Wearable PCs führen (noch) ein Nischendasein

Dem Computer am Körper fehlen die Anwendungen

07.01.2000
BREMEN (wh) - Am Körper tragbare Computer versprechen völlig neue Einsatzmöglichkeiten. Doch den Wearable PCs (WPCs) fehlen die passenden Anwendungen, monieren Kritiker. Softwarekonzepte aus der Desktop-Welt sind auf die neue Geräteklasse nur eingeschränkt übertragbar.

"Wir stehen noch ganz am Anfang", sagt Edward Newman, CEO der US-amerikanischen Xybernaut Corp. "Die meisten Menschen wissen überhaupt nicht, wodurch sich ein WPC von einem normalen PC unterscheidet. "Wir geben sehr viel Geld aus, um den Markt aufzubauen."

Xybernaut mit Hauptsitz in Fairfax, Virginia, sieht sich als Pionier in Sachen Wearable Computing. Schon seit 1996 bietet das Unternehmen einen am Körper tragbaren Rechner an. "Im Prinzip besteht kein Unterschied zu einem herkömmlichen Rechner", erläutert Newman. "Es handelt sich um einen Standard-PC auf Basis einer Wintel-Plattform. Allerdings braucht man keinen festen Arbeitsplatz, um mit dem WPC arbeiten zu können." Auch im Vergleich zu Notebooks oder Handhelds sieht der Manager gravierende Unterschiede: Der WPC-Benutzer kann Beine, Hände und Augen während der Rechnerbedienung frei bewegen und sich mit anderen Arbeiten beschäftigen.

Michael Boronowsky, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Technologie-Zentrum Informatik (TZI) der Universität Bremen, beschreibt die Charakteristika des WPC ähnlich: "Die Kommunikation mit dem Wearable Computer ist nicht die Hauptaufgabe." Mit dem am Körper getragenen Rechner könnten sich Benutzer auf ihr eigentliches Tätigkeitsumfeld konzentrieren: "Der WPC soll während der Arbeit verwendet werden." Durch die Art und Weise, wie ein Wearable benutzt wird, öffne sich ein weites Feld neuer Anwendungen, glaubt der Wissenschaftler. Die Informationstechnik dringe damit immer tiefer in Arbeitsprozesse ein.

Als Ein- und Ausgabemedien für die Rechner verwendet Xybernaut berührungssensitive Displays, am Unterarm befestigte Mini-Tastaturen oder Systeme zur Spracheingabe. In einem Headset sind Mikrofon, Kopfhörer, Minikamera und ein monokularer (vor einem Auge getragener) Bildschirm in der Größe eines Brillenglases integriert (siehe Kasten: "Technik des WPC").

"Die meisten unserer Kunden bedienen die Rechner per Sprachsteuerung, beispielsweise um Inspektions- oder Installationsinformationen komplexer technischer Systeme abzurufen", berichtet Newman.

Die Einsatzmöglichkeiten von WPCs sind vielfältig. Zu den wichtigsten Anwendungsfeldern zählen Wartung, Inspektion und Instandsetzung großer technischer Anlagen. Xybernaut sieht in der Produktion einen Schlüsselmarkt. WPCs könnten Ingenieure bei der Einrichtung neuer Fertigungsstraßen sowie bei der Wartung und Anpasssung der Anlagen unterstützen. Newman: "Die Techniker müssen nicht immer vor Ort sein, um Anlagen zu überwachen. Mit Hilfe drahtloser Kommunikation lässt sich das auch aus der Entfernung erledigen."

In der US-amerikanischen Transportindustrie, insbesondere in der Flugzeugfertigung und -wartung, sind die tragbaren Minirechner schon im Einsatz. Einen bedeutenden potenziellen Markt sehen die Xybernaut-Marketiers in den Kommunen. Wearables könnten etwa zur Inspektion von Zügen, Bussen oder Brücken eingesetzt werden. Dabei ließen sich Einsparungen in Höhe von 60 bis 70 Prozent erzielen. Zudem reduzierten sich Fehler, die durch ein manuelles Aufnehmen der Daten entstehen.

Bisher kaum Installationen in Deutschland

In Deutschland sind WPC-Installationen rar. "Das größte Projekt wird derzeit von einem Konsortium unter der Leitung von Siemens geführt", berichtet Bernd Wiedmann, General Manager der Xybernaut GmbH in Böblingen. Erprobt werde der Einsatz der Kleinrechner bei der Wartung technischer Anlagen in einem exportorientierten Umfeld. Ein weiteres Projekt fährt Daimler-Chrysler. Dabei geht es um die Inspektion von Schweißpunkten in der Fertigung. In einer Fabrik für Smart-Automobile teste der Hersteller die Verwendung von WPCs in der Lagerhaltung.

Auf der Münchner IT-Messe Systems demonstrierten Entwickler des European Media Laboratory (EML) in Heidelberg ein mobiles Touristeninformationssystem auf Basis des Xybernaut-Rechners. Gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut für grafische Datenverarbeitung (IGD) und weiteren Partnern entwickelte das EML ein System, das Touristen einen individuell gestaltbaren Stadtrundgang mit Hilfe eines elektronischen Reiseführers ermöglicht. Es schlägt dem Benutzer eine Route vor und soll mit Hilfe von Spracherkennungssoftware auch Fragen beantworten können. Eingebaut in Automobile ergeben sich für die Minicomputer weitere Einsatzmöglichkeiten. Die Anwendungen reichen vom klassischen GPS-Navigationssystem bis zum sprachgesteuerten virtuellen Büro für unterwegs.

