Das Workplace-Konzept der IBM Big Blues Microkernel ist jedes Betriebssystem rech

03.09.1993

Wie alle Hersteller verfolgt auch IBM derzeit eine ganze Reihe von Betriebssystem-Projekten. Ein nachvollziehbares Konzept ist fuer Aussenstehende nur schwer zu erkennen. Detlef Borchers* zeigt, wie Big Blue versucht, das OS/2-Betriebssystem, die objektorientierte Taligent-Umgebung, Intel-Prozessoren und die Power-PC-Chips unter dem Dach von "Workplace OS" zusammenzufuehren.

Fuer PC-Anwender, die immer noch die Komplexitaet der unterschiedlichen Unix-Derivate fuerchten, existiert als Alternative zu den Microsoft-Betriebssystemen fast nur IBMs OS/2, das nun in der Version 2.1 vorliegt. Es stellt sich jedoch die Frage nach seiner Zukunft. Die Anwender muessen sich ihre Antwort aus einem Informationsdschungel ueber Soft- und Hardware- Entwicklung zusammenreimen.

Als erste Orientierung bietet sich ein Blick auf die existierende Software an - in diesem Falle die bisher straeflich unterschaetzten Betriebssysteme OS/2 2.1 und AIX. Die Perspektiven von OS/2 fuer die naechste Zukunft scheinen durchaus ermutigend. So soll sich das System nach den neuesten IBM-Vorstellungen mit Pen-OS/2 und Netware fuer OS/2 vor allem im Netzwerkbereich weitere Standbeine schaffen. Als Antwort auf Microsofts Windows NT steht zudem eine Multiprozessor-Variante mit der Bezeichnung "OS/2 SMP" kurz vor der Fertigstellung. Gegen Windows for Workgroups soll "PeerOS/2" antreten.

Die mittelfristige Zukunft von OS/2 laesst sich nicht mehr so einfach mit Zusatzfunktionen beschreiben. Falls nicht groessere Codeprobleme IBM zu neuen Versionen zwingen, duerfte es hoechstens noch ein Release 2.2 oder 2.3 geben. Dann wird OS/2 als eigenstaendiges Betriebssystem auf der Intel-Plattform vom Konzept des "Workplace Operating System" (Workplace OS) abgeloest.

Das Workplace OS wird in der IBM-Literatur als Derivat von OS/2 gefuehrt, was die enorme Bedeutung der Neuerung verschleiert. Workplace OS wird anders als die herkoemmlichen PC-Betriebssysteme aufgebaut sein, die fuer eine gewaltige Vielfalt von Operationen zustaendig waren.

Das neue Zauberwort heisst Microkernel-Technologie: Sie ermoeglicht es den Systemherstellern, auf die immer schneller werdende Entwicklung in der Prozessortechnik angemessen zu reagieren. Dabei ist das grundlegende Prinzip des Microkernels (siehe Seite 13) weder neu noch eine IBM-Erfindung. Steven Jobs' objektorientiertes Betriebssystem "Nextstep 486" wird damit ebenso ausgestattet wie Microsofts "Cairo".

An diesem Punkt wachsen die verschiedenen IBM-Projekte zusammen. Sowohl das Workplace OS als auch die Power-Open-Architektur basieren auf der Microkernel-Technik - nur eben mit anderen Voraussetzungen.

Dabei sind neben der Hardware, die grundsaetzlich von Intel und dem Firmenkonglomerat um den Power-PC kommen wird, die sogenannten Personality-Modules der entscheidende Faktor. So wird Workplace OS seine "Persoenlichkeit" in Richtung OS/2 auspraegen, waehrend Power-Open sich am AIX-Unix orientiert.

Wichtig ist, dass neben dem primaeren Modul (das wiederum in eine Benutzeroberflaeche und ein Dateisystem zerfallen kannauch andere Module wie DOS und Windows zugelassen sind. Die volle Bedeutung der Modularisierung kommt erst auf leistungsfaehigen RISC- Prozessoren zum Tragen, wenn die Systemleistungen von DOS/Windows, OS/2, AIX und auch von Apples System 7 "vererbt" werden koennen.

Zwar bildet die Hardwareplattform eine Trennlinie zwischen beiden Produktfamilien, doch im Zeitalter portabler Systeme entsteht dadurch keine unueberschreitbare Huerde. Microkernel sind fuer Intel- Prozessoren sowie fuer den Power-Open, aber auch fuer DECs Alpha- und Mips' R4400-Chip vorhanden, so dass bei der entsprechenden Entschlackung der alten Betriebssysteme der Wechsel zwischen beiden Architekturen problemlos sein sollte.

