DECs Unix-Engagement erstreckt sich nicht nur auf Ultrix:

DEC hat noch manches Betriebssystem-As im Ärmel

17.03.1989

DEC und Unix - das ist für viele Anwender und DEC-Partner ein nicht völlig durchschaubares Kapitel. Zwar hat das Unternehmen mit Ultrix eine eigene Version des populären Standard-Betriebssystems im Programm, dieses wird nach Ansicht vieler DEC-User jedoch vom Anbieter nur halbherzig unterstützt. Die Rangeleien Zwischen den verschiedenen Unix-Interessengruppen haben bisher zur Klärung der Situation wenig beigetragen. Im folgenden Beitrag gibt Peter Gueri eine Insider-Einschätzung der Situation wieder.

Bekanntlich wurde das Betriebssystem Unix 1969 in den Bell Labs von AT&T entwickelt. Jeder Computerhersteller kann seit 1976 eine Lizenz zu günstigen Konditionen von AT&T erwerben. Einige Marktforscher sind sehr optimistisch und prognostizieren für Unix für den Anfang der 90er Jahre einen Weltmarktumsatzanteil von über 20 Prozent.

Es gibt leider zu viele Unix-Varianten. Allein für die VAX gibt es über zehn als seriös geltende Versionen des Betriebssystems. Schon in den 70er Jahren wurde an der Universität Berkeley das sogenannte BSD-Unix entwickelt. Es hatte im Gegensatz zum "Ur-Unix" die virtuelle Speicherfähigkeit, die wir bei VAX/VMS, dem aktuellen Standardbetriebssystem von DEC, schätzen gelernt haben.

Die Unix-Welt entwickelte sich im Laufe der Zeit in zwei Richtungen zum System V, basierend auf der Urversion von AT&T, und zur Berkeley-Version.

Schon die PDP-11, später die VAX-Rechner, wurden auch als Unix-Rechner eingesetzt. Von DEC gibt es schon seit einigen Jahren eine eigene Unix-Variante mit der Bezeichnung Ultrix. Außerdem wurde VNX, eine "Unix-Umgebung" unter VAX/VMS, als zusätztliches Softwareprodukt angeboten.

DEC hat sich schon immer im Unix-Bereich engagiert, auch wenn dies nicht unbedingt durch eigene Massenprodukte sichtbar wurde. Eine Vielzahl von Projekten von Forschungseinrichtungen in Zusammenhang mit Unix wurde von DEC großzügig mit Sachleistungen, Personal und Geldmitteln unterstützt.

Einige offensichtliche Ähnlichkeiten zwischen VAX/VMS und Berkeley-Unix (virtuelle Adressierung, Filesystem etc.) sind unübersehbar. Auch wenn man einige Softwarehäuser über das Design von Berkeley-Unix vortragen hört, glaubt man manchmal, einen Vortrag über VAX/VMS zu hören. Natürlich gibt es auch extreme Unterschiede zwischen Berkeley-Unix und dem viel moderneren VAX/VMS, zum Beispiel

- der Datei- und Systemschutz, der unter Unix eigentlich nicht vorhanden ist,

- die Kommandoebene (Unix wurde zur Zeit der Teletypes entwickelt, als das Wort Software-Ergonomie noch ein Fremdwort war).

DECs Unix-Engagement hat eine lange Tradition

Die Corporation, also DEC USA, hat sich schon immer in Sachen Unix engagiert, natürlich nicht im gleichen Maße wie für VAX/VMS zum Beispiel. Bei einigen europäischen Töchtern von DEC, zum Beispiel der deutschen DEC GmbH, war und ist in vielen Abteilungen Unix noch ein Fremdwort, speziell im Service-Bereich. Es gibt zum Beispiel noch keine Fernwartung (RHM etc.) für unter Unix laufende VAXen, keine Online VAX-Hardwaretests etc.

DEC ist Mitglied in eigentlich allen Normungsausschüssen, was für einen so großen Hersteller Pflicht ist. Natürlich ist DEC somit auch aktiv in Gremien, die die Weiterentwicklung und Standardisierung von Unix als Ziel haben. Seit 1988 existiert die OSF (Open Software Foundation), die von so namhaften Herstellern wie IBM, DEC, HP, Apollo, Siemens, Nixdorf und weiteren Herstellern und Softwarehäusern gegründet wurde, um ein herstellerunabhängiges Unix zu entwickeln. Da der OSF-Beitritt "nur" 25 000 Dollar pro Jahr kostet, sind natürlich weitere Hersteller und andere Firmen der OSF beigetreten.

Auch das US Chapter der Benutzerorganisation Decus (DEC User Society) ist Mitglied der OSF. Diese Tatsache läßt sich verschieden interpretieren:

- DEC engagiert sich im Unix-Bereich stärker als früher. Folglich versucht Decus, wichtige, Unix betreffende Informationen direkt zu erhalten, um sie ohne den Umweg über DEC an die DEC-User weiterzugeben.