Glaubt man einschlägigen Marktprognosen, so haben die Tragbaren eine goldene Zukunft vor sich. Die IDC-Analystin Christine Arrington schätzt das Umsatzvolumen im US-amerikanischen Markt für Wearable PCs im Jahr 2003 auf 600 Millionen Dollar. 1999 lagen die Einnahmen noch bei mageren 50 000 Dollar. "Innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre wird Wearable Computing für viele industrielle Anwender eine bedeutende Rolle spielen, wenn es darum geht, Kosten zu senken und die Produktivität zu erhöhen", so Arrington.

Nicht alle Experten teilen diese optimistische Einschätzung. Auf dem Bremer Xyberday, einer vom TZI der Universität Bremen und Xybernaut organisierten Veranstaltung zum Thema Wearable Computing, wurden auch kritische Stimmen laut. Wulf Teiwes etwa von der Visual Interaction GmbH beurteilt die Perspektiven zurückhaltend: "Für WPCs fehlen die Anwendungen. Sonst würde eine Firma wie Xybernaut ganz anders dastehen." Das 1990 gegründete Unternehmen beschäftigt weltweit lediglich 80 Mitarbeiter.

WPC-Experte Boronowsky beendete seinen Vortrag zum Thema Anwendungspotenziale des Wearable Computings denn auch mit einer Frage: "Wo liegen die Potenziale innerhalb ihrer Domäne?" Die Zuhörer, darunter zahlreiche potenzielle Anwender aus der Luft- und Raumfahrtindustrie, konnten dazu nicht allzu viel sagen. Etliche Mitarbeiter von Daimler-Chrysler interessierten sich zwar für den Einsatz von WPCs in der Flugzeugwartung und -fertigung, hatten jedoch noch keine konkreten Vorstellungen.

Ein Lufthansa-Mitarbeiter äußerte sich gegenüber der COMPUTERWOCHE kritisch ob der praktischen Einsatzmöglichkeiten. Vorhandene Standardanwendungen auf einem WPC zu installieren hält er nicht für sinnvoll. Mächtige Menus wie die von Microsofts Office-Produkten ließen sich auf den tragbaren Rechnern nur unzureichend darstellen. Notwendig seien speziell für diese Geräteklasse und den jeweiligen Einsatzzweck ausgelegte Programme. Diese könnten aber letztlich nur von den Anwendern selbst kommen.

Auch hinsichtlich der Hardware gibt es nach Ansicht potenzieller WPC-Benutzer noch Nachholbedarf: Die VGA-Auflösung derzeit verfügbarer Displays (640 x 480 Punkte) reiche bei weitem nicht aus, um die komplexen Inhalte etwa einer Wartungsanwendung darzustellen. Erforderlich sei mindestens eine SVGA-Auflösung mit 800 x 600 Punkten. Xybernaut hat unterdessen Abhilfe versprochen.

Auf der CeBIT im Februar will der Anbieter überarbeitete Produkte vorstellen. Die nächste Generation der WPCs wird kleiner, leichter und billiger, rührt Xybernaut-Chef Newman die Werbetrommel. Die Kommunikationssysteme würden vollständig integriert. "Schon bald können Sie Ihren Pager, Ihr Mobiltelefon und Ihren Handheld-Rechner wegschmeißen. Ein kleines Walkman-ähnliches Gerät wird wie Ihr zweites Gehirn sein."

Für Boronowsky sind die hardwaretechnischen Voraussetzungen für einen Durchbruch der WPCs bereits gegeben. Die Probleme liegen seiner Meinung nach bei den Anwendungen: "Die Hardware befindet sich im kommerziellen Stadium - die Software läuft hinterher." Christoph Ranze, Geschäftsführer des TZI, teilt diese Ansicht. "Wir sind an einem Punkt angelangt, wo die Hardware und die erforderliche Netzinfrastruktur verfügbar sind. Jetzt müssen die Applikationen kommen."

In dieser Hinsicht halten sich die Fortschritte der Wearables-Gemeinde bis heute in Grenzen. Boronowsky nennt Gründe: "Für WPCs lassen sich nur wenige Konzepte aus der Desktop-Welt übertragen." Eine neues Paradigma erfordere auch neue Nutzungskonzepte. Im Zentrum der Bemühungen müssten die Anwender stehen. Diese Forderung wurde einst auch in der Desktop-Welt erhoben - mit den bekannten Ergebnissen. Wie ernst die Protagonisten des Wearable Computing diesen Anspruch nehmen, muß sich erst noch erweisen.

Technik des wearable PC

Xybernauts Wearable PC "MA IV" arbeitet mit einem auf 233 Megahertz getakteten Pentium-MMX-Prozessor von Intel. Ausgestattet mit einer 6,4-GB-Festplatte und 128 MB Arbeitsspeicher kann der Rechner leistungsmäßig noch mit aktuellen Notebooks mithalten. Ein Lithium-Ionen-Akku soll eine Betriebszeit bis zu vier Stunden ermöglichen. Ein Schwachpunkt ist der Bildschirm. Sowohl das im Headset integrierte Display als auch das separate Touchscreen stellen derzeit nur die VGA-Lösung von 640 x 480 Bildpunkten dar. Die Nachfolgemodelle MA V/VI sollen hier Verbesserungen bringen und mindestens eine SVGA-Auflösung (800 x 600 Punkte) bieten.

Neben Windows 95/98 und NT lassen sich die Wearables unter SCO Unix und Turbo Linux betreiben. Für ein komplett ausgestattetes System mit Head-mounted Display müssen Kunden stolze 14 000 Mark investieren. Xybernaut erwartet, dass die Preise im Jahr 2000 um 20 bis 40 Prozent sinken werden. Neben Xybernaut bieten auch die US-Unternehmen Via und Teltronics Wearable PCs an. Teltronics hat die Xybernaut-Technik in Lizenz genommen.