Der eigentliche Grund fuer die Trennung liegt offensichtlich im unterschiedlichen zeitlichen Ablauf der Hard- und Software- Entwicklung. Da es auf der IBM-Seite bei der Entwicklung des Prozessors um einen Nachfolger fuer die in der Unix-Workstation RS/6000 eingebauten Power-Chips geht, hatte hier die Adaption von AIX eindeutige Prioritaet.

Die OS/2-Entwickler hingegen, lange Zeit mit der Endfertigung der Version 2.1 beschaeftigt, kommen erst jetzt richtig in Schwung. Allzu optimistisch ist die Entstehung des Nachfolgesystems jedoch nicht zu beurteilen. Zwar sollen die grafischen Oberflaechen bereits im Januar 1994 bereitstehen, doch bis das Betriebssystem voll funktionsfaehig ist, duerfte noch ein volles Jahr vergehen.

Dennoch sind die Zielvorgaben bei IBM eindeutig: Workplace OS als OS/2-Nachfolger und Power-Open als AIX-Erbe sind auch vom gesamten Systemumfeld her in das IBM-Angebot eingebettet.

Etwas anders sieht es da mit dem objektorientierten Betriebssystem "Taligent" aus, das einst von Apple unter dem Namen "Pink" gefuehrt wurde. Dieses Produkt sieht man zur Zeit nur auf Strategiepapieren, da die beiden wichtigsten Partner IBM und Apple offensichtlich nicht am gleichen Strang ziehen.

Interpretiert man alle Ankuendigungen der letzten Zeit unter dem Blickwinkel, dass dem Mac-Modul bei IBM offensichtlich nur eine geringe Prioritaet zugestanden wird, so verdichtet sich der Eindruck, dass Taligent fuer IBM vorerst nicht zu den vordringlichsten Planzielen gehoert. Als Zukunftsprojekt erfuellt es eine aehnliche Rolle wie Cairo auf der Seite von Microsoft.

Um Missverstaendnissen vorzubeugen, muss gesagt werden, dass die Entwicklung des Workplace OS sich nicht voellig mit der Abbildung des existierenden OS/2 auf einem Mikrokernel deckt. In Unternehmen wichtige und zur Vernetzung gehoerende Strategien wie DCE und DME, das Distributed Computing Environment und das Distributed Management Environment der OSF, werden in Workplace OS Einzug halten.

Programmierer werden durch Objekttechniken wie SOM (System Object Modelund DSOM (Distributed SOMgelockt, was ungefaehr soviel bedeutet, dass die Objektorientierung nicht auf der Ebene der Programmiersprache abgebildet wird. Hier ist es das Betriebssystem, das die noetigen Dienste bereitstellt, um Bibliotheken anwendungsuebergreifend zu benutzen und zu vererben.

Anwender von Workplace OS sehen von diesen Techniken freilich ebensowenig wie vom Microkernel. Wird dessen Existenz wenigstens beim Booten kurz am Bildschirm angezeigt, so findet sich die Welt der Objekte allenfalls in neuen Anwendungen wieder, die sich als OS/2-Systemordner oder als Erweiterungen in jedem Softwareprogramm ansiedeln.

Was also bringt das Workplace OS? In erster Linie ist dieses System als Einsatzgarantie fuer bestehende DOS-, Windows- und OS/2-Anwendungen zu sehen. Die Aussagen ueber neue und funktionsmaechtige Programme fallen derzeit noch unter die Rubrik Paperware. Die Garantie fuer die Weiterverwendbarkeit der bisherigen Anwendungen ruehrt daher, dass der Anwender die Moeglichkeit bekommen soll, Intel- und Power-PC- Rechner parallel zu benutzen.

Interessant sind die Power-PCs auch aus Kostengruenden. Der Preis fuer die Einstiegsmodelle soll bei 2700 bis 3500 Mark angesiedelt sein. Apple hat, wie es heisst, beschlossen, dass alle Power-PC- Rechner unter den Preisen der Centris-Systeme verkauft werden. Das Workplace OS der IBM ist in dieser Hinsicht klar als Einstiegsdroge in die Power-Welt gedacht, so wie Power-Open fuer die Workstation-Anwender.

Wer sich vom Workplace OS auf Anwenderebene aehnlich grundlegende Erweiterungen erwartet, wie sie OS/2 2.1 gebracht hat, wird zwangslaeufig enttaeuscht sein. Wer so urteilt, erliegt jedoch einem aehnlichen Trugschluss wie jene, die Windows NT als ein neues Windows abtun.

