"Das merkantile Interesse steht nicht im Vordergrund"

29.10.1999
Bei der Schaffung der Informationsgesellschaft wollen Industrie und Regierung Hand in Hand arbeiten. Über die Internet-Revolution in Deutschland sprach CW-Redakteur Hermann Gfaller mit Erwin Staudt, dem Vorsitzenden der Geschäftsführung IBM Deutschland.

CW: Sind die USA in Sachen Internet wirklich so weit voraus, wie oft behauptet wird?

Staudt: Europäer sind sicher skeptischer, wenn es darum geht, neue Technologien anzunehmen. Inzwischen ist die Akzeptanz jedoch enorm gestiegen. In Deutschland wächst die Internet-Gemeinde jährlich um rund 450000 Surfer. Auch wenn die IT-Unternehmen derzeit vier- bis fünfmal so schnell wachsen wie das Bruttoinlandsprodukt, ist das kein Grund, sich zurückzulehnen. Schließlich findet derzeit eine dramatische Revolution statt.

CW: An der Deutschland teilhaben sollte...

Staudt: Ja, leider sind wir hier nicht Spitze, sondern eher Schlußlicht.

CW: Wo liegt das Problem?

Staudt: Wenn wir ein kleines europäisches Land oder ein Agrarstaat wären, dann könnten sich unsere 8,3 Millionen Internet-User schon sehen lassen. Als Lokomotive der europäischen Wirtschaft und Exportweltmeister kann uns das aber nicht reichen. Die Welt erwartet von uns als High-Tech-Land mehr.

CW: Sind Länder wie Finnland Vorbilder?

Staudt: Dort ist die Situation anders. Wenn die Finnen nicht, wie Nokia, mit Technologie Geschäft machten, müßten sie Forstwirtschaft treiben. Wälder sind endliche Ressourcen, IT-Techniken aber bieten unendliche Ressourcen.

CW: Ist IT also hierzulande weniger wichtig, weil wir mehrere erfolgreiche Industrien aufzuweisen haben?

Staudt: Nein, aber uns geht es mit traditionellen Industrien wie Maschinenbau und Automobilproduktion einfach noch zu gut.

CW: Gerade die Automobilindustrie ist aber doch stolz darauf, auch IT-technisch ganz vorne zu sein.

Staudt: Was die Geschäftsbeziehungen der Unternehmen untereinander betrifft, ist die produzierende Industrie durchaus fortschrittlich. Das gibt zum Beispiel für Just-in-time oder die Integration von Zulieferketten. Woran es fehlt, ist, die Abläufe zu überdenken und mehr auf den Kontakt zu den Konsumenten auszurichten.

CW: Sie denken an E-Commerce?

Staudt: Richtig. Hier erwarten wir gewaltige Wachstumsraten.

CW: Ich dachte das gilt eher für das Business-to-Business-Geschäft?

Staudt: Beide Bereiche werden massiv expandieren.

CW: Im Business-to-Business-Bereich sind wir aber weiter fortgeschritten.

Staudt: Hier waren wir nie schlecht. Andes als in den Unternehmen, liegen wir bei der Akzeptanz in der breiten Bevölkerung aber drei bis vier Jahre hinter den Amerikanern zurück.

CW: Warum?

Staudt: Das hängt unter anderem mit der späten Deregulierung der Deutschen Telekom zusammen. Deswegen waren im Privatbereich die Internet-Zugangskosten extrem hoch, vor zwei Jahren noch achtmal so teuer wie in den USA. Auch Finnen und Engländer haben weit niedrigere Zu gangskosten und daher höhere Benutzerraten.

CW: Wie wichtig ist die Frage nach den Ortsgebühren?

Staudt: Es gibt zwei Dinge, die die Leute von Technologie-Nutzung abhalten: Fehlende Benutzerfreundlichkeit und zu hohe Zugangskosten. Für ersteres sind wir, die DV-Industrie, zuständig. Die Senkung der Kosten fordern wir von den Carriern.

CW: Die Deutsche Telekom argumentiert, die US-Carrier seien mit dem kostenlosen Ortsnetzzugang nicht mehr glücklich. Hier wie dort erwägt man daher neue Modelle - etwa, sich als Application-Service-Provider für Dienstleistungen und nicht mehr für Zeiteinheiten bezahlen zu lassen. Können Sie sich das vorstellen?

Staudt: Das ist nicht nur realistisch, sondern eindeutig der Trend. Wir werden alle Spielarten der Bepreisung erleben, die auch in den USA erprobt werden.

CW: Wie sieht das Internet der Zukunft aus?

Staudt: Im Jahr 2003 werden den rund 600 Millionen vernetzten PCs oder NCs zwei Milliarden andere Enduser-orientierte Geräte gegenüberstehen. Der Trend geht in Richtung Web-fähige Handies, Fernseher, Autos und sogar Waschmaschinen.

CW: Novell hat bereits 1994 von rund zehn Milliarden solcher Geräte für das Jahr 2000 geschwärmt. Aus der dahinterstehenden Technik ist allerdings nichts geworden.

Staudt: Novell hat sich vielleicht um ein paar Jahre verschätzt, aber die Entwicklung wurde damals richtig erkannt.

CW: Die Probleme waren und sind nicht nur technischer Natur. Schon jetzt ist in den USA eine Diskussion über den Schutz der Privatsphäre von Internet-Benutzern ausgebrochen.

