Daten- und Prozessmodelle gewinnen an Bedeutung Massanzug oder Stangenware - auf die Mischung kommt es an Von Henning Plath*

09.09.1994

Eine prozessorientierte Organisation benoetigt Software, die definierte Ablaeufe bestmoeglich unterstuetzt. Offene, modular aufgefaecherte Standardsoftware kann dazu ebenso beitragen wie eine anwendergerechte, leicht anpassbare Individualloesung. Eine entscheidende Rolle kommt kuenftig der unternehmensweiten Daten- und Prozessmodellierung zu.

Ueberkommene DV-Architekturen und Softwaresysteme erweisen sich momentan in vielen Unternehmen als Hemmfaktor. Sie bilden zumeist die tayloristisch gepraegten Organisationsstrukturen der Vergangenheit ab. Anwender verlangen jedoch heute hohe Flexibilitaet, schnelle Reaktionen auf geaenderte Anforderungen, Servicebereitschaft und Termintreue.

Anders gesagt: Unternehmen und Mitarbeiter muessen lernen,

"hart am Kunden zu segeln". Ein Grossteil der installierten DV- Programme zeigt sich freilich in der "steifen Brise", die auf den Kaeufermaerkten unserer Zeit herrscht, allenfalls als bedingt tauglich - und gar oft genug als "nicht wetterfest".

Mit kurzfristig eingeleiteten Re-Engineering-Massnahmen im Softwarebereich laesst sich das Unternehmensschiff kaum wieder auf Erfolgskurs steuern. Die Probleme liegen tiefer. Namhafte Konjunktur- und Marktforscher orteten in der Rezession die unzureichende Kundenorientierung in allen Geschaeftsfeldern als zentrale Schwachstelle vieler Firmen. Dieses Manko gilt es zu ueberwinden, wobei - dies betonen Marktforscher von Gartner Group und IDC gleichermassen - grundsaetzlich darueber nachzudenken ist, wie die Leistung eines Unternehmens erstellt und vermarktet wird.

Es muss nicht immer ein "Quantensprung" her

Von "Quantenspruengen" muss nicht immer die Rede sein, doch soviel ist klar: Gefordert sind flexible, prozessorientierte Organisationen, die sich vom Taylorismus abkehren und Funktionsabgrenzungen sowie Hierarchie-Ebenen aufheben. Die Mitarbeiter muessen bedarfs- und nutzenbezogen im Team arbeiten und ihre Aufgaben nach einer ganzheitlichen Ausrichtung erledigen.

Erst auf dieser organisatorischen Basis koennen Unternehmen mit Hilfe der Informationstechnologie den wechselnden Marktanforderungen entsprechen und Praeferenzen bei den Kunden wahrnehmen. Dedizierte Softwareloesungen zur Information, Steuerung und Entscheidungsfindung unterstuetzen diesen Prozess heute optimal.

Die organisatorische Umgestaltung im Sinne der Prozessorientierung ist vor allem in grossen Unternehmen voll im Gang, wenn auch die Neustrukturierungen erst in einiger Zeit greifen werden. Auf fast allen Maerkten setzen sich eine ausgesprochene Dienstleistungsmentalitaet und Bedarfsausrichtung durch. Immer mehr Unternehmen - allen voran Anbieter mit Servicecharakter - offerieren Gesamtloesungen im zielgruppengerechten, bedarfsnahen Zuschnitt.

Bedarfsausrichtung setzt sich weiter durch

Einige Beispiele: In der Touristikbranche kombiniert man freie Hotelkontingente mit Tarifen der Fluggesellschaften und Zusatzprogrammen lokaler Service-Unternehmen. Firmen des Transportgewerbes teilen die Gesamtwegstrecken fuer einzelne Frachtstuecke auf die jeweils spezifischen Leistungen von Speditionen, Reedereien, Fluggesellschaften und Lagerhaeuser auf. Unter Finanzdienstleistern gilt das "Cross Selling" als Wunderwaffe des Marketings: Bankdienstleistungen, Versicherungen, Kreditvermittlungen, Immobilienberatungen und Kreditkartenofferten gehoeren in den Zugriffsbereich des Kundenberaters in jeder Niederlassung.

