Nicht nur Westfirmen werden absahnen können

DDR hat einen Riesenbedarf bei der Datenkommunikation

15.06.1990

Aus dem Rückstand der DDR bei Geräten, Einrichtungen und Strukturen der Telekommunikation resultieren neben einem riesigen Nachholbedarf auch Entwicklungschancen für die Wirtschaft, wie Ulrich Kranz* feststellt.

Die DDR steht bei den Text- und Datendiensten mit 5000 Anschlüssen auf Platz 40 der Weltrangliste; 13 000 vorliegende Anträge auf Datenanschlüsse wurden bisher nicht realisiert. Zwar gab es Ansätze, ein X.25-Forschungsnetz zwischen der Akademie der Wissenschaften und dem VEB Robotron auch für die Wirtschaft zu nutzen, jedoch hat sich dieses als nicht ausreichend erwiesen. Vor allem fehlte bisher die Möglichkeit internationaler Kommunikation unter Nutzung bereits existierender Paketvermittlungs-Netze in 70 Ländern der Erde.

Seit längerem gibt es zwar den Plan, in der DDR ein dem Datex-P entsprechendes X.25-Netz auf Basis der Siemens EWSP-Technik zu errichten, was jedoch bisher an der Cocom-Liste scheiterte. Da zu erwarten ist, daß diese Embargo-Bestimmungen kurzfristig für die DDR und weitere Ostblockstaaten fallen, wird nunmehr angestrebt, bereits im Juni 1990 mit der Errichtung eines Datex-P-Netzes für die DDR zu beginnen. Im Endausbau sollen acht bis zehn Knotenrechner dieses Netz mit einer flächendeckenden Grundstruktur steuern. In Berlin, Dresden, Chemnitz und Leipzig werden die ersten vier Netzkontroll-Zentren kurzfristig errichtet.

Durch den Aufbau dieses Datex-P-Netzes können sich für die DDR-Wirtschaft entscheidende Impulse ergeben. Voraussetzung ist gleichwohl, daß sich zum Beispiel die Kreditinstitute in der DDR schnell mit den entsprechenden Systemen in der Bundesrepublik vernetzen. Das gleiche gilt für die abgeschlossenen und geplanten Industrie-Kooperationen zwischen Firmen in der DDR und der Bundesrepublik.

Der Ausbau von Text- und Datendiensten ermöglicht auch östlich der Elbe Angebot und Nutzung von Informations- sowie Mehrwertdiensten durch private Unternehmen. Die Informationsdienste umfassen den preiswerten Zugang zu Technologiedatenbanken, Firmenauskünften und Börsendaten. Sogenannte Mehrwertdienste sind durch die Angebotssektoren elektronische Post, elektronischer Dokumentenaustausch mittels Edifact sowie elektronische Autorisierung und Abrechnung von Kreditkarten gekennzeichnet. Gerade Systeme für Point-of-Sales, welche sich zur Zeit in der Bundesrepublik in Entwicklung befinden, werden bald auch in der DDR eingesetzt.

Die Möglichkeit, daß auch kleine Unternehmen und Handwerker die Dienste der Textkommunikation ohne Einschränkungen preisgünstig nutzten können, wird die Wirtschaft der DDR stimulieren. Neben dem Telex- und dem Fax-Dienst kann hier Bildschirmtext (Btx) eine große praktische Bedeutung erlangen.

Die Deutsche Post plant, bis Ende 1990 ein Overlay-Netz für den Fernsprech-Dienst zu errichten. Die höhere Übertragungs-Qualität ermöglicht den Datenverkehr über Modem und Fax sowohl innerhalb der DDR als auch grenzüberschreitend. Auch das Telex-Netz soll hinsichtlich seiner Leitungskapazität ausgebaut werden, so daß zukünftig keine Engpässe mehr in der Kommunikation zwischen den deutschen Staaten auftreten können.

Für Bildschirmtext sollen freie Kapazitäten der Zentrale in der Bundesrepublik genutzt werden. Hier ist vorgesehen, daß Nutzer aus der DDR als sogenannte Fremdteilnehmer am Btx-Dienst teilnehmen können. Ein Versuchsbetrieb des Dienstes in der DDR soll noch im Juni 1990 anlaufen.

Btx-Nutzung in der DDR ist besonders wichtig

Nach der Einrichtung besserer Fernsprech-Leitungen ist die schnelle Verbreitung des Mediums Bildschirmtext besonders wichtig. Dabei sollten für potentielle Anwender in der DDR die gleichen Anschlußbedingungen wie in der Bundesrepublik gelten: Nutzung zum Ortstarif bei einer Grundgebühr von acht Mark.

Btx hat heute hierzulande mehr als 220 000 Teilnehmer. Rund 3200 Anbieter stellen Informationen auf mehr als 690 000 Seiten zur Verfügung. An das Btx-System sind 384 externe Rechner angebunden, auf deren Datenbanken jeder Btx-Teilnehmer zugreifen kann. Das System verarbeitet monatlich fünf Millionen Anrufe; die Tendenz ist steigend.

