Industrie 4.0 ist Chance und Risiko zugleich

"Das Wettrennen um Betriebsdaten und Plattformen ist in vollem Gang"

20.01.2015
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.

Wir brauchen eine einheitliche Datenschutzlösung für Europa

CW: In Deutschland wird vielen mulmig, wenn es um das Sammeln von Daten geht…

Frank Riemensperger: Das ist nachvollziehbar und wir müssen die Bedenken ernst nehmen und sorgfältig darüber reflektieren, wie personenbezogene Daten verantwortungsvoll gesammelt und ausgewertet werden. Aber wir haben nicht die Zeit, darüber Jahre verstreichen zu lassen. Dann ist der Zug abgefahren! Hier geht es um die Zukunft unserer Leitindustrien. Unser Standort muss in diesem Zukunftsmarkt mitspielen und wird dabei lernen, was verantwortungsvoll machbar ist. Er wird auch Grenzen kennenlernen und Positionen entwickeln.

CW: Wenn wir von Plattformen sprechen, spielt Cloud Computing als zugrundeliegende Technik eine entscheidende Rolle. Der ITK-Markt ist aber weitgehend in amerikanischer Hand und kaum jemand zweifelt, dass die Geheimdienste auch Industriespionage betreiben.

"Ich sammle Daten in den USA für mein Geschäft in den USA"

Frank Riemensperger: Es stimmt, wir brauchen die Cloud für die neuen datengetriebenen Geschäftsmodelle. Wie wollen wir Services zu unseren Produkten überall in der Welt anbieten ohne Cloud-basierende Lösungen? Aber sehen wir uns doch mal an, wo unsere großen und auch mittelständischen Unternehmen ihren Umsatz machen. In den USA, in Asien, dann noch in Afrika und Europa - wenn man mit denen spricht, dann denken die ganz anders darüber. Die sagen: Ich sammle Daten in den USA für mein Geschäft in den USA. Daten werden dort gesammelt und aggregiert, wo vor Ort Geschäfte gemacht werden können. Da wird nicht deutschlandzentriert gedacht.

Wir müssen uns entscheiden, was wir haben wollen: eine auf Deutschland fokussierte Debatte über die Risiken der Digitalisierung oder eine ergebnisorientierte Diskussion darüber, wie wir uns möglichst effektvoll an diesem Wettrennen beteiligen können. Wenn wir nicht mitmachen, wird uns mit Sicherheit ein Teil der künftigen Wertschöpfung weggenommen werden. Ich habe noch keinen Unternehmer gesehen, der gesagt hat, ich verzichte darauf. Es wird kluge Kompromisse geben müssen - und ich wünsche mir mit Blick auf den Datenschutz eine einheitliche Lösung für Europa. Eine europäische Datenschutzverordnung hätte auch weltweites Gewicht.

Frank Riemensperger: "Wenn wir nicht mitmachen, wird uns mit Sicherheit ein Teil der künftigen Wertschöpfung weggenommen werden"
Frank Riemensperger: "Wenn wir nicht mitmachen, wird uns mit Sicherheit ein Teil der künftigen Wertschöpfung weggenommen werden"
Foto: Accenture

CW: Muss man sich beim Industrie-4.0-Thema überhaupt so viele Gedanken um Datensicherheit machen wie bei personenbezogenen Daten?

Frank Riemensperger: Ja, auch dort ist das ein wichtiges Thema. Smart Services sind fast immer auf den einzelnen Nutzer konfiguriert. Vor allem die Anwender der Maschinen und Anlagen, deren Nutzungsverhalten ja analysiert wird, sagen noch oft: Ich gebe meine Daten nicht her.

CW: Welche Industrie-4.0-Szenarien gibt es schon und welche kommen auf uns zu?

Frank Riemensperger: Wir sehen heute schon viele Fälle, wo intelligente Produkte die Fabrik verlassen haben und irgendwo auf der Welt über eine digitale Nabelschnur zum Hersteller Kontakt halten - oder zu einem anderen Unternehmen, das mit den Betriebsdaten etwas anfangen kann. Viel hat mit Remote Monitoring oder Remote Maintenance zu tun. Jetzt geht es weiter mit Themen wie Rund-um-Monitoring, Predictive Analytics oder Predictive Maintenance. Auch Remote Repair oder Remote Service and Support kommen dazu. Die Industrie geht hier gerade einen großen Schritt voran.

Vorsprung für Telcos und Konsumgüter-Industrie

CW: Monetisieren Industrieunternehmen bereits ihre Betriebsdaten?

Frank Riemensperger: Damit ist es noch nicht so weit her. Hier ist die Konsumgüter- und die Telco-Industrie ein paar Jahre voraus. Die wissen schon, wie sich die großen Datenströme in Umsatz verwandeln lassen. Klassische Unternehmen denken im Moment noch eher darüber nach: Wenn ich Daten sammeln kann und die Menschen dahinter verstehe, wie kann ich ihnen dann ein besseres Angebot machen?

CW: Betriebsdaten auszuwerten und daraus neue Produkte zu kreieren, ist ein Geschäftsfeld, das neue Kompetenzen, Tools und Ideen erfordert. Wie organisieren sich Unternehmen für dieses Ziel?

Frank Riemensperger: Das Interesse an technischen Innovationen wächst in allen Unternehmensbereichen, nicht nur in der IT beziehungsweise im CIO-Office. Geht es um die Technologien selbst, kommt der Technikchef ins Spiel, geht es um Kundeninteraktion, Nutzungskonzepte und Oberflächen, ist oft der Marketing-Chef dabei. Das läuft schon ein bisschen Grassroot-artig in vielen Abteilungen.

CW: Gemessen an der Bedeutung von Industrie 4.0 für die deutsche Volkswirtschaft: Hat das Thema eine ausreichend starke Lobby in Politik und Wirtschaft?

Frank Riemensperger: Ich denke schon, und die IT-Branche ist dabei ein ganz wichtiger Treiber. Sie verortet sich in Deutschland gerade ganz neu - nämlich als Enabler unserer Kernindustrien. Das ist eine selbstbewusste, gute Positionierung. IT ist nicht mehr ein Kosten-, sondern ein zentraler Wertschöpfungsfaktor. Da spielt übrigens der Bitkom eine wichtige Rolle, auch die Acatech, die derzeit unter dem Vorsitz von Henning Kagermann und mir im Rahmen des Zukunftsprojekts "Smart Service Welt" gemeinsam mit einem über 150-köpfigen Expertenteam aus 90 deutschen Institutionen der Frage nachgeht: Wie kann es Deutschland gelingen, angesichts der rasant fortschreitenden Digitalisierung neue Wertschöpfung im Internet-basierten Dienstleistungssektor zu generieren?

Was Henning Kagermann hier mit der Acatech leistet, wie er alle einbindet, Industrie, Gewerkschaften, Universitäten und Software-Cluster, Verbände, das ist einmalig. Er schafft es, breit über Stakeholder-Gruppen hinweg die Diskussion voranzutreiben und eine Konsensfindung zu unterstützen. Den Weckruf haben inzwischen alle gehört. Jetzt kommt die zweite Welle: Wie und mit welchen Bausteinen bauen wir die Lösungen, die uns das Leistungsversprechen dann auch einlösen? Es gibt viele, die da mitmachen, nicht nur die Großen.