Supercomputer-Anwendungen in der Automobilentwicklung

Das Verhalten von Bauteilen bereits im Rechner simulieren

22.02.1991

Die Automobilindustrie ist zu einem der Hauptanwender modernster Supercomputer geworden. Der Grund liegt in der gewachsenen Leistungsfähigkeit der Number-Cruncher. Zusätzlich existiert eine Vielzahl von Programmen, die in den führen Phasen der Planung von Automobilen eingesetzt werden können. Thomas Scharnhorst und Rolf Schettler Köhler geben in ihrem Beitrag einen Überblick über den Rechnereinsatz bei der Volkswagen AG.

Bei den Automobilherstellern sind nicht nur kürzere Entwicklungszeiten gefordert, auch der Wunsch nach größerer Produktdifferenzierung und steigender Qualität wird gleichzeitig laut. Deshalb erscheint es zwingend, die notwendigen Entscheidungen früher und noch systematischer herbeizuführen als bisher. Simulationstechniken sind die Hoffnungsträger für die strategischen Herausforderungen in der Automobilentwicklung. So kann ein neues Auto im Rechner entworfen und für die unterschiedlichsten Belastungs-und Komfortanforderungen durch Computerberechnungen voroptimiert werden. Hierfür gibt es erste Anwendungserfolge, die die klassische Versuchsarbeit jedoch nicht überflüssig machen.

Herausforderungen für die neunziger Jahre

Die Möglichkeiten von Berechnungen und Simulationen bestehen in der konzeptionellen Vorverlagerung von Entscheidungen aus der Versuchsphase von Prototypen in frühere Entwicklungsphasen; sie werden durchgeführt, bevor Prototypen gebaut werden oder Werkstattzeichnungen existieren. Dem Computer Aided Engineering (CAE) kommt dabei die Aufgabe zu, das Austesten eines Konstruktionsentwurfs in der Versuchsphase durch Simulationen im Rechner in der Vorentwicklungsphase abzusichern. Gelingt dies, lassen sich Fehlentwicklungen an Prototypen und somit Kosten für falsche Werkzeuge vermeiden. Auch Planungen für Entwicklungszyklen können verkürzt werden, vorausgesetzt, daß der Entwicklungsumfang nicht gleichzeitig zunimmt.

Um das Verhalten wichtiger Konstruktionsauslegungen bereits im Rechner simulieren zu können, müssen Berechnungs- und Simulationsergebnisse rechtzeitig als Entscheidungshilfe bereitstehen. Für die CAE- Aufgabe, prognosefähige Simulationen im Computer durchzuführen, bedarf es außer schnellen Rechnern physikalisch präziser und numerisch stabiler Programme und einer integrierten, verzögerungsfreien Daten- vor- und -nachbereitung. Heute liegt eher hier als in der Rechnerleistung eine Schwachstelle. Notwendig sind auch Ablaufverbesserungen zwischen CAD und CAE-Systemen, das heißt dreidimensionale CAD-Daten in Schnittstellenformaten wie VDAFS oder IGES müssen automatisch zum. Beispiel in FEM-Netze (FEM: Finite-Elemente Methode) umgesetzt werden können. Aber diese systemanatytischen Verbesserungen sind nur ein Teil der eigentlichen Herausforderung für die 90er Jahre, noch stärker und konsequenter konzeptionelle Ideen eines Lastenheftes für ein neues Fahrzeug frühestmöglich, das hieß noch auf der Basis von Vorgängermodellen, im Rechner auszutesten und Zielkonflikte zu bewerten.

Hierzu bedarf es neben der Werkzeuge vor allem der Menschen, die Erfahrung im Umgang mit den neuen Berechnungsmethoden gewonnen haben. Sie sollten in den geistigen Entwicklungsprozeß der Automobilentwicklung integriert sein und den strukturellen Ablauf so gut kennen, daß die Rechnerergebnisse bereits vor dem Bau von Prototypen vorliegen können.