- Decus traut der Unix-Politik von DEC nicht und versucht deshalb, seine Mitglieder mit Informationen aus "neutraler" Quelle, dem Standardisierungsgremium, direkt zu versorgen.

- Decus unterstützt nur eine augenblickliche Marketingstrategie von DEC (Decus ist vielleicht doch nicht mehr so unabhängig von DEC wie angenommen).

Obwohl es sicherlich noch weitere Interpretationen dieser Decus Aktivität gibt, ist die zweite Variante wohl die wahrscheinlichste.

Die Weiterentwicklung von Unix ist eigentlich kaum vorhersehbar und damit auch nicht die langfristige Politik von DEC bezüglich Unix. Gerade das Engagement der wichtigsten Computerhersteller IBM und DEC, die eigentlich von eigenen Systemen leben und nicht von Unix, läßt die Spekulation aufkommen, daß der OSF-Eifer nur eine taktische Maßnahme ist, um den Unix-Markt zu verunsichern. Es gibt nämlich eine weitere Unix-Gruppe, die Archer-Group. Dies sind die zu AT&T loyalen Hersteller (Unisys, NCR, Sun, Olivetti, CDC und weitere). Kann später der User wirklich problemlos zwischen Unix V (AT&T und Archerderivate) und OSF wechseln?

Um nur mitreden zu können, und im Zweifelsfalle den Anschluß nicht zu verlieren. Eine Kernfrage in diesem Zusammenhang lautet:

Ist eine echte Herstellerunabhängigkeit überhaupt machbar?

Eine weitere Frage, die sich stellt, ist, inwieweit DEC an einem herstellerneutralen Unix überhaupt interessiert ist.

Abschließend kann man sicherlich sagen, daß DEC großes Interesse an Unix hat. Es sind jedoch viele Aktivitäten von DEC, zum Beispiel Posix oder auch X-Window nicht nur für den Unix-Bereich von DEC von Bedeutung, sondern bringen auch die DEC eigenen Entwicklungen weiter.

DEC hat immer Hard- und Software angeboten, mit denen wir, speziell in Europa, Nicht-08/15-Probleme lösen konnten (Stärke in Forschung und Entwicklung) und die über Jahrzehnte einsetzbar war. Die Stärke von DEC, die PDP und die VAXen, liegt nicht im Kaufpreis dieser Rechner.

"MIPSe" und "GBytes" sind bei anderen Computerherstellern preiswerter zu haben. Das für 1990 geplante OSF-Unix soll auf AIX basieren, einer IBM-Weiterentwicklung von Unix. (Die Lines of Code von AIX sind ein Vielfaches von "Standard"-Unix.) Ultrix, die DEC-Entwicklung von Unix, wäre damit tot, was sich DEC vielleicht noch leisten kann. Will sich DEC im Unix-Bereich nur noch auf das Weiterverkaufen beschränken, ein Unix-Rechner mit fremden Chip (von Mips), wie bei der DEC-Station 3100, und einem Unix-Betriebssystem, das von IBM abhängt? DEC als OEM-Firma ist für eingefleischte DEC-Kenner schwer vorstellbar.

Nachfolger für VAX und VMS sind bereits in Arbeit

Natürlich hat das Unternehmen in der Vergangenheit im peripheren Bereich an Fremdprodukte sein Namensschild gehängt, bei Magnetplatten und Magnetbandlaufwerken, und in jüngster Zeit, zum Beispiel beim TA90-Bandkassettenlaufwerk, das eigentlich ein Original-IBM3480-Laufwerk ist. Dies tut DEC meistens nur so lange, bis es im Hause selbst ein wenigstens adäquates Produkt entwickelt hat.

Es wird zur Zeit von den Offiziellen bei DEC behauptet, die Entwicklergruppe bei Central Engineering sei für Unix ebenso groß wie für VAX/VMS. Nehmen wir an, diese Aussage wäre richtig. Auch dies läßt sich verschieden interpretieren. Eine Variante könnte lauten:

Etwa 50 Prozent der Entwickler im Central Engineering arbeiten an VAX/VMS und etwa 50 Prozent an Unix.

Es gibt auch noch eine weitere Variante: Es arbeiten an VAX/VMS und Unix gleichviele Entwickler. Jedoch ist eine beträchtliche Anzahl von Ingenieuren mit der Entwicklung eines komplett neuen Systems beschäftigt.

Einige Argumente sprechen dafür, daß letztere Interpretation nicht unmöglich ist:

- Die VAX-Rechnerfamilie ist schon seit 1978 auf dem Markt

- Es wird/wurde eine Architektur-Erweiterung durchgeführt, um den, dem Benutzer wirklich verfügbaren, Adreßraum zu vergrößern.

- Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von "begnadeten" Entwicklern, die in der Lage sind, eine neue Rechnerarchitektur (einschließlich einem dazu passenden Betriebssystem) zu entwickeln. Da Pflege und Anpassung von guter Software nicht so personalintensiv ist, kann man auf eigene erfolgreiche Entwickler zugreifen.

- Die 5 x 5-Theorie. Sie besagt, daß etwa fünf Jahre notwendig sind, um aus einer vagen Idee eine Produktidee zu entwickeln, daß weitere fünf Jahre benötigt werden, um aus dieser Produktidee ein kommerzielles Massenprodukt zu machen, und zirka fünf Jahre lang dieses Massenprodukt verkauft werden kann, zirka fünf Jahre dieses Massenprodukt nach merklichen Verbesserungen noch weiter verkauft werden kann und schließlich zirka fünf Jahre verbleiben, um vom Markt genommen zu werden.

Nach dieser Theorie wird an einem Nachfolger für die VAX-Rechnerfamilie schon gearbeitet.

- Die Väter der VAX arbeiten nicht mehr bei DEC,

- Der Vater von VAX/VMS, Dave Cutler, arbeitet jetzt bei Microsoft.

(Entwickelt vielleicht Microsoft zusammen mit AT&T unter Projektleitung von Dave Cutler ein neues Unix?)

Es ist schwer vorstellbar, daß DEC sich für das, was wir heute unter Unix verstehen, mit demselben Aufwand engagiert, wie bei der Entwicklung von VAX/VMS (in Relation zur heutigen Fähigkeit von DEC).

Spekulieren wir noch etwas in Richtung Nachfolge für VAX/VMS. Ohne den Unix-Anwendern und Unix-Fans zu nahe treten zu wollen ist die Kombination VAX/VMS dem Ultrix oder auch einer anderen Variante von Unix, eingesetzt auf einer VAX, überlegen, wenn man seine Prioritäten setzt auf

- Datensicherheit

- Software-Ergonomie

- Ausnutzung der Hardware durch das Betriebssystem

- Realisierung des Clusterkonzeptes.

Was würden die DEC-Anwender von einem Nachfolgeprodukt von VAX/VMS verlangen:

-Es muß besser als VAX/VMS sein, das heißt wenigstens der Level B der Sicherheitsforderungen aus dem Orange Book (Standardwerk zur Klassifizierung der Sicherheit eines Betriebssystems) erreichen.

Größere Sicherheit im Netzwerk als bei Decnet.

- Mögliche Hardwareunabhängigkeit, so daß Rechnerdesign von RISC bis CISC unter dem gleichen Betriebssystem, optimiert nach der Anwendung, eingesetzt werden können.

- Einen "Compabilitymode" für einen weit verbreiteten Unix-Standard.

Die jetzige Unix-Situation kann nur eine Übergangszeit sein. Entsprechend kann das Engagement von DEC in das jetzige Unix auch nur begrenzt sein. Natürlich kann der Kunde bei DEC auch das kaufen, was man zur Zeit unter Unix versteht.

DEC engagiert sich zur Zeit auch sehr in Posix, einem Vorschlag vom IEEE für einheitliche Schnittstellen zwischen Betriebssystemen und C-Anwendungen. Aktivität auf diesem Gebiet läßt Herstellern wie DEC ihre Individualität behalten und verhindert trotzdem nicht den direkten Wettbewerb. Dieses Engagement von DEC ist meiner Meinung nach viel überzeugender als Ultrix-Bekenntnisse, wenn man die bisherige Firmenentwicklung von DEC berücksichtigt.

Natürlich dürfen wir auch nicht die Mitgliedschaft von DEC in der X/Open-Gruppe vergessen. Die X/Open-Gruppe will das Window-System X-Window, auch unter dem Kürzel X. 11 bekannt, durchsetzen, einen Standard zur hardwareunabhängigen Übertragung von grafikorientierter Software. In der X/ Open-Gruppe sind viele namhafte Computerhersteller aktiv, etwa IBM, DEC, HP, AT&T, SUN, Siemens. Hier sitzen teilweise die Mitglieder aus beiden Unix-Gruppen, OSF und Archer-Group, gemeinsam an einem Tisch.

Die Ergebnisse aus dem Engagement in der X-Open-Gruppe bringen aus der Sicht von DEC nicht nur Vorteile für Unix, sondern auch für VAX/VMS und ein zukünftiges Betriebssystem.

Eine einheitliche, grafisch orientierte Benutzeroberfläche für Ultrix VAX/VMS und MS-DOS ist für DEC-Anwender ein Wunsch, der bald in Erfüllung gehen wird (DEC-Window auf der Basis von X-Window).