Das Software-Urheberrecht ist ein Sieg für Europa

05.07.1991

Die Zeit der Schutzlosigkeit ist für Europas Software-Entwickler zu Ende. Mit der Verabschiedung einer EG-Richtlinie, die alle Staaten der Europäischen Gemeinschaft verpflichtet, Software urheberrechtlich zu schützen, genießen Programme künftig einen ähnlichen Status wie Romane oder Adreßbücher. Vor allem die unselige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, die nur weit überdurchschnittliche Programme für schutzwürdig erklärte, gehört endlich der Vergangenheit an. Ob damit auch Rechtssicherheit einkehren wird, muß sich indes erst noch zeigen. Denn noch bleibt viel Raum für Interpretationen. CW-Redakteur Gerhard Schmid sprach mit Professor Michael Lehmann vom Münchener Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Patent, Urheber und Wettbewerbsrecht.

CW: Herr Lehmann, die Europäische Gemeinschaft hat sich zu einem einheitlichen Urheberrecht für Software durchgerungen. Was ändert sich damit für die deutsche Software-Industrie?

Lehmann: Die wichtigste Änderung ist, daß in Zukunft jedes eigenschöpferische Computerprogramm urheberrechtlich geschützt ist. Damit ist auch die jahrzehntelange Diskussion vorbei, welches Instrument das richtige für den Schutz von Computerprogrammen ist - ob Patentrecht, ob ein eigenständiges Schutzgesetz. Es heißt jetzt in der Richtlinie, daß das Urheberrecht das entscheidende Schutzinstrument dafür wird, und zwar für alle Computerprogramme, die den normalen Voraussetzungen eines schöpferischen Werkes genügen.

Das ist vor allem auch eine klare Absage an die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der bisher für Computerprogramm eine ganz besondere Gestaltungshöhe verlangt hat, eine Forderung, die dem Urheberrecht gänzlich unbekannt ist.

Wenn man einen Roman schreibt oder ein Bild malt, muß es nur eigenschöpferisch sein, also eine gewisse Individualität aufweisen. Für Programmierer ist das durch die falsche BGH-Rechtsprechung - also durch die zwei berechtigten Entscheidungen "lnkassoprogramm" und "Betriebssystem" (siehe CW Nr. 16 vom 19. April 1991, Seite 27), die beide forderten, der Programmierer müsse deutlich Überdurchschnittliches leisten - anders festgelegt worden. Das ist nun vorbei.

CW: Woher kamen diese enormen Ansprüche?

Lehmann: Es fehlte das Verständnis dafür, was die Arbeit eines Programmierers ausmacht und wie schwierig sie ist. Beim BGH bestand offenbar der Verdacht, daß Programmieren bloße Routine ist, und daß der Programmierer mit seinen Tools nur etwas zusammensetzt und nicht schöpferisch arbeitet. Dieses Fehlverständnis hat sich trotz heftigster Kritik in der juristischen Literatur und von Seiten der Informatiker über Jahre gehalten.

Zum Teil liegt es wohl auch daran, daß das BGH lange Zeit das Wettbewerbsrecht favorisiert hat. Dieses aber ist in vielen Bereichen untauglich, weil es nur gegen unmittelbare Übernahmen schützt. Das Urheberrecht ist umfassender, und es bestehen internationale Verträge - vor allem die sogenannte "Revidierte Berner Übereinkunft", die praktisch alle europäischen und alle übrigen wichtigen westlichen Länder unterzeichnet haben - wodurch ein gleichmäßiger Schutz gewährleistet wird.

CW: Häufig war von einer Schlacht um Europa die Rede - Europa gegen die USA oder mit den USA gegen Japan. Wer hat gewonnen?

Lehmann: Ich meine, Europa hat gewonnen, weil die Europäer sich durchringen konnten zu einem einheitlichen und praktikablen Schutzsystem. Vorher hatten wir in Japan, in Amerika und auch in England also in den sogenannten "Copyright-Systemen" - mehr Rechtssicherheit und -klarheit. Dort gilt "who copies infringes" wer kopiert verletzt. Dieses Prinzip gilt mit der neuen Richtlinie auch in Europa.

CW. Was ist mit der Erlaubnis zum "Reverse Engineering"? Manche behaupteten, das sei ein Freibrief zur Produktpiraterie.

Lehmann: Das sind Schlagworte, die jeder Substanz entbehren. Das Reverse Engineering beziehungsweise Reverse Analyzing oder Dekompilieren - ist ja nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Es darf nur zu einem einzigen Zweck vorgenommen werden, nämlich zur Herstellung von Interoperabilität, also von Systemen, die miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten können.