Während des Entwurfsprozessen werden eine Rheie von Berechnungsverfahren eingesetzt, die in die Kategorien finite Elemente, finite Differenzen, Mehrkörpersysteme und Analytik fallen. Dabei liegt der Schwerpunkt - bis auf die Auswertung analytischer Verfahren - auf Näherungsmethoden. Mit fortschreitender Leistungsfähigkeit der Rechner können innerhalb des für industrielle Anwendungen wichtigen Zeitmaßes von acht Stunden Gleichungssysteme mit immer mehr Freiheitsgraden für eine einzelne Anwendung gelöst werden. In erster Näherung minimiert sich der Fehler häufig so sehr, daß Berechnungsverfahren, sofern sie die wesentlichen Einflüsse berücksichtigen, für Ingenieuraussagen hinreichend genau sind. Ob diese Konzepte umgesetzt werden können, wird zuerst in Pilotprojekten geprüft, in denen die Vergleichbarkeit von Berechnungen und Messungen im Vordergrund steht. Sie sollen Vertrauen für diese neuen Möglichkeiten wecken.

Erstmalig mit Erfolg in der Fahrzeugentwicklung eingesetzt wurde die FEM bei Berechnungen der Torsionsfestigkeit von Karosserien. So beispielsweise lassen sich hinreichend genaue Aussagen über eventuelle notwendige Diagonalmaßänderungen in den Fahrzeugtüren treffen, die eine zu starke Verdrehung der Hauptfahrzeugstruktur verhindern können.

Aufbauend auf dem elastomechanischen Finite-Element-Modell der Rohkarosserie werden dabei Schwingungsanalysen zur Ermittlung der Eigenfrequenzen vorgenommen, die im allgemeinen bis 60 Hertz im Vergleich mit Messungen als gesichert, darüber hinaus als interpretationsabhängig einzustufen sind, da die Schwingungsform der Frequenz immer schwieriger zuzuordnen ist.

Ein weiteres Beispiel ist die Innenraumakustik. Hierzu muß ein Modell, bestehend aus Luft, Sitzen und Absorbermaterialien, in das Modell der geschlossenen Karosserie integriert werden. Der Schwingungsfähigkeit der Struktur steht die Schwingungsfähigkeit des im Fahrzeuginnenraum eingeschlossenen Luftvolumens gegenüber. Bei dieser wechselseitigen Interaktion kann in der Modellbildung die Dämpfung des Luftschalls durch poröse Absorberstoffe berücksichtigt werden. Die Struktur wird modal und lokal gedämpft, letzteres zum Beispiel mit Gummieinfassungen.

Die klassische Strukturoptimierung spielt sich in enger Kooperation von Konstrukteur und Berechnungsingenieur ab. Blechdicken- und Gestaltänderungen führen zur bestmöglichen Lösung in begrenzter Zeit. Aber es lassen sich nur wenige Variationen durchspielen. Mit den Mitteln der mathematischen Optimierung wird dieser Prozeß per Iteration im Computer beschleunigt, so daß die Möglichkeit besteht, mehrere Variationen in geringerer Zeit durchzurechnen.

Insassensicherheit vom Computer optimiert

Der Automobilhersteller muß die Sicherheit des Insassen beim Unfall innerhalb bestimmter Geschwindigkeitsgrenzen gegenüber dem Gesetzgeber garantieren. Der Schutz wird im Zusammenspiel von Strukturauslegung und Rückhaltesystem verwirklicht. Allerdings sind Simulationsmethoden in diesem Bereich für den Automobilbau eine noch junge Disziplin, die sich jedoch bereits in ersten Anwendungen bewährt hat, um in den frühen Phasen der Entwicklung prognosefähige Aussagen zum Strukturverhalten der Karosserie zu machen, ohne daß ein Prototyp existieren muß.

Das Finite-Element-Modell bildet die Karosserie und alle wesentlichen Komponenten wie Aggregat und Fahrwerk nach, wobei Geometrie, Blechdicken, Elastizitätsmodul, Streckgrenze und Zugfestigkeit von Stahl in ihren physikalischen Grundgrößen eingegeben werden. Es ist zweckmäßig, zunächst wichtige Komponenten wie Längsträger vorzuoptimieren, um dort möglichst viel Energie durch regelmäßige Faltenbildung umsetzen zu können. Anschließend müssen sich die Komponenten im Aufpralltest der Gesamtkarosserie bewähren. Hierzu muß der Crash-Ablauf, der bei 50 Kilometern pro Stunde in Realzeit etwa 70 Millisekunden dauert, in rund 40 000 Zeitschritte unterteilt werden, um der Physik der Wellenausbreitung in Stahl gerecht zu werden. Ein Supercomputer benötigt hierzu einige Stunden, um einige Stunden, um eine Simulation des Verformungsverhaltnes durchzuführen.

