64-Mbit-DRAM: Ohne USA läuft in Europa nichts

Das transatlantische Titanen-Gespann Siemens und IBM soll die japanische Dominanz im Speicherbereich erschüttern

09.02.1990

Mit einem lachenden und einem weinenden Auge betrachten Insider das kürzlich zwischen IBM und Siemens geschlossene Abkommen über die gemeinsame Entwicklung eines 64-Mbit-DRAMs. Sollten die beiden Unternehmen als erste einen solchen Mega-Speicher verfügbar haben, beurteilen Branchenkenner die Auswirkungen auf die europäische Computerindustrie positiv. Allerdings beweist der Schulterschluß zwischen Europa und Amerika für einige hiesige Experten auch, daß der alte Kontinent allein nicht in der Lage ist, ein technologisches Gegengewicht zu den Japanern in die Waagschale zu werfen. Entwickelt werden soll der 64-Mbit-Dynamic-Random-Access-Memory-Baustein (DRAM) im amerikanischen Entwicklungszentrum der IBM in East Fishkill. Dort arbeiten je 50 Mitarbeiter von Siemens und IBM bis Mitte der neunziger Jahre an der Bereitstellung eines produktionsfähigen Multi-Mega-Speichers. Fertigen wollen beide Unternehmen den Baustein, für dessen Verwirklichung sie nach eigenen Angaben etwa eine Milliarde Mark aufbringen müssen, jedoch jeder für sich. Für die Entwicklungsdauer ist ein ständiger Technologie-Transfer zu beiden Partnern vorgesehen, damit jeder immer auf dem neuesten Stand ist.

Die vor zwei Wochen bekanntgegebene Kooperation beinhaltet eine Klausel, die beide Unterzeichner verpflichtet keine ähnlichen Abkommen mit japanischen Unternehmen einzugehen. Nicht zuletzt dadurch wollen die Vertragspartner sicherstellen, daß die fernöstliche Konkurrenz ihnen nicht das Wasser abgräbt.

Falls überhaupt, können Siemens und IBM das japanische Quasi-Monopol bei Memory-Bausteinen nur dann ankratzen, wenn sie den Chip als erste und in genügender Stückzahl in den Markt drücken. Das allerdings hält der Münchner Chip-Broker Erich J. Lejeune nicht für möglich: "Der Boß bleibt weiterhin in Japan", kommentiert er die möglichen Auswirkungen des Entwicklungsabkommens zwischen IBM und Siemens. Er glaubt nicht an eine Erschütterung der japanischen Vormachtstellung.

Mit dieser Einschätzung steht Lejeune nicht alleine da, muß doch die kürzlich verkündete Kooperation zwischen Siemens und IBM bei der Entwicklung eines 64-Mbit-DRAMs vor dem Hintergrund des westlich-fernöstlichen Konkurrenzkampfes gesehen werden. Nippons Halbleiter-Fabrikanten produzieren heute etwa 65 bis 70 Prozent des Welt-Speicher-Bedarfs. Bei hochintegrierten Chips erreichen sie sogar einen Anteil zwischen 80 und 90 Prozent.

Die IBM ihrerseits ist zwar der größte einzelne Speicherhersteller, aber bis heute produziert Big Blue nur für den Eigenbedarf. Der zukünftige europäische Memory Partner Siemens will in diesem Jahr seine 1-Mbit-Produktion auf 45 Millionen Stück hochschrauben, kommt aber beim 4-Mbit im Jahr 1990 noch nicht über die Millionengrenze hinaus. Zum Teil kooperieren die drei anderen großen amerikanischen Memory-Produzenten bereits mit Japan: Motorola mit Toshiba; und Intel hat nach gerade vollzogener Liquidation des amerikanischen Chip-Konsortiums U.S.-Memories mit dem japanischen Hersteller NMB ein DRAM-Joint-venture geschlossen. Nur Texas Instruments ist noch ohne Partner aus Fernost.

