Statistische Planung in Bonn

Das Parlament braucht mehr Informationen

04.12.1974

BONN - Die Informationssysteme, die zur Zeit von den Bonner Ministerien aufgebaut werden, rütteln kräftig an den Grundfesten der Demokratie. Die ohnehin bereits relativ große Informationslücke zwischen Regierung und Parlament dürfte in Zukunft noch größer werden. Dadurch wird - so Professor Paul Kevenhörster (Braunschweig) kürzlich auf der GMD-Informationstagung "DV-Einsatz in der politischen Planung" (CW vom 13. November 1974) - die "Ausübung der parlamentarischen Kontrollfunktion noch weiter beeinträchtigt." Da die subtileren, qualitativen Auswirkungen der Datenverarbeitung auf die Organisation von Regierung und Verwaltung bislang kaum analysiert worden sind, erscheint eine umfassende Untersuchung dringend geboten. Der Vortrag von Professor Kevenhörster in Birlinghoven war ein erster Ansatzpunkt. Es wäre zu wünschen, daß seine Ausführungen, die im folgenden nur fragmentarisch wiedergegeben werden können, bald einem größeren Kreis von Parlamentariern und Verwaltungsfachleuten zugänglich würden.

Die Diskussion über die angeschnittenen Fragen muß unverzüglich beginnen, denn von einem bestimmten Komplexitätsgrad an lassen sich Informationssysteme nur schwer beherrschen.

Aus zwei Gründen wird die parlamentarische Informationsversorgung durch die rechnergestützten Informationssysteme der Regierung beeinträchtigt. Einerseits stärken die Informationssysteme die Innenstruktur der öffentlichen Verwaltung auf der operativen und auf der planenden Ebene. Die Koordination führt zwangsläufig zu Kompetenzverlagerungen und Zentralisierung. Zum anderen ermöglicht der Aufbau von Informationssystemen die Entwicklung von Prognose- und Steuerungssystemen, "die es der Regierung möglich machen effektvoll auf Kritik und Anregungen der Öffentlichkeit, der Verbände oder der Opposition zu reagieren oder diese Kritik in ihrem Verhalten zu antizipieren".

Der Einsatz der elektronischen Datenverarbeitung ermöglicht die stärkere analytische Durchdringung gegebener Probleme. An die Stelle administrativen Ermessens und der Orientierung an Präzedenzfällen treten unter dem Zwang der elektronischen Datenverarbeitung zu standardisierten Daten und formalisierten Abläufen zentral festgelegte Programme. Letzten Endes kann dadurch die vertikale Gewaltenteilung eingeschränkt werden. Verstärkt wird dieser Trend noch durch die zunehmende Erstarrung der Verwaltungsorganisation.

Durch die Einführung der elektronischen Datenverarbeitung ist daher eine "systematische, qualitative Beeinflussung politischer Planung" zu erwarten. Kevenhörster leitet aus Dieser Analyse drei Hypothesen ab:

1. Die Anwendung der elektronischen Datenverarbeitung führt mit der Automatisierung des Sachgebietes zwangsläufig auch zu qualitativen Änderungen des betroffenen Verwaltungsbereichs.

2. Die automationsgerechte Gesetzesplanung bedeutete einen Verzicht auf Nuancierung und engt sowohl den exekutiven als auch den parlamentarischen Spielraum ein.

3. Durch die Zuordnung der EDV-Anlagen zur Verwaltung vergrößert sich der Informationsvorsprung des Regierungsapparates gegenüber dem Parlament, das daher seine Kontrollfunktionen nicht mehr im demokratischen Sinne wahrnehmen kann.

Im Mittelpunkt der Erörterungen über die Auswirkungen der Datenverarbeitung auf das Verhältnis von Regierung und Parlament stehen im allgemeinen Fragen, die mit der Menge, der Erreichbarkeit, der Qualität sowie der Verarbeitbarkeit der Daten zusammenhängen. Daß durch den Einsatz der Datenverarbeitung in Regierung und Verwaltung auch die Prozesse sowie die Struktur der Informationsverarbeitung entscheidend verändert werden, wird in der Regel heute noch nicht gesehen.

Ohne allen Zweifel hat der Aufbau rechnergestützter Informationssysteme in der Verwaltung das Datenangebot für die Regierung einseitig verbessert. Und auf diesen Punkt richtet sich eine der zentralen Forderungen des Parlamentes, oder - korrekter - der jeweiligen Opposition, denn die Regierungsparteien werden bereits heute besser von der Regierung informiert. Doch selbst wenn das Parlament einen uneingeschränkten Zugang zu diesen Daten hätte, wäre das Informationsgap wahrscheinlich noch nicht gelöst. Jede Verarbeitung von Daten beruht nämlich auf "der Explikation einer bestimmten Gedankenführung". "Eine Offenlegung aller Gedanken, die sich die Regierung macht, kann auch mit dem Hinweis auf die Kontrollfunktion des Parlaments wohl kaum ernsthaft gefordert werden. Ebensowenig ist aber einzusehen, daß die Regierung gerade jene Gedanken offenlegen soll, die sie sich mehr oder minder zufällig mit DV-Unterstützung macht."

Ein Zugriff des Parlaments zu den Informationssystemen der Regierung würde zwar die Informationsbasis des Parlaments verbreitern, aber das Problem nicht grundsätzlich lösen. Auf der anderen Seite kann und darf nicht verkannt werden, daß durch den DV-Einsatz die Aktivitäten der Regierung transparenter werden, so daß die parlamentarische Kontrollfunktion erleichtert wird. Angesichts dieser politisch wohl nicht ohne weiteres zu lösenden Zwiespältigkeit ist es wahrscheinlich unumgänglich, die Funktion des Parlaments einmal grundsätzlich zu überprüfen. Das Problem, vor dem das Parlament heute steht, formulierte Professor Kevenhörster so: "Die zentrale Alternative für das Parlament lautet: weiterer Funktionsverlust durch überforderte Allzuständigkeit oder ein auf die Alternativ- und Kritikfunktion ausgerichteter Funktionswandel durch Akzentverlagerung und Kompetenzeinengung."

Auf den ersten Blick mochte man die Gedanken von Professor Kevenhörster als theoretische Spielereien ad acta legen und zur Tagesordnung übergehen. Doch wer über Jahre hinweg Parlament und Bundestagsabgeordnete bei ihrer Arbeit kritisch beobachten konnte, weiß um die Ohnmacht des Parlaments. Große und kleine Anfragen werden nur zu oft von den gleichen Regierungsbeamten ausgearbeitet, die sie später zu beantworten haben. Journalisten und Lobbyisten dienen Parlamentariern regelmäßig als Souffleure. Fehlende Sachkenntnis wird durch Beredsamkeit und parteipolitische Opportunität ersetzt. Die chronische Arbeitsüberlastung der führenden Parlamentarier und das fachliche Desinteresse vieler Hinterbänkler weisen auf den Weg des geringsten Widerstandes aber hoher parteipolitischer Effizienz. Die Datenverarbeitung könnte das Parlament wieder zu einer Besinnung auf seine eigentlichen Funktionen veranlassen.