Wichtige Neuerungen wie das Multiprocessing, die den Totalumbau des Betriebssystems erfordern, werden auch auf dem einfachen Desktop eine Rolle spielen. Die Konsequenzen erkennt jeder sofort, wenn er sich einmal vor Augen fuehrt, was Prozessoren in einem reichhaltig ausgestatteten Intel-PC vor allem im Bereich Bus- Mastering zu leisten haben. Einer besorgt die Grafikarbeit, der andere den Festplatten-Cache, der dritte wieder die Kommunikation mit dem Netz, der vierte vielleicht das Modem - all das, ohne dass die CPU ueberhaupt ins Spiel kommt. Diese hat ohnehin genug mit all den neuen Anwendungen zu kaempfen.

Setzt der Anwender nun in diesem Rechnermodell eine Serie billiger gleichrangiger Prozessoren und ein modernes Betriebssytem ein, wird offenbar, dass Programmierer und Anwender sowohl bei der Leistung als auch beim Preis gut bedient sind.

Der Microkernel

In vielen Urteilen ueber DOS findet sich die abschlaegige Bemerkung, das Betriebssystem sei ein "tumber Programm-Loader". Was pejorativ gemeint ist, entpuppt sich bei naeherer Betrachtung als wohldurchdachtes Konzept. DOS laedt ein Programm in den Speicher, gibt ihm Arbeitsspeicher und regelt, was das Programm mit den diversen

I/O-Schnittstellen (Bildschirm, Tastatur, Drucker, Modem, Festplatte etc.) machen darf.

Anders sieht die Arbeit moderner 32-Bit-Systeme wie OS/2 und Windows NT aus. Im Vordergund steht hier die Interaktion mit dem Benutzer ueber eine praetentioese Grafikfuehrung, das Austarieren verschiedener Tasks, die in Zeitscheibchen laufen oder auf verschiedene Prozessoren zu verteilen sind. Da gibt es Programm- Threads unter den Anwendungen, eine komplexe Speicherverwaltung, die Arbeit mit eingebetteten Treibern und schliesslich die unterschiedlichsten Anwendungen. Systeme dieser Komplexitaet an verschiedene, nicht eben einfache Prozessorarchitekturen anzupassen, ist immens aufwendig.

Ein Loesung aus diesem Dilemma wurde von Forschern an der Carnegie Mellon University entwickelt und nennt sich Microkernel. Wie es der Name sagt, ist der Microkernel ein minimalistisches Betriebssystem, das nur fuenf Bereiche steuert: Speicher- Management, Threads und Tasks, die Interprozess-Kommunikation, den I/O und die Interrupts sowie schliesslich die Verbindung zwischen den Prozessoren.

Auf dem Microkernel sitzen in der Regel separate Steuereinheiten. Dazu gehoeren ein sogenannter Master-Server, der authentifiziert und die Benutzung des Kernels freischaltet, sowie ein Pager, der die Verwaltung von Speicherobjekten regelt. Solche Objekte belegen Speicheradressen im herkoemmlichen Sinn. Da der Microkernel die Speicherbereiche abstrakt als Objekte behandelt, ist es zunaechst einmal egal, wie die Speicheradressen hardwareseitig realisiert werden. Der Pager ist auch allein dafuer verantwortlich, wie die Daten letztendlich gespeichert werden.

Auf die Hardware bezogen, ist allein die dritte Steuereinheit des Microkernels, der sogenannte Treibersupport, ueber den "Personalities" wie herkoemmliche Treiber realisiert werden. Die Personalities liegen ueber dem Microkernel und bilden die Schnittstellen zum Benutzer auf der Ebene des "Personality- Systems", vormals Betriebssystem. Der Microkernel, der mehrere Personalities wie DOS, OS/2, System 7 und Unix gleichzeitig verkraften kann, hat eine dominante "Persoenlichkeit".

Tritt ein kritischer Fehler auf, bekommt die Personality eine Nachricht und muss ihrerseits andere laufende Personality-Modules informieren. Bei jedem Task, der von den Anwendungen ausgeloest wird, die auf der System-Personality aufsitzen, trennt der Microkernel ueber den Pager die Systemumgebung von den tatsaechlich ablaufenden Befehlsfolgen. Diese beanspruchen als Threads den Prozessor und koennen auf einem Multiprozessor-System oder einem Parallelrechner an mehreren Stellen gleichzeitig ablaufen.

Doch auch ohne derartige Architekturen steckt im Microkernel Zunder: Wer sich das Schaubild betrachtet, wird schnell sehen, dass die Einsparungen im dunkel hinterlegten Bereich zu finden sind. Stimmen erst einmal die Personality-Modules (an denen zur Zeit gearbeitet wird), so ist die Portierung auf neue Hardwareplattformen vergleichsweise trivial. Ein Komplettsystem wie OS/2, das laut IBM aus vier Millionen Zeilen Programmiercode besteht, gehoert damit der Vergangenheit an.

*Detlef Borchers ist freier DV-Journalist in Osnabrueck