Im Prinzip begrüßt Lejeune das deutsch-amerikanische Abkommen - "den Europäern tut es gut, wenn die Japaner Konkurrenz bekommen" - aber er glaubt nicht, daß es IBM und Siemens schaffen, den Multi-Mega-Speicher als erste auf den Markt zu bringen: "Die Japaner werden den 64-Mbit zuerst liefern, denn in den dortigen Labors wird mit allen Kräften daran gearbeitet." Zur Untermauerung seiner These weist der Chip-Broker auf bereits vorhandene Muster des 16-Mbit-Chips in Japan hin.

Für ihn sind die Söhne Nippons dem Rest der Welt technologisch allerdings noch weiter voraus: " In Zukunft kommen ganz andere Dinge auf uns zu. Nach dem 64-Mbit stehen irgendwann die Molekulartechnologie und Neuro-Computer ins Haus. Auf diesen Feldern sind die Japaner bereits intensiv tätig. Bei uns hat man dagegen noch kaum begonnen." Lejeune zufolge haben die Japaner außerdem längst das Streben der Europäer und Amerikaner erkannt, sich selbst mit Speichern versorgen zu wollen. Deshalb dehne man in Fernost bereits die Anstrengungen auf anwendungs- und kundenspezifische Bauelemente aus.

Das Motiv des transatlantischen Bündnisses faßt der Münchener so zusammen: "Europäer und Amerikaner rücken stärker zusammen, weil sie von den gleichen Nöten geplagt werden." Er hält es aber für unwahrscheinlich, daß die IBM im Erfolgsfall ihre Mega-Speicher auf den Markt bringt und so eine weitere Quelle den Zugang zu den höchstintegrierten Bausteinen für andere westliche Hersteller erleichtert.

Hartmut Fetzer, im Nixdorf-Vorstand zuständig für Forschung und Entwicklung, hält das hingegen für durchaus möglich: "Meiner Meinung nach bemüht sich die IBM, ihre Technologie auch außerhalb der eigenen Endbenutzersysteme zur Verfügung zu stellen." In einem solchen Fall würden sich die Armonker jedoch auf "ein paar große strategische Abnehmer" konzentrieren. Insgesamt beurteilt Fetzer das Abkommen positiv: "Ich glaube, daß das zu erwartende Ergebnis zusammen mit den Jessi-Planungen in eine Dimension kommt, die eine wirksame Kraft gegen die Japaner entstehen lassen könnte." Big Blue ist seiner Meinung nach das einzige Unternehmen, welches wegen seines Volumens und dem Stand seiner Technologie den japanischen Herstellern Paroli bieten kann. "Wenn diese Technik dem allgemeinen Markt zur Verfügung gestellt werden kann", sagt Fetzer über den 64-Mbit, " dann halte ich das für eine gute Sache. Dieses Abkommen ist zwar nicht gleichzusetzen mit einer rein europäischen Lösung, aber die Abhängigkeit von zwei Anbietern ist doch schon sehr viel geringer zu bewerten als die von einem."

Eine neue Dimension der Konzentration kann Fetzer in der Vereinbarung der beiden Riesen nicht erkennen: "Ich halte das für eine technologische Kooperation und betrachte beide Unternehmen in diesem Fall nicht als Computerhersteller, sondern als Beteiligte im Bauelemente-Markt." Der Nixdorf-Entwicklungschef sieht auch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die entstehende Siemens/Nixdorf Informationssysteme AG, wenngleich er eine eventuelle frühe Verfügbarkeit des 64 Mbit-Chip als eine "wichtige Absicherung der Pläne im Computerbereich" umschreibt.

