Sicherheit und Stabilitaet der Datenverarbeitung sind nicht mehr alles

Das klassische Rechenzentrum muss neuen Anspruechen genuegen

28.05.1993

Es stellt sich die Frage, ob das aktuelle Betriebsmodell des Rechenzentrums in der heutigen Zeit, in der Themen wie Client- Server, Downsizing, Dezentralisierung und Outsourcing die Informatikwelt beherrschen, nicht einen Anachronismus darstellt. Gibt es berechtigte Gruende fuer eine weitere Existenz des herkoemmlichen Rechenzentrums in der Post-Mainframe-Aera?

Die Entstehung der Rechenzentren war gepraegt von der Auffassung, dass die Entwicklung von Informationssystemen einerseits und ihr Betrieb andererseits zwei verschiedene Paar Stiefel sind. Wo die Entwicklung auf Innovation und Dynamik aufbaut, wird im Rechenzentrum die Stabilitaetsfrage gestellt. Es stehen also weniger schnellebige Prozesse im Vordergrund. Ein Spannungsfeld zwischen Entwicklungsabteilung und Rechenzentrum ist somit vorhanden und hat in mancher Firma zur Erstarrung der einzelnen Organisationseinheiten gefuehrt.

Als das Wort Outsourcing noch nicht erfunden war, hat sich jede mittelgrosse bis grosse Firma ein eigenes Rechenzentrum aufgebaut. Zuerst wurden Finanzablaeufe (Lohn und Gehalt, Buchhaