispiel besticht die Konsequenz, mit der die Digital Equipment Corporation unternehmensintern diese weltweite Kommunikation als einen ihrer kritischen Erfolgsfaktoren (CSF) geortet hat. DEC verkauft ihren Kunden High-Tech-Lösungen der Informationsverarbeitung. Natürlich wäre DEC nicht in einer sonderlich starken Position, ihre Kunden von deren Nutzen zu überzeugen, wenn das Unternehmen nicht auf den produktivitätsstiftenden Nutzen für die eigene Organisation vertrauen würde. Daher wird der CSF "Kommunikation (Netzwerk-Strategie)" bei DEC folgendermaßen umschrieben:

- Der geschäftliche Erfolg hängt von der Qualität der unternehmerischen Entscheidungen ab. Deswegen sollen Entscheidungen und Aufgaben möglichst jenen Mitarbeitern übertragen werden, die dazu am besten befähigt sind. Qualifizierte Entscheidungen werden unmittelbar beeinflußt von der Qualität der Mitarbeiter ebenso wie von der Qualität und Schnelligkeit der verfügbaren Informationen und der Qualität der Kommunikation dieser Mitarbeiter untereinander. Die Qualität der innerbetrieblichen Kommunikation ist daher ein wettbewerbsbestimmendes, strategisches Erfolgspotential.

- Jede DEC-Niederlassung soll daher über die jeweils kostengünstigsten Übertragungswege in das weltweite Netzwerk eingebunden werden.

- Jeder DEC-Mitarbeiter soll über das interne System der elektronischen Post erreicht werden können.

- Das damit verbundene Wachstum der erforderlichen Kapazitäten an Rechnerleistung und Kommunikationskanälen darf kein Engpaß der Organisationsentwicklung werden.

- Das weltweite Netzwerk soll nur mit DECs marktgängigen Produkten als Standardinstallation für die Implementierung standardisierter Anwendungen und Servicepakete betrieben werden. So kann den Kunden als wettbewerbsbestimmendes, strategisches Erfolgspotential DECs Fähigkeit nachgewiesen werden, weltweit offene Informationsnetze jeder Größenordnung mit transparentem Datenzugriff zu beherrschen.

In Beachtung dieses CSF hat DECs Information Services Network Management seit 1981 mit beeindruckender Konsequenz der Welt größtes privates Netzwerk von über 15 000 Computersystemen (überwiegend der VAX-Familie) mit über 65 000 Teilnehmern (bei weltweit über 100 000 Mitarbeitern) aufgebaut. Es heißt beziehungsreich EasyNet und wird nahezu operatorlos von etwa 60 Systemverantwortlichen betreut. Dieses gigantische Netzwerk wächst gegenwärtig um etwa 100 Computersysteme pro Woche - der Vergleich mit dieser "Computer-Popularisierung" mit dem Automobil drängt sich auf.

Managemententscheidung tagfertig - weltweit

Die weltweite elektronische Hauspost von DEC überlagert als value added-Service das EasyNet. Ihre Effektivität ist bemerkenswert. Pro Woche werden etwa eine Million Briefe einschließlich zwei Kopien weltweit elektronisch verteilt. Eine EM-Kommunikation von Person zu Person kostet etwa 0,50 Dollar pro Kopie im weltweiten Netz. Derselbe Postdienst würde herkömmlich etwa das Fünf- bis Zehnfache kosten; weltweit für DEC etwa 200 Millionen Dollar. Die Effektivität der electronic mail (EM) drückt sich aber nicht nur in dieser Kostenersparnis aus, sondern vor allem in der Leistungssteigerung der gesamten Organisation: 90 Prozent aller EM-Briefe werden innerhalb von einer Stunde von Schreibtisch zu Schreibtisch befördert. Dadurch können Managemententscheidungen, die auf dem Austausch von Dokumenten beruhen, innerhalb von Europa in einem halben Tag, rund um die Welt spätestens innerhalb eines Tages getroffen werden. Kein anderer Informationsdienst ermöglicht einen solchen Wettbewerbsvorteil.

