Warenwirtschaft bei einer Schuhhandelskette

Das Schuhhaus Görtz kommt fast ganz ohne Cobol-Programme aus

29.03.1991

Innerhalb von vier Jahren wurde bei der Hamburger Schuhhandelskette Görtz die gesamte Software erneuert. Statt klassischer Cobol-Programmierung setzte man dort auf eine Entwicklungsumgebung mit modernen Sprachen und einer relationalen Datenbank. Jürgen Koch beschreibt wie das Unternehmen seine DV-Aufgaben meistert.

Bei der Einführung der Datenverarbeitung im Jahr 1968 schuf man ein Warenwirtschaftssystem, das den gesamten Durchlauf der Produkte, vom Wareneingang über die Kommissionierung und Distribution bis zum Verkauf, verfolgte. Als Kernpunkt enthielt das System eine Bestandsführung pro Artikel, Größe und Filiale. Man konnte damit den aktuellen Bestand jeder Filiale ermitteln, wenn man alle Informationen über Bestandsbewegungen verarbeitet hatte. Auf Grundlage solcher Berichte ließen sich von der Zentrale aus Dispositionen für die einzelnen Niederlassungen treffen - etwa dahingehend, ob Artikel von einer Geschäftsstelle in eine andere zu verlagern oder Preise zu reduzieren wären.

Die Bestandsführung mit dem alten System war jedoch nicht tagesaktuell, sondern konnte Gültigkeit bestenfalls im Wochenmaßstab beanspruchen. Die Übermittlung der Informationen gestaltete sich zeitaufwendig. Sie erfolgte über Beleg-Karten, die von den Geschäftsstellen an die Zentrale geschickt und dort über einen Beleg-Leser ins System gebracht werden mußten.

Neuanfang in moderner Entwicklungsumgebung

Der entscheidende Durchbruch zur tagesaktuellen Bestandsführung erfolgte 1981 durch Einführung von POS-Kassensystemen (POS = point of sale). Die Waren werden seither mit Magnetcode-Etiketten versehen und können nach der Auszeichnung beim Eingang ins Lager lückenlos bis zum Verkauf verfolgt werden.

Durch diese Systeme wurde es möglich, alle Warenbewegungen noch jeweils am selben Tag zu verarbeiten. Die Daten werden täglich über Datex-L-Leitungen von der Zentrale ab 19 Uhr abgefragt, so daß in der Regel ab 4 Uhr der neue Bestand im Rechner ist. Die Zahl der täglich anfallenden Geschäftsvorfälle schwankt zwischen 50 000 und 80 000.

Drei Jahre später begann das Haus mit der Konzeption eines neuen Warenwirtschaftssystems. Karsten Schütt, Leiter Informationssysteme, der 1984 zu Görtz kam, war zum damaligen Zeitpunkt der Auffassung, daß die Entwicklung auf Basis eines modernen Datenbanksystems mit einer Sprache der vierten Generation (4GL) vorgenommen werden sollte.

Mit dem Einsatz einer modernen Entwicklungsumgebung statt klassischer CICS-Cobol-Programmierung strebte Schütt eine klarere Strukturierung der Anwendungserstellung an. Vor allem aber argumentierte er mit Vorteilen für die Wartung der Systeme. Die Einsparungen an Programmierzeit galten eher als angenehmer Nebeneffekt.

Nach der Analysephase begann im Folgejahr die Entwicklung der Stammdatenverwaltung und der Auftragsbearbeitung. Auf Basis der neuen Auftragsbearbeitung wurde eine Schnittstelle zum alten Warenwirtschafts-System realisiert und so der erste Teil in Betrieb genommen. Die Datenbank umfaßt etwa 40 000 Artikel und 2000 Lieferanten, von denen rund 800 aktiv sind. Die Zahl der jährlich abzuwickelnden Aufträge liegt bei rund 12 000.

Das Gebiet der Auftragsbearbeitung reicht von der Vergabe an die Lieferanten bis zum Eingang der Ware ins Lager. Über diese in vielen Branchen gleich oder ähnlich aussehenden Funktionen stellen sich im Schuhhandel spezielle Anforderungen. Da zwischen Order und Lieferung häufig drei Monate vergehen, ist es wichtig, zu einem möglichst frühen Zeitpunkt zu erkennen, wie das Gesamtsortiment und die Kollektion der einzelnen Filialen nach Abschluß des Einkaufs aussehen.

