Das schlechte Gedächtnis der Nachwelt

11.07.2001
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Sascha Alexander ist seit vielen Jahren als Redakteur, Fachautor, Pressesprecher und Experte für Content-Strategien im Markt für Business Intelligence, Big Data und Advanced Analytics tätig. Stationen waren unter anderem das Marktforschungs- und Beratungshaus BARC, die "Computerwoche" sowie das von ihm gegründete Portal und Magazin für Finanzvorstände CFOWORLD. Seine Themenschwerpunkte sind: Business Intelligence, Data Warehousing, Datenmanagement, Big Data, Advanced Analytics und BI Organisation.
Auf der diesjährige Firmenveranstaltung des Münchener Softwarehauses sd&m referierten 16 renommierte Softwarepioniere über ihr Lebenswerk. Ihr Fazit: Trotz Fortschritten bei Methoden und Tools ist die Softwareentwicklung nur wenig vorangekommen.

Seine letzten beiden Arbeitstage als Vorstandsvorsitzender der sd&m AG wird Ernst Denert nicht so schnell vergessen. So bescherten ihm seine Mitarbeiter nicht nur einen herzlichen Abschied, sondern es war auch gelungen, der Veranstaltung einen besonderen historischen Bezug zu verleihen: Erstmals in der Geschichte der Informatik fanden sich 16 ihrer Vorreiter zusammen, um über ihr Lebenswerk zu referieren und ihre Erfahrungen an junge Informatiker und Softwareentwickler weiterzugeben, die laut Denert oft nur unzureichend über die Wurzeln ihres Gebiets Bescheid wissen.

Quelle: sd&m
Quelle: sd&m

Im Mittelpunkt der Vorträge stand dann allerdings nicht die Diskussion zwischen Jung und Alt, sondern vielmehr ein sehr anregendes und manchmal auch lustiges Sich-Erinnern an die eigenen Forschungsarbeiten in den 50er, 60er und 70er Jahren. Dabei gingen einige der Softwarepioniere auch auf heutige Entwicklungen ein und waren sich weitgehend darin einig, dass in den letzten Jahrzehnten Methoden und Werkzeuge zur Reife gelangt seien. Insgesamt bestehe aber wenig Grund zur Freude, so der Tenor, da viele Grundlagen der Programmierung, Methodik und des Projekt-Managements bis heute nicht ausreichend beachtet würden. "Das Neue ist oft nichts anderes als das schlechte Gedächtnis der Nachwelt", stimmte auch SD&M-Chef Denert bei.

So kritisierte beispielsweise David Parnas, dass viele Entwickler bei der Schnittstellen-Entwicklung von Objekten das "Geheimnisprinzip" ignorierten, das sicherstellen soll, dass eine Abstraktion, wie zum Beispiel eine Klasse, nur im vorgesehenen Sinne verwendet werden kann. In der Praxis würden Entwickler unter anderem ihrem "Flowchart-Instinkt" folgen, nicht ausreichend planen und über das System nachdenken sowie schlechte Software lediglich erweitern. Pascal-Erschaffer Niklaus Wirth lobte zwar, dass heutige Programmiersprachen wie Java und C# Disziplin bei den verwendeten Features zeigten. "Sie werden aber noch lange brauchen, um das Niveau von Pascal zu erreichen", sagte Wirth. Tony C.A.R Hoare bemängelte, dass die Methoden des Korrektheitsbeweises mit Hilfe so genannter Assertions bis heute nicht genügend durch die entsprechenden Analyse-Tools unterstützt werden.

Alan Kay, Miterfinder der grafischen Benutzeroberflächen, sagte gegenüber der CW, dass er den Browser als universales GUI für ein falsches Konzept halte und letztlich nur das von Smalltalk abstammende Open-Source-Projekt "Squeak" künftig zu benutzerfreundlichen Oberflächen führen wird. John Guttag schließlich ging so weit, trotz Fortschritten etwa der Compiler-Technik eine nennenswerte Weiterentwicklung in Programmiersprachen abzustreiten. Er forderte in diesem Zusammenhang, jungen Softwarepionieren wie Michael Ernst, David Evans oder Rustan Leino mehr Beachtung zu schenken.

Letzterem stimmte auch Tom DeMarco zu, verwies aber zusätzlich noch auf Arbeiten etwa von Kent Beck. In einem selbstkritischen Vortrag hinterfragte er auch seine eigene Vorstellung von der richtigen Methode für die Softwareentwicklung. Sein Fazit: "Ich habe erstens gelernt, dass gute Spezifikationen leicht zu schreiben sind, aber im Streit mit dem Endanwender entstehen müssen. Zweitens ist das Talent eines Programmierers wichtiger als die Methode oder der Entwicklungsprozess. Allerdings werden wir niemals genug entsprechende "Knowledge Worker" in den Unternehmen haben. Drittens hat Qualität fast nichts mit dem Entwicklungsprozess zu tun. Wichtiger für den Erfolg einer Software ist vielmehr ihre Nützlichkeit und Eleganz. Viertens ist der Kunde nicht mehr König, sondern Partner, und fünftens ist ein Requirement-Engineering heute komplizierter als je zuvor, weil die einfachen Softwaresysteme schon vor langer Zeit entstanden sind." Ein Tagungsband mit den Originalarbeiten und den Konferenzbeiträgen soll dieses Jahr im Springer-Verlag erscheinen.