Die Bewegung des Insassen wird derzeit noch in einem getrennten Rechenlauf simuliert, wobei die Qualität der Ergebnisse deutlich zugenommen hat, seitdem erste Crash-Puppen wie Hybrid II und III sehr systematisch in allen mechanischen Größen vermessen wurden. Die Simulation des Aufblasvorgangs eines Airbags und die Ermittlung von Kopf-, Brust-und Beckenverzögerung beim Aufprall der Versuchspuppen auf das Luftkissen sind im Stadium der Methodenentwicklung. Ziel ist es hierbei,

Struktur- und Insassenverhalten in einem einzigen Rechenlauf darstellen zu können.

An die Berechnungskette "Crash-Simulation" werden große wirtschaftliche Erwartungen geknüpft, mit dem Ziel einer Verringerung der Anzahl von nicht geplanten Prototypkarosserien für die Sicherheitsfreigaben.

Es gibt für Berechnungen und Simulationen beeindruckende Erfolge, und dies auf Gebieten, für die vor Jahren prognosefähige Anwendungen unvorstellbar waren. Dennoch handelt es sich noch häufig um Einzelerfolge. Richtig ist auch, daß der Aufwand der Datenvorbereitung und Ergebnisaufbereitung vielfach unterschätzt wird und daß natürlich jedes Modell im Rechner nur ein Abbild der Wirklichkeit ist - den Versuch als Maß aller Dinge kann es nicht ersetzen. Aus Konstruktionssicht heißt es dementsprechend, daß die Berechnungsergebnisse zu spät kommen, aus Versuchssicht, daß es

Fahrzeugeigenschaften gibt, die nur in Versuchen bestimmbar sind und optimiert werden können.

Die Antwort ist in einem am positiven Denken orientierten Handeln zu suchen und setzt die Bereitschaft zur Zusammenarbeit während aller Entwicklungsphasen voraus. Hierbei müssen Versuchsingenieure und Konstrukteure eng mit Berechnungsingenieuren zusammenarbeiten.

Prognosefähige Simulationen in der frühen Phase der Konstruktionsauslegung steigern die Akzeptanz von Berechnungen, wenn zuvor an Serienfahrzeugen über den Vergleich von Messungen Vertrauen in die Leistungsfähigkeit von Computerverfahren aufgebaut worden ist. Prognosefähigkeit erhöht auch die Qualität in der Durchführung, die mit Berechnungsexperten erreicht werden kann.

Integration heißt gegenseitiges Aufeinanderzugehen, aber auch Stärkung und Straffung der Abläufe. Modellbildungen für Karosserie, Fahrwerk und Aggregate müssen so früh wie möglich erstellt werden und auch in Gesamtmodellen vorliegen. Sie sollten vor allem dem Entwicklungsstand entsprechend aktualisiert werden. Nur so kann "just in time" reagiert werden.

Gelingt es, den Rechnereinsatz weiter zu stärken, so daß die investierten Mittel noch stärker als bisher zum Tragen kommen, dann kann die nachfolgende experimentelle Arbeit noch zielstrebiger, wirtschaftlicher und schneller vorangetrieben werden. Gerade dies ist in einer Zeit flexibler Marktanforderungen und zunehmend härterem Wettbewerb unerläßlich.

Für die effiziente Entwicklung noch leistungsfähigerer Fahrzeuge wird der Grad der erreichbaren Integration der elektronischen Werkzeuge, wie Supercomputer und der dazu gehörenden intelligenten Programme, mitentscheidend sein. Es ist eine wirtschaftliche Herausforderung für die Entwicklung neuer Fahrzeuge, aber auch eine Absicherung, damit Entwicklungsziele überhaupt erreicht werden können.