In der Bundesrepublik gibt es bereits Informationsangebote im Bildschirmtext zum Thema DDR. Neben Reiseveranstaltern, die umfassende Touristikinformationen bereitstellen, bietet die Deutsche Bank einen Bezugsquellen-Nachweis "Lieferanten in der DDR", in dem bereits heute 5000 Betriebe und Kombinate erfaßt sind. Btx-Teilnehmer in der Bundesrepublik haben Zugriff auf diese Datenbank und können sich somit ständig über Bezugsquellen in der DDR informieren. Außerdem bietet der Handelsblatt-Verlag im Rahmen des Genios-Datenbankservice über Btx eine speziell für die DDR eingerichtete Kooperationsdatenbank an.

Wie groß das Absatzpotential für Endgeräte und Dienste der Telekommunikation ist, läßt sich an einem Zahlenvergleich der Telekommunikations-Anschlüsse in der Bundesrepublik und der DDR verdeutlichen. Die folgende Abschätzung der Marktpotentiale setzt voraus, daß sich die Anschlußzahlen in den beiden deutschen Staaten relativ zur Bevölkerungszahl auf einen Gleichstand hin entwickeln werden:

Das Potential für den Absatz von Telekommunikations-Endgeräten ist theoretisch sehr groß. Nicht nur der Nachholbedarf von 6,4 Millionen neuen Telefon-Hauptanschlüssen und

210 000 Nebenstellen-Anlagen, sondern auch die Ersatzbeschaffung für die vorhandenen total

veralteten Einrichtungen ist dabei in Betracht zu ziehen. Ebenfalls sind viele Fernschreib-Anschlüsse zu ersetzen.

Bei Fax, Btx und Datenanschlüssen muß auch der Markt nach Errichtung der notwendigen Netz-Infrastruktur schnell versorgt werden. Der Einsatz von Arbeitsplatz-Computern als universelle Endgeräte für die Telekommunikation dürfte dabei eine herausragende Rolle spielen. Daraus resultiert ein großer Bedarf an Modems, Fax-Karten und X.25-Paketvermittlungs-Schnittstellen in der DDR.

Aber nicht nur westdeutsche Firmen werden auf diesem Markt "absahnen" können. Dagegen sprechen schon die vielen eingeleiteten Kooperationen zwischen ost- und westdeutschen Unternehmen. Vielmehr sollen in der DDR neue Fertigungsstraßen für Telekommunikations-Endgeräte errichtet werden. Eine solche Entwicklung hätte mehrere positive Aspekte:

1. Durch den Nachholbedarf der DDR könnte sich eine gesamtdeutsche Telekommunikations-Industrie wegen günstigerer Stückkosten-Degression eher gegen Billigimporte auf dem Weltmarkt durchsetzen.

2. Der Gerätebedarf in der DDR ließe sich damit zu günstigeren Preisen decken.

3. In der DDR würden Arbeitsplätze geschaffen beziehungsweise gesichert. Diese Arbeitsplätze sind in der Produktion, im Handel und Service sowie in der Beratung und Schulung, im weiteren Ablauf auch in der Entwicklung zu schaffen.

In der Bundesrepublik sind bereits ein Viertel aller Haushalte an das Kabelnetz der Deutschen Bundespost zur Verteilung von TV-Programmen angeschlossen. Dies entspricht etwa sechs Millionen Wohnungen. In der DDR empfangen 52 Prozent der Einwohner Westprogramme mit guter Qualität; 48 Prozent haben dagegen einen schlechten oder gar keinen Empfang des West-TV. Ebenfalls 52 Prozent der DDR-Fernseher sind an Großantennen-Anlagen angeschlossen, von denen es mehr als 40 000 Stück gibt. Es existiert ein großer Markt für Satelliten-Empfangsanlagen, einige davon sind schon auf Dresdens Dächern zu sehen: In der Umgebung sollen zirka 2000 Anlagen installiert sein. Die Deutsche Bundespost Telekom will die Verbreitung von Satelliten-Empfangsanlagen für Westprogramme fördern und den normalen Empfang von Westfernsehen durch Richtfunkstrecken in das sogenannte "Tal der Ahnungslosen" - ARD heißt nach populärer DDR-Diktion auch noch "Außer Raum Dresden" - kurzfristig ermöglichen.

Handel und Produktion auf dem TV-Sektor in der DDR werden in Schwung kommen, vorausgesetzt, die dortige Kaufkraft hält mit dem Angebot Schritt. Auch hier ergeben sich also zusätzliche Arbeitsplätze. Darüber hinaus plant die Deutsche Post bereits, neueste Breitband-Verteiltechnologie im Rahmen eines Pilotprojekts in Leipzig auszuprobieren. Es handelt sich dabei um die TV-Verteilung mittels Glasfaser, international unter der Bezeichnung "Fiber to the home" bekannt.

Diese Chancen können aber nur wahrgenommen werden, wenn sich die Menschen begeistern lassen. Hier kann der Staat nicht verordnen, sondern nur noch Hilfe zur Selbsthilfe durch Förderung von Aus- und Weiterbildung sowie durch projektgebundene finanzielle Entwicklungsförderung geben. Dabei kommt der Zusammenarbeit zwischen den Wirtschaftsbehörden, den zukünftigen Ländern der DDR und der Privatwirtschaft entscheidende Bedeutung zu.