Gerhard Adler, Vorsitzender der Geschäftsleitung bei der Diebold Deutschland GmbH, begrüßt die Kooperation aus zwei Gründen: Wegen der sicheren Versorgung mit Chips und wegen der "generellen Unabhängigkeit von anderen Herstellen, besonders von den Japanern". Für Adler macht es keinen Unterschied, ob Siemens das Wagnis allein unternimmt oder sich mit IBM das Kostenrisiko und die Gefahr des Scheiterns teilt: "Andere Europäer können diese Technologie dann in Lizenz erwerben, oder Siemens und andere können darauf

aufbauen und weitere Technologien - beispielsweise für Prozessorchips oder Asics - entwickeln." Das Beherrschen der Fertigungstechnologie ist für Adler vorrangig. Die Gefahr, daß die im Computersektor eher schwachen Europäer Schlüsseltechnologien mit den viel stärker im Markt präsenten Amerikanern teilen, schätzt Adler dagegen gering: "Know-how-Zufluß kann immer nur nützen." In diesem Wissenszuwachs erkennt Adler auch den eigentlichen Sinn der Vereinbarung: "Wenn man den Input dazu benutzt eigenes Know-how aufzubauen.''

Die vielzitierte Front, die Amerika und Europa gegen die Japaner aufbauen, bewertet Adler eher als Spiel mit wechselnden Koalitionen. "Die Zurückbleibenden verbünden sich gegen den Führenden. In dem Moment, wo wir mit den Amerikanern die Japaner überholen und USA möglicherweise die Nummer eins wird, sind Abkommen mit den Japanern denkbar."

Davor allerdings scheuen sowohl Amerikaner als auch Europäer zurück. Für den deutschen "Papst" der Mikroelektronik und Aufsichtratsvorsitzenden des Türkheimer PC-Herstellers Schneider, Ingolf Ruge, liegt gerade in der Angst, von den Japanern "über den Tisch gezogen zu werden", ein wesentlicher Grund für die Verbindung zwischen Siemens und IBM: "Beide Unternehmen trauen den Japanern nicht, obwohl jetzt schon abzusehen ist, daß die mit großer Wahrscheinlichkeit den 64-Mbit stemmen werden." Daß Siemens und IBM erfolgreich sein werden, ist für ihn dagegen nicht unbedingt sicher.

Das Problem, so Ruge, liegt nicht in der bloßen Entwicklung einer Speicherzelle für den Multi-Mega-Chip, sondern in der Bereitstellung einer Speicherzelle, mit der der 64-Mbit auch mit einer erträglichen Gesamtausbeute produziert werden kann. Diese Arbeit kostet dem Münchener Professor für Mikroelektronik zufolge weitaus mehr, als die von Siemens-Chef Karlheinz Kaske eingeräumte eine Milliarde Mark.

Jeder der notwendigen 500 technischen Einzelschritte, in denen der Super-Speicher produziert würde, müsse zu 99,9 Prozent beherrscht werden, um auf eine Gesamtausbeute von 50 bis 60 Prozent zu kommen. "Wird jeder Schritt nur zu 99,0 Prozent beherrscht, was ja auch schon beachtlich ist, erreicht man nur eine Gesamtausbeute von 0,7 Prozent", betont Ruge.

Für ihn ist es allein mit dem 64-Mbit nicht getan. Um die Leistung eines modernen Prozessors ausnutzen zu können, müßten zumindest ein Teil der produzierten 64-Mbit-DRAMs Zugriffszeiten zwischen zehn und 20 Nanosekunden aufweisen, unterstreicht der Professor die Dimension des Problems. Doch selbst wenn Siemens und IBM erfolgreich sind, beurteilt er die Möglichkeit der europäisch-amerikanischen Allianz, die Dominanz der Japaner im Speicherbereich zu erschüttern, zurückhaltend: "Vielleicht haben Siemens und IBM die Chance an der Vormachtstellung der Japaner zu rütteln."