Staudt: In Deutschland gibt es ein stark ausgeprägtes Bewußtsein für Datensicherheit und entsprechend scharfe Gesetze. Hierzulande wäre eher eine Lockerung in bestimmten Bereichen wünschenswert. Darüber verhandeln wir mit der Bundesregierung. Außerdem sind nicht alle persönlichen Daten schützenswert. Es ist doch durchaus sinnvoll, wenn das Auto dem Fahrer und notfalls einer Reparaturwerkstätte meldet, wenn ein Kolbenfresser droht. Anders liegt der Sachverhalt, wenn die Daten etwa eines Herzschrittmachers von prominenten Personen nicht im Krankenhaus bleiben, sondern in der Presse diskutiert werden. Diese Probleme sind uns durchaus bewußt.

CW: Sind wir technikfeindlich?

Staudt: Man möchte meinen, Deutschland sei eher technikfreundlich. Wir haben maßgeblich bei der Einführung von Elektrizität, Telefon, Autos, Atomkraftwerken und praktizierter Ökologie mitgewirkt. Aber beim Internet gibt es große Ängste vor Veränderungen in den Unternehmen und der Gesellschaft. Unsere Aufgabe als Industrie ist es derzeit, Bewegung in die Gesellschaft zu bringen, damit wir diese Revolution und die damit verbundenen Chancen nicht verpassen.

CW: Hat sich hier durch den Wechsel der Regierung im Herbst vergangenen Jahres etwas geändert?

Staudt: Die abgelöste Bundesregierung hat aus meiner Sicht nicht gerade die Begeisterung für Technologie und Veränderung geschürt. Bei der jetzigen Koalition sah das zu Beginn ähnlich aus, deshalb sind wir, die Industrie, direkt zum Bundeskanzler gegangen und haben ihn gebeten, zu helfen, diese Begeisterung zu entfachen.

CW: Wie hat er reagiert?

Staudt: Er hat uns seine Mitarbeit angeboten. Er gibt nicht nur seinen Namen her, er arbeitet direkt mit, zum Beispiel als Vorsitzender des Beirats der Initiative D21.

CW: Was fordern Sie von der Bundesregierung?

Staudt: Uns geht es als Industrie darum, die Chance zu bekommen, bestimmte Regeln selbst festzulegen - wie das bei dem Global Business Dialogue for Electronic Commerce geschehen ist. Der Staat kann uns coachen, aber die Inhalte sollten wir selber bestimmen.

CW: Was verstehen Sie unter coachen?

Staudt: Der Staat soll sich melden, wenn es Handlungsbedarf gibt. Etwa bei den Themen Besteuerung und Daten- oder Jugendschutz. Wie wir diese Vorgaben umsetzen, sollte er aber uns überlassen.

CW: Was halten Sie von dem jetzt von der Bundesregierung vorgestellten Aktionsprogramm (siehe Kasten)?

Staudt: Im Prinzip spiegelt das genau unsere Vorstellungen wider. Das liegt auch daran, daß hier Ideen aus unserer Initiative D21 zur Schaffung einer Informationsgesellschaft eingeflossen sind.

CW: Wie kommt diese Initiative voran?

Staudt: Wir arbeiten hier intensiv mit der Regierung zusammen. Es haben sich fünf Arbeitsgruppen auf der Ebene von Staatsekretären gebildet. Es geht dort um die die Schaffung eines Ordnungsrahmens, die Vorreiterrolle des Staates, Bildung und Qualifikation, Frauen und Kommunikationstechnik sowie eine Gründungsoffensive. Erste Ergebnisse werden im November zusammen mit dem Bundeskanzler vorgestellt.

CW: Sie wollten bis Jahresende 100 Schulen ans Netz bringen...

Staudt: Das ist kein Problem. Der Startschuß der ersten Installationen wird Anfang November erfolgen.

CW: Ist die D21-Initiative mit dem Super-Data-Highway-Programm vergleichbar, das es Anfang der 90er Jahre in den USA gab?

Staudt: Nein. Dort wurde massiv in Netztechnik investiert. Das ist hier nicht so. Die Initiative D21 soll dem Wandel vom Industrie- zum Informationszeitalter dienen und hat eine stark gesellschaftlicher Komponente.

CW: Sie wollten doch einen Schul-PC für unter 1000 Mark entwerfen. Was ist daraus geworden?

Staudt: Wir haben inzwischen gemerkt, daß der Preis gar nicht so entscheidend ist. Die Eltern sind durchaus bereit, 2500 Mark für ein Gerät ausgegeben, wenn es den Kindern hilft. Wir haben mit Intel einen Rechner entwickelt, müssen aber noch den Distributionsweg klären.

CW: Was bedeutet das?

Staudt: Wir, das heißt Siemens, Hewlett-Packard und IBM, überlegen wie wir einen preisgünstigen Rechner an möglichst viele Schüler bringen. Die jungen Leute sollen wissen, daß sie ihn zum Beispiel bei der nächsten Post oder im T-Punkt-Laden bekommen.

CW: Hat die Telekom nicht ein eigenes Programm "Schulen ins Netz"?

Staudt: Ja, wir reden mit der Telekom darüber, wie wir die verschiedenen Initiativen zusammenlegen können.

CW: Was verspricht sich die Industrie von Aktionen wie der Initiative D21?

Staudt: Wir wollen, daß Deutschland in dieser Entwicklung Trendsetter wird. Als Unternehmer müssen wir für das Wachstum unserer Firmen sorgen, wir haben aber auch eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft. Dazu gehört, daß die Umwelt sauber ist, und daß wir die Welt für die nachkommende Generation intakt halten. Sie soll eine ihnen eine gesicherte Position im internationalen Wettbewerb haben, wenn wir einmal nicht mehr da sind.

CW: In einer Zeit, in der ständig vom Shareholder Value gesprochen wird, klingt eine solche Haltung ziemlich idealistisch.

Staudt: Natürlich profitiert die IBM direkt vom Interesse am Internet. Aber das merkantile Interesse steht bei der Initiative D21 nicht im Vordergrund.