Dahinter steckt ein wichtiger Wettbewerbsgedanke, nämlich der, daß man sich als Nachfrager sein System aus den verschiedensten Komponenten zusammenstellen kann und trotzdem eine gute Chance hat, daß alles reibungslos miteinander funktioniert.

Wenn das nicht zugelassen worden wäre, dann hätte, jemand der irgendein zentrales Produkt auf dem Markt hat, auch die angrenzenden Märkte monopolisieren können. Ein sehr starker Hardware-Hersteller hätte dann sagen können "Ich kopple an meine Hardware eine ganz bestimmte Software", und der Hersteller eines Betriebssystems hätte sagen können "Auch die Anwendungsprogramme müssen von mir stammen, weil sie sonst nicht mit meinem Betriebssystem interoperieren können". Hier zu behaupten, das sei ein Erfolg der Japaner, ist eine völlig falsche Etikettierung.

CW: Ist es sinnvoll, ein Gesetz zum Schutz von Software so stark auf den klassischen Literaturbegriff aufzubauen, wie es mit der Berufung auf die Berner Übereinkunft geschehen ist? Wäre es nicht sinnvoller gewesen, ein spezielles Gesetz zu machen?

Lehmann. Bei einem eigenen Gesetz zum Schutz von Software hätte man nicht die internationalen Schutzsysteme gehabt, die es im Urheberrecht gibt, also die Berner Übereinkunft oder das Welt-Urheberrechtsabkommen. Man hätte dann mit jedem Land gesondert verhandeln und einen separaten internationalen Vertrag schließen müssen. Das würde man heute nicht mehr ohne weiteres zustandebringen.

Außerdem heißt es nicht, daß Computerprogramme als Schriftwerke, als Werke der Literatur geschätzt Der Artikel 2 der Berner Übereinkunft hat einen sehr weiten Literaturbegriff, der mit einer vernünftigen Interpretation ohne weiteres zuläßt, daß die Computerprogramme gewissermaßen unter seinen Mantel schlüpfen. Das ist durchaus sinnvoll, denn so groß ist der Unterschied zwischen Computerprogrammen und Schriftwerken auch wieder nicht.

Langfristig wird sich vermutlich trotzdem ein eigenes Urheberrecht für Software herausbilden, und die europäische Richtlinie wird dazu führen, daß wir innerhalb des Urheberrechts an den jeweils relevanten Stellen neue Regeln, neue software-spezifische Bestimmungen aufnehmen. Aber dabei bleibt man innerhalb des Urheberrechts und hat nur einige neu eingefügte Regelungen, wie etwa die zur Frage der Dekompilierung.

CW: Sollte man nicht auch die Schutzdauer anpassen? Was soll eine Schutzdauer von 70 Jahren bei Produktzyklen von drei bis fünf Jahren?

Lehmann: Das ist vielleicht nicht unbedingt sinnvoll. Aber es ist auch nicht schlimm, weil das Urheberrecht im Gegensatz zum Patentrecht keine absolute Sperrwirkung hat. Keiner kann damit einen anderen aussperren, der Vergleichbares geschaffen hat, ohne dabei zu kopieren, also ohne geistigen Diebstahl zu begehen. Das Patentrecht dagegen hat eine absolute Sperrwirkung.

Das heißt, es ist möglich, Produkte zu schaffen, die absolut die gleiche Funktion erfüllen wie ein anderes Produkt, und auch die gleichen Ideen verwenden. Man darf nur nicht den Code nehmen, den ein anderer dafür entwickelt hat und diesen kopieren. Aber so etwas wie die Idee des Spreadsheets ist nicht schutzfähig.

CW: Was ist nun konkret geschützt? Das äußere Erscheinungsbild oder die interne, die programmtechnische Realisierung?

Lehmann: Die Amerikaner unterscheiden sehr klar zwischen "ideas" und "expression". Die Ideen sind frei, die konkrete Ausdrucksform ist geschätzt. Wenn ich beispielsweise die Idee habe, Fenster zu programmieren, dann ist die Idee, daß ich irgendwo am Bildschirm ein bestimmtes Fenster einfügen kann, frei. Geschützt ist jedoch der konkrete Code, mit dem das Programm dieses Fenster einfügt.

Je standardisierter ein Teil eines Werkes wird, desto weniger kann ein Programmierer in diesem Bereich eigenschöpferische Leistungen erbringen, und das bedeutet, desto weniger kann er auch Urheberrechtsschutz für diesen Teil beanspruchen. Das wichtigste Beispiel dafür sind die Schnittstellen. Wenn die Standardisierung der Schnittstellen noch weiter fortschreitet - und das ist zu hoffen und zu wünschen aus der Sicht der Anwender und der Verbraucher dann bedeutet das, je standardisierter eine Schnittstelle ist, desto weniger Möglichkeiten hat ein Programmierer für eigenschöpferische, individuelle Leistungen auf diesem Gebiet. Das bedeutet langfristig, daß für standardisierte Schnittstellen kein Urheberrechtsschutz existiert.

CW: Was ist mit dem "Look-and-Feel", das in den USA immer wieder für langwierige Prozesse sorgt?

Lehmann: Beim "Look-and-Feel", also bei der Frage, ob eine Benutzeroberfläche beziehungsweise -schnittstelle geschätzt ist, wird es sehr schwierig. Einerseits möchte man, daß Benutzeroberflächen standardisiert sind. Man gewöhnt sich an eine gewisse Ordnung und bei der will man möglichst bleiben. Das ist wie bei der Schreibmaschinen-Tastatur. Man will, daß sich solche Standards herausbilden und die sollen nicht monopolisiert werden, auch nicht durch das Urheberrecht.

Andererseits ist natürlich auch das Look-and-Feel, also die Oberfläche schutzfähig, vielleicht sogar als Kunstwerk - da kann man ja schöpferisch tätig sein -, aber je mehr sich eine solche Benutzeroberfläche als Standard durchsetzt, desto enger wird der urheberrechtlich schutzfähige Raum.

CW: Mit dem neu gewonnenen Urheberrechtsschutz ist Software quasi automatisch geschätzt. Gibt es trotzdem noch die Möglichkeit eines Patentschutzes?

Lehmann: Ja. Die beiden Schutzsysteme laufen unabhängig voneinander und überlappen sich nur in bestimmten Bereichen.

Allerdings kann man nach dem Patentrecht nie einen Schutz für ein Programm per se bekommen, denn das patentrechtliche Denken knüpft immer an die Technik an. Das heißt, ein Programm wird immer nur zusammen mit einer bestimmten Technik geschätzt, beispielsweise der Computertomograph oder das ABS-System im Auto. Aber es reicht aus, daß man irgendein technisches Instrument - ganz präzise: eine Vorrichtung zur Beherrschung von Naturgewalten - über Computerprogramme noch optimiert.

CW: Ein Algorithmus allein ist also nicht patentierbar?

Lehmann: Nein, das geht nicht, Zumindest nicht nach dem deutschen und dem europäischen Patentrecht. Das amerikanische Patentrecht hat hier einen erheblich weiteren Technikbegriff. Bei uns jedoch geht es immer um die Kontrolle physikalischer oder chemischer Gewalten, und ein Patent schützt die Konstruktion einer entsprechenden Maschine.

CW: Ist hier eine Änderung abzusehen?

Lehmann: Nein. Das europäische Patentrecht is ja sehr erfolgreich und es besteht meines Erachtens auch keine Notwendigkeit, hier etwas zu ändern.

CW: Das heißt, wer eine geniale Lösung für ein Software-Problem findet, bekommt auch in Zukunft nichts, außer - bestenfalls - etwas Ruhm und Anerkennung?

Lehmann: Das war schon immer so. Das ist auch Galileo Galilei so gegangen. Es gibt natürlich immer noch viele Bereiche, in denen es keinen adäquaten Schutz gibt. Eine geniale Werbeidee ist ja auch nicht schutzfähig.

Die Entwicklung von "property rights" ist mit Sicherheit noch nicht abgeschlossen. Vermutlich wird gerade unser Jahrhundert zeigen, daß der Schutz des geistigen Eigentums viel wichtiger ist als der des körperlichen Eigentums. Heute wird ja jeder Ladendiebstahl stärker sanktioniert und mit einem höheren Unrechtsbewußtsein verfolgt, als der Diebstahl von geistigem Eigentum.

Mit der jetzt verabschiedeten Direktive haben wir einen sehr, sehr wichtigen Schritt vorwärts gemacht. Natürlich wird die Entwicklung weitergehen müssen, aber wir Juristen sind sehr konservative Leute: Die Dynamik kommt immer aus der Wirtschaft, und davon werden die Juristen dann zum Nachziehen gezwungen. Natürlich wird man sich alle paar Jahre fragen müssen, ob das Bestehende Instrumentarium ausreicht, oder ob es reformiert oder verbessert wer. den muß.

Entscheidend ist, wie sich der ganze Markt weiterentwickelt, wie Software benutzt wird. Heute ist sie beispielsweise noch sehr stark an Disketten und Magnetbänder geknüpft, und es wird zum großen Teil das Kaufrecht benutzt, um die Überlassung von Programmen zu regeln. Vermutlich werden die Programme in Zukunft viel häufiger per Telefon Überspielt und damit ergeben sich bereits wieder Änderungen, die das Recht berücksichtigen muß.