Solche Produkt- oder Leistungsangebote setzen eine anpassungsfaehige und reagible informationstechnische Unterstuetzung voraus, die obendrein einen an der Marktbasis ausgerichteten Entscheidungsspielraum vorsieht. Will ein Verkaeufer seinem Kunden etwa Liefertermine fuer ein Auto, eine Maschine oder eine Kuecheneinrichtung nennen, sollte er per Computernetz direkt ins Lager oder in die Produktion "sehen" koennen. Zugleich braucht er die Kompetenz fuer die Abgabe verbindlicher Zusagen.

Aehnliches gilt fuer den Finanzberater, der in einer Bankfiliale eine Anlageempfehlung abgibt oder eine steuerlich guenstige Finanzierung offeriert. Auch ihm muss am Bildschirm sowohl der Kauf von Wertpapieren als auch die Kreditabwicklung fuer seinen Kunden unmittelbar moeglich sein.

In der gegenwaertigen konjunkturellen Erholungs- und Wachstumsphase, in der Unternehmen die extremen "Lean-Pfade" allmaehlich verlassen und gewillt sind, Etats fuer informationstechnisch gestuetzte kundenorientierte Konzepte und Massnahmen freizugeben, stellt sich die Frage nach der richtigen, naemlich markt- und erfolgsjustierten, Software. Die von den Informations- und Kommunikationstechnologien unterstuetzte Prozess- und Kundenorientierung wird um so konsequenter und nachhaltiger moeglich, je praeziser die dahinterstehenden Softwaresysteme die Bedarfsprofile des Marktes - also die Wuensche der Kunden - abbilden.

Diese Tatsache fuehrt zwangslaeufig zu der Problematik, in welchen Anwendungsfaellen Standard- und in welchen Individualsoftware zum Einsatz kommen soll sowie wann die Verknuepfung geeigneter Teilkomponenten sinnvoll ist. Prinzipiell ist dazu festzustellen, dass Unternehmen Standardpakete und firmeneigene Applikationen in der Praxis immer weniger als eindeutig abgrenzbare Alternativen, sondern zunehmend als komplementaer einsetzbare Systeme begreifen und nutzen.

Firmen, die uebergeordnete, auf die Unternehmensziele ausgerichtete Informatikkonzepte verfolgen, ist die strukturelle und funktionelle Verbindung von extern erworbener Standardsoftware und eigenen Individualloesungen laengst selbstverstaendlich. Diese Kopplung ist heute reibungsloser denn je moeglich, weil die offerierten Standardpakete immer leistungsfaehiger, flexibler und skalierbarer werden. Der in der Vergangenheit oft sehr hohe Anpassungsaufwand hat sich bereits deutlich reduziert. Kommt noch das schlagende Standardargument hinzu: Der Kaeufer eines solchen Programmpakets kann auf die Erfahrungen vieler Pilotanwendungen zurueckgreifen. Er entwickelt sie weiter, anstatt unbeabsichtigt einen unzureichenden Status quo festzuschreiben.

Standardsoftware "von der Stange" laesst sich ueberall dort ohne Adaptionsaufwand einsetzen, wo ein gesetzlicher, formaler oder funktionell-organisatorischer Ordnungsrahmen vorgegeben ist. Das betrifft etwa die Buchhaltung, die Lohn- und Gehaltsabrechnung oder die Produktionsplanung und -steuerung. Die Grenzen sind dort erreicht, wo es darum geht, spezifische Kundenbeduerfnisse und Marktgegebenheiten abzubilden. Das geschieht etwa im Rahmen von Werbe- und Marketing-Aktivitaeten, in der direkten Akquisition oder bei Vertriebsmerkmalen.

Moderne, modular gegliederte Standardloesungen erlauben dank ihres hohen Reifegrads, ihrer problemlosen Wiederverwendbarkeit und ihres breiten Abdeckungsspektrums die Integration in prozess- und bedarfskompatible Unternehmens- und Vertriebsstrategien. Am Beispiel der R/3-Software von SAP wird beispielsweise deutlich: Wenn Standardsoftware so geschrieben ist, dass sie sich betrieblichen Erfordernissen entsprechend skalieren laesst, kann man sie gewinnbringend einsetzen.

Die Strategie der SAP erscheint eindeutig: Der Anwender erhaelt kleine Pakete, die vom ersten Tag an startbereit sind - um deren Einbettung in heterogene Umgebungen hat er sich jedoch selbst zu kuemmern.