Mit der europäischen Forschung und Entwicklung in diesem Bereich geht Ruge allerdings hart ins Gericht. Er betrachtet den Zusammenschluß zwischen IBM und Siemens als Eingeständnis der Europäer, ein solches Projekt nicht allein realisieren zu können. "Das ist doch letztlich der Beweis", kritisiert er, "daß Europa hier zum erstenmal die weiße Flagge gehißt hat. "

"Hervorragend" beurteilt der Münchener Experte jedoch die Implikationen dieser Kooperation auf den europäischen Computermarkt: "Europäer und Amerikaner werden dadurch sicher mit Chips versorgt und damit gibt es eine größere Versorgungsgarantie für die hiesige Workstationhersteller." Trotz ihres immensen Eigenbedarfs ist er sich sicher, daß Big Blue mit dem 64-Mbit an den Markt geht: Wenn sie das mit Siemens zusammen machen, dann werden sie auch erstmalig auf den Markt gehen und den Speicher nicht nur ihren eigenen Produkten vorbehalten." Da der weltweite Memory-Bedarf weiter kräftig steige, würde das Geschäft außerdem ein außerordentlich großes Volumen haben, meint Ruge.

Auch John Woods vom Londoner Beratungsunternehmen Woods and Seaton glaubt, daß IBM im Falle eines Erfolges - was für ihn auch die termingerechte Verfügbarkeit des Bausteins bedeutet - den 64-Mbit an andere verkauft: "Ich meine, sie wollen als good guys und als gute Europäer gesehen werden. Deshalb und wegen ihrer Beteiligung an Jessi werden sie den hip auch anderen zur Verfügung stellen." Woods, der eine Verringerung des japanischen Halbleiter-Schwergewichts bezweifelt, ist von einem positiven Einfluß auf die europäische Computerindustrie selbst dann überzeugt, wenn sich Siemens und IBM selbst als erste eindecken. Der englische Unternehmensberater hält das Erschließen einer neuen "zweiten Quelle", die der größte Speicher-Konsument der Welt möglicherweise in Siemens findet, für das wichtigste Motiv der Armonker: "IBM braucht dringend eine ,Second-Source' für diesen Chip. Deshalb werden die Unternehmen gegenseitige Zweit-Liefer-Verträge miteinander abschließen."

Nur wenn der europäischen Computer-Industrie über das Entwicklungsabkommen die Speichertechnologie zur Verfügung gestellt wird, meint Werner Knetsch, bei der Unternehmensberatung Arthur D. Little zuständig für die Informationstechnik, positive Impulse für die Europäer ausmachen zu können: "Der Computerhersteller, der auf Speicher- und Prozessortechnologie zugreifen kann, hat einen Wettbewerbsvorteil. Er kann dann nämlich, ausgehend von den Komponenten, sowohl Module, Geräte als auch komplette Systeme in ihren Lebenszyklen aufeinander abstimmen." Im PC-Geschäft zum Beispiel verpasse derjenige, der nicht frühzeitig neue Techniken integriert habe, das Marktsegment, in dem überdurchschnittliche Wachstumsraten und hohe Margen erzielt werden können.

Darüber hinaus ist für Knetsch der Speicherbedarf nur eine Facette des west-östlichen Konkurrenzkampfes. "Wir sollten aufpassen", warnt er, "daß wir unseren Fokus nicht nur auf Standardbauelemente legen. Bei anwendungs- und kundenspezifischen Lösungen hat der Westen noch einen Wettbewerbsvorteil, aber wenn wir es versäumen, hier an einer vernünftigen Infrastruktur weiterzuarbeiten, werden die Japaner sehr schnell aufholen."

Die gesamte Mikroelektronik sieht Knetsch in diesem Wettbewerb allerdings nur als Spitze des Eisbergs. Selbstverständlich muß man die entsprechende Technologie auf der Komponentenebene verfügbar haben, aber gleichzeitig muß sichergestellt sein, daß man mit innovativen, marktorientierten Konzepten Wege und Ansätze aufzeigt, wie die Technologie auf Geräteebene eingesetzt werden kann. Was nützen uns denn Chips, wenn wir sie in andere Länder exportieren, sie aber über Fertigprodukte und Konsumgüter wieder zurückkaufen müssen." Christoph Witte