Prof. Dr. Dr. Radermacher

"Das offene Internet ist in Gefahr"

22.06.2009
Von 
Heinrich Vaske ist Editorial Director a.D. von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO.

Was verstehen Sie unter Brasilianisierung?

Radermacher: Es entsteht eine krasse Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es gibt ein Oben und ein Unten. Das ist vergleichbar mit den Kolonialregimes, in denen es eine Elite gibt und eine Art "Sklavenbevölkerung", die unter sehr prekären Bedingungen Dienstleistungen für diese Elite erbringt.

Wie würde in seinem solchen Szenario die Gesellschaft aussehen?

Radermacher: Rein mathematisch betrachtet haben Sie in einem Land wie Brasilien die Situation, dass die 20 Prozent mit den höchsten Einkommen etwa 65 Prozent des Kuchens unter sich aufteilen, während die 80 Prozent mit den kleineren Einkommen den Rest bekommen. Eine viel bessere Relation bieten Länder wie Finnland, wo 20 Prozent rund ein Drittel und 80 Prozent zwei Drittel besitzen. Interessanterweise bringt die finnische Konstellation den größten Wohlstand für alle hervor. Hoher Wohlstand entsteht demnach nicht unter Brasilianisierungsbedingungen, sondern in einem Zustand der Balance.

Wie begründen Sie diesen Unterschied zwischen beiden Extremen?

Radermacher: Wieder rein mathematisch betrachtet lässt sich nachweisen, dass die höchste Wertschöpfung von gut ausgebildeten Menschen geschaffen wird. Der Kern des sozialen Ausgleichs ist also eine gute Ausbildung. Daraus entwickeln sich auch eine gute medizinische Versorgung und eine ebensolche Altersvorsorge. Begründung: Wenn Sie sehr viel Geld in die Ausbildung der Gehirne stecken, können Sie es ökonomisch nicht zulassen, dass jemand am Husten stirbt. Es gibt also klare mathematisch erklärbare Zusammenhänge, warum eine reiche Gesellschaft eine gut ausgebildete Bevölkerung hat, die einigermaßen gesund ist und relativ alt wird. Das ist genau das Gegenteil der brasilianisierten Struktur: keine vernünftige Ausbildung, kein breiter Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung, hohe Sterblichkeit. Vor allem die durchschnittliche Lebenserwartung des armen Bevölkerungsteils ist vergleichsweise niedrig.

Das Web erfindet die Demokratie neu

Schaut man sich im Internet die Bewegungen rund um Open Source und Web 2.0 an, so gewinnt man den Eindruck, das Internet hebe diese Grenzen auf. Es gibt nur eine weltweite digitale Gesellschaft, die - so meinen manche - grenzüberschreitend Wertschöpfung erzeugt. Brasilien ist dafür mit seiner sehr lebendigen Open-Source-Community übrigens ein gutes Beispiel. Gibt es eine solche digitale Gegenbewegung?

Radermacher: Ja, das hat ein Riesengewicht. Nicht zuletzt deshalb, weil diese Bewegung potenziell die Dominanz der Medien aushebeln könnte durch eine Art Gegenöffentlichkeit. Dieses Thema wird sehr breit in dem neuesten Buch des früheren US-Vizepräsidenten Al Gore behandelt ("Angriff auf die Vernunft", Anm. d. Red.). Er sieht im Web 2.0 die einzige Chance zur Neuerfindung der Demokratie. Aber was Gore auch sagt: Die andere Seite ist längst dabei zu versuchen, die Kontrolle über das Internet zu übernehmen und den relativ chaotischen freien, offenen Teil durch Regulierung und so genannte Trusted-Strukturen auszuhebeln.

Wen meinen Sie mit der "anderen Seite"? Die IBMs und Microsofts dieser Welt?

Radermacher: Nein, die sind höchstens insofern von Interesse, als sie wiederum denen gehören, die über die größten Assets verfügen. Eigentumsfragen sind entscheidend, aber auch komplex. Nehmen Sie Bill Gates. Bill Gates wird nicht von anderen gesteuert, er steuert selber. Bill Gates tut mit seinem Geld allerdings Gutes. Wie er es vermehrt, ist ein anderes Thema. In diesem Prozess ist die entscheidende Frage die der Kontrolle. Natürlich hätte Microsoft ein großes Interesse daran, wenn es über eine - sagen wir einmal - oligopolistische Heirat zwischen Wirtschaft und Staat letztlich die Konkurrenz ausschalten könnte. Das ist oft das heimliche Ziel.