Noch interessanter ist der Wandel in der Unternehmenskultur unter dem Einfluß der Informationstechnologie. Die Netzwerk-Kommunikation schafft eine enge Zusammenarbeit von formellen oder vor allem auch informellen "virtuellen Teams" unabhängig davon, daß die Mitglieder räumlich weit getrennt sind. Derartige "Computer-Konferenzen" gestatten weltweit einen offenen Meinungsaustausch zu bestimmten Themen, ohne daß die Teilnehmer sich räumlich versammeln müssen. Der Zugang ist für jeden Interessenten offen. Dadurch können völlig unerwartet geistige Impulse gesetzt werden, die Diskussionen in neue Richtungen lenken. Natürlich gibt es auch Computer-Konferenzen mit vertraulichen Themen und beschränktem Zugang. Besonders intensiv wird diese Form der Kommunikation bei DEC im Forschungs- und Entwicklungsbereich angewendet. Und wer wissen will, was da gerade so an Computer-Konferenzen geboten wird im Unternehmen - ein Blick in den Bildschirm sagt s ihm.

Auch der branchenübergreifende Datenaustausch (EDI, electronic data interchange) ist im Kommen. Immer mehr Verbände beginnen die EDI-Technologie als neues Wirkungsfeld zu erkennen. Unter anderem der Dachverband der Automobilfabrikanten, der VDA, leistet hier Pionierarbeit. Auf die Vorteile der EDI-Konzeption wollte auch ICI, der Welt größter Chemiehersteller, nicht verzichten. Unter Einschaltung des Systemhauses Tradanet baute ICI ein EDI-Netzwerk auf, das die eigenen Filialen, Kunden und Lieferanten für den zeitkritischen Geschäftsverkehr miteinander verbindet. Lieferpapiere, Rechnungen, Aufträge und Bestellungen werden elektronisch versandt, um dadurch den Zeitverzug des Postweges und der Hauspost einzusparen. Erfahrungen zeigen - wie auch bei DEC - , daß die Kosten eines elektronischen Dokuments etwa ein Zehntel des konventionellen Papierdokuments betragen - da dürfte die Wiedergewinnungszeit des erforderlichen Investments zu einer vernachlässigbaren Größe werden.

Derartige Konzepte belegen dramatische Veränderungen infolge der Informationstechnologie. Die Bildschirmdichte wird zu einem Maßstab für die Organisationsentwicklung in den Unternehmen. Je stärker Unternehmen ihre Organisation durch den Bildschirmdialog unterstützen, um so mehr öffnen sie ihren Mitarbeitern Zugang zum Informationswarenhaus. Es ist heute noch schwer abzusehen, welche Veränderungen die dialoggestützte Organisation auf das Unternehmen als Sozialverband haben wird - sicher ist nur, daß diese Veränderungen einschneidend sein werden. Ihre Beherrschung wird maßgeblich die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen bestimmen. Noch einschneidender werden die Veränderungen der informationsgestützten Organisation werden. Stellte die dialoggestützte Organisation mehr auf den Zugang zu Informationen und die Integration der Abläufe ab, so verschiebt sich die Betrachtung der informationsgestützten Organisation mehr auf die Veränderung der Qualität der Information und deren Auswirkung auf die Strukturen und Abläufe im Unternehmen. Einen Ausblick auf dieses Blickfeld soll der letzte Teil dieser Serie geben.

"Bis zu einem gewissen Grade wird sich die Mentalität der Manager ändern müssen in Richtung auf ein technologiebezogenes Denken", sagt Roger Samuel, Projektleiter einer Langzeitstudie (fünf Jahre mit einem 5-Millionen-Dollar-Budget) an MITs Sloan School of Management, über die Veränderungen von Unternehmensstrukturen und Strategien als Folge des technologischen Wandels. "Weit wichtiger jedoch ist, daß Unternehmen, die keine eigene "Informationstechnologie-Kultur" entwickeln, der Perspektive entgegensehen, von denen geschluckt zu werden, die dies tun." wird fortgesetzt

*Jens Christopher Ruhsert ist Geschäftsführer der Wilhelm Gienger GmbH & Co. KG, München, Fachgroßhandel für Haustechnik.