Strategisch versierte Informationsmanager haben ein Gespuer dafuer, wann es sich lohnt, Standardpakete quasi wie "Halbfertigfabrikate" als Basis fuer individuell zugeschnittene Erfolgsprogramme zu nutzen. Andererseits kann es ebenso sinnvoll sein, Individualloesungen zu schaffen, die eine groesstmoegliche Kundennaehe garantieren und Konkurrenz abwehren.

Die Bedeutung des Informationsmanagers im Unternehmen waechst. Er kann eng mit den Marketiers operieren, wenn es etwa darum geht, eine groesstmoegliche Flexibilitaet in der Kundenbetreu-ung zu erreichen, die Auskunftsfaehigkeit zu verbessern oder die Angebotserstellung zu optimieren. Ebenso nimmt er verstaerkt Einfluss auf die Produktgestaltung oder das Lieferwesen. War bislang von Industriestandards oder von der Individualitaet des Bankgewerbes die Rede, so werden kuenftig alle Branchen Bekanntschaft mit Semistandards machen. Die Offenheitsdebatte zieht sich auch durch die Softwarewelt.

Beim Erstellen individueller Softwareloesungen ist es heute selbstverstaendlich, ingenieurmaessige Methoden einzusetzen. Sie sollen dazu beitragen, die angestrebte Qualitaet und kundenorientierte Funktionalitaet sicherzustellen und den angepeilten Zeit- und Kostenrahmen nicht zu ueberschreiten. Nur dann wird man es mit Softwareprodukten zu tun haben, die bis in die kuenftige Wartung hinein fuer ein optimales Anwendungs- Management geeignet sind.

Worauf kommt es bei einer Anwendungsentwicklung, die diesem Anspruch gerecht werden soll, hauptsaechlich an? Zu nennen ist in erster Linie eine Vorgehensweise, die bei Planung, Analyse, Entwurf, Realisierung, Re-Engineering, Test und Wartung der Programme ueberschaubar, beherrschbar und kostenmaessig transparent bleibt.

Die Objektorientierung - dies liegt auf der Hand - kann die Kundenorientierung der Anwendungsentwicklung bis auf die Ebene des "near perfect" steigern. Dieser Aspekt ist angesichts der Tatsache von besonderem Gewicht, dass sich immer mehr Entscheidungen, die in einem Unternehmen zu treffen sind, an die Frontlinien im Markt verlagern.

Zurueck zur Grundsatzentscheidung zwischen Individual- und Standardprodukten: Ein markt- und kundenorientiertes Softwarekonzept aufzustellen erfordert, den eigenen Marktauftritt und das vorhandene Produktportfolio zu untersuchen, den wertschoepfungsrelevanten Pfad zu erkennen und die kritischen Geschaeftsprozesse zu analysieren. Dies ist die unentbehrliche Vorbereitungsarbeit, die nicht nur jedem Software- Entwicklungsprojekt, sondern auch jeder Leitentscheidung im Standardsoftwarebereich voranzugehen hat.

Phasenuebergreifende Konzepte sind gefragt

Software-Einkauf und -Entwicklung gehen insofern ineinander ueber. Eine zentrale Bedeutung erlangt die Unternehmensdaten- und Prozessmodellierung. Diese Sicht sollte mittels phasenuebergreifender Konzepte und spezifischer Methoden ueber den gesamten Softwarelebenszyklus reichen und zudem ablauforganisatorische Handreichungen enthalten.

Nur wer sich der Potentiale einzelner Arbeitsablaeufe vergewissert, kann klare Konsequenzen fuer eine organisatorische und insbesondere marktkonforme Gestaltung seiner Applikationslandschaft ziehen und so die Verantwortung ueber den Nutzungsgrad von Individual- und/oder Standardprogrammen ins eigene Haus holen.

Der gegenwaertige Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft fuehrt dazu, dass sich bestimmte Leistungs- und Produktangebote immer mehr angleichen und zu der Notwendigkeit fuehren, dass sich die Differenzierung gegenueber den Mitbewerbern zunehmend auf die Informations-, Service-, Betreuungs-, Beratungs- und Unterstuetzungsebene verlagert. Dabei duerften jene Unternehmen die besten Markterfolge und die groesste Zukunftssicherheit erreichen, die in ihren Softwareloesungen nicht nur kundenorientierten Pragmatismus, sondern vor allem eine gezielte Dienstleistungskultur abbilden.