CW: Wer hat nun künftig die Rechte an der Software - der Entwickler, der Auftraggeber oder der Käufer?

Lehmann: Prinzipiell hat sie erst einmal der Entwickler. Wer die schöpferische Tätigkeit erbringt, wer das Programm wirklich schreibt, der bekommt das Urheberrecht. Wer beispielsweise als Auftragnehmer für eine Firma ein Programm entwickelt hat, überläßt dieser Firma zwar im Rahmen des Auftragsverhältnisses die ausschließlichen Nutzungsrechte, bleibt aber trotzdem der Urheber. Wie die Übertragung seiner Rechte auf den Auftraggeber erfolgt, das muß der Werkvertrag regeln.

Anders ist das bei einem Arbeitnehmer, der für seinen Arbeitgeber Software entwickelt. Hier ergibt sich schon aus dem Arbeitsvertrag, daß der Arbeitgeber die Rechte an den entstehenden Programmen hat. Der angestellte Programmierer gibt von vornherein aufgrund des Arbeitsvertrags die Lizenz an seinen Arbeitgeber, und zwar an allem, was er im Rahmen dieses Arbeitsverhältnisses entwickelt.

CW: Welche Rechte verbleiben einem angestellten Entwickler dann noch von seiner Urheberschaft?

Lehmann: Materiell bleibt ihm nichts. Er hat nur noch ein ideelles Recht, das Urheber-Persönlichkeitsrecht, aufgrund dessen er unter Umständen zum Beispiel verlangen kann, daß er im Programm als dessen Schöpfer genannt wird.

CW: Also nur Ruhm und Ehre?

Lehmann: Nur die Ehre, in der Tat. Wir nennen das "Urheber-Benennung".

CW: Wie die Lobbyisten-Schlacht um die EG-Direktive gezeigt hat, geht es beim Softwareschutz um sehr viel Geld. Welche Ähnlichkeiten zwischen zwei Produkten sind künftig erlaubt und welche nicht?

Lehmann: Das kann relativ weit gehen. Wie weit, wird sehr stark vom Einzelfall abhängen. Angenommen, Sie setzen zwei Programmierer unabhängig voneinander an das gleiche Problem, und diese beiden entwickeln nun, was total unwahrscheinlich ist, in derselben Sprache das absolut identische Programm - das nennt man im Urheberrecht eine "Parallelschöpfung" - dann wären beide gleichermaßen geschätzt ohne daß der eine dem anderen verbieten könnte, sein Programm zu verwerten.

In so einem Fall besteht natürlich immer der Verdacht, daß einer vorn anderen abgeschrieben hat, aber wenn er nachweisen kann, daß es sich tatsächlich um eine Parallelschöpfung handelt, daß er also völlig unabhängig das gleiche Programm geschrieben hat, dann bestehen zwei voneinander unabhängige Urheberrechte, die jeder für sich verwerten kann.

CW: Vor einigen Jahren gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen Fujitsu und IBM um einen "Clone" des IBM-Betriebssystems MVS. Den Prozeß gewann damals IBM. Wäre es heute, nach der EG-Richtlinie zulässig, eine solche Alternative zu MVS zu schreiben?

Lehmann: Absolut. Nicht mehr zulässig wäre es allerdings dann, wenn wesentliche Teile des anderen Betriebssystems kopiert oder so übernommen werden, daß man nicht mehr von einer unabhängigen Neuschöpfung sprechen kann.

CW: Auf welcher Ebene wird darüber befunden? Wie wird eine Verletzung des Urheberrechts festgestellt?

Lehmann: Auf allen Ebenen. Und festgestellt wird eine Verletzung, indem ein unabhängiger Gutachter nach Betrachtung des Materials, vom Pflichtenheft über die Strukturdiagramme bis hin zum Quellcode, zu dem Schluß kommt, daß das fragliche Programm nicht unabhängig geschaffen sondern "abgekupfert" worden ist.

CW: Das heißt, es stehen uns große Gutachterschlachten bevor?

Lehmann: Nein, vermutlich weniger als bisher. Denn bisher brauchte man die Gutachter, um die Überdurchschnittlichkeit der Programme zu beweisen, und das war natürlich ein absolut uferloses Unterfangen. Doch Beweisprobleme gibt es in der Juristerei seit jeher. Recht haben und Recht bekommen sind zwei verschiedene Dinge, und das wird vermutlich immer so bleiben. Doch das angloamerikanische, vor allem das englische Recht zeigt, daß man mit diesen Problemen fertig werden kann.