Das Management braucht Informationen darüber, ob das Sortiment den Zielvorstellungen hinsichtlich Preisgestaltung, Farbauswahl und Lieferantenstruktur entspricht. Sie zu liefern erforderte spezielle Anwendungen.

Neben der Auftragsabwicklung ist für Karsten Schütt die Disposition der wichtigste und interessanteste Anwendungsbereich. Seine Abteilung stellt den Einkäufern in der Hamburger Zentrale ein Instrumentarium zur Verfügung, mit dem sie sich ein umfassendes Bild von der Marktgängigkeit von Artikeln und Warengruppen machen können. Mit Hilfe von Preis-Absatz-Funktionen läßt sich überprüfen, ob eine Preisfestsetzung den gewünschten Effekt erzielt hat. Es ist möglich, das komplette Abbild eines Artikels mit den Verkäufen der letzten sieben Tage, der letzten dreißig Tage, der letzten Saison und auch der vorherigen Saison oder des Vorjahres zu erzeugen.

Man kann auf Grund solcher Analysen Preisreduktionen oder Verlagerungen von Waren zwischen Filialen veranlassen, beispielsweise von südlichen Standorten in nördliche oder von Landgeschäften in Großstadtläden. Mit einem Vorschlagssystem lassen sich umfassende Analysen des Bestandes durchfuhren.

Der routinemäßige Ablauf bei der Disposition sieht so aus, daß die Einkäufer am Montagmorgen die von ihnen benötigten Listen und Statistiken vorliegen haben. Dazu gehören unter anderem eine Bestseller-Liste und eine Dispositions-Statistik, mit der sich die Bestandssituation in den Filialen an Hand von Kennzahlen schnell überprüfen läßt. Im Verlauf des Montag und Dienstag werden an den Bildschirmen die Dispositionen vorgenommen. Die physische Ausführung erfolgt an den darauffolgenden Tagen, so daß am Freitag und Samstag, den erfahrungsgemäß verkaufsstärksten Tagen, das Sortiment in den Filialen auf dem optimalen Stand ist.

Die gesamte Abteilung Informationssysteme umfaßt bei Görtz 20 Mitarbeiter, die sich gleichmäßig auf Rechenzentrum und Entwicklungsgruppe verteilen. Das Entwicklerteam ist sehr jung und daher für den Einsatz einer modernen Programmiersprache prädestiniert. Eingefleischte Cobol-Programmierer stehen solchen Umstellungen dagegen häufig skeptisch gegenüber.

Wie bereits erwähnt, sieh IS-Leiter Schütt den Vorteil der neuen Entwicklungsumgebung nicht so sehr in den Zeiteinsparungen beim Programmieren. Denn, so führt er aus, "das Programmieren selbst macht nur einen kleinen Teil der gesamten Entwicklungszeit aus, so daß sich Einsparungen, selbst wenn sie bis zur Hälfte der Zeit gehen, nicht so entscheidend auswirken. Was wir erhofft hatten und auch tatsächlich eintrat, ist ein völlig anderes Wartungsverhalten".

Als Entwicklungswerkzeuge setzt man für den Online-Bereich CA-Ideal von Computer Associates ein, auf dem Batch-Sektor hauptsächlich das Programmier-Tool Meta-Cobol vom selben Anbieter. Die mit diesen Werkzeugen geschriebenen Programme haben sich im Vergleich zur früher erstellten Software als stabiler erwiesen. Durch ein Programm verursachte CICS-Abbrüche gibt es schon lange nicht mehr. Überhaupt hat sich die Fehlerhäufigkeit mit Programmabbruchfolge reduziert. Auch die Fehleranalyse läßt sich heute leichter durchführen, da die Vorfälle in der Regel exakt dokumentiert werden.

Bei der Datenhaltung hat man ganz auf eine einheitliche Datenbank gesetzt. Alle Anwendungen arbeiten mit dem relationalen Datenbank-Management-System Datacom/DB, das ebenso wie die erwähnten Programmiertools von CA stammt. Standardprogramme für die Finanzbuchhaltung sowie für Lohn- und Gehaltsabrechnung greifen auf das Datenbank-System zu.

In der Görtz-DV ist derzeit kein Softwaresystem länger als fünf Jahre im Einsatz. Die Anforderungen der Fachabteilungen an Reportfunktionen führten dazu, daß das Ideal-Produkt nicht durchgängig eingesetzt wird. Für die Listenaufbereitung wird daher die Programmiersprache Cobol verwandt.

*Jürgen Koch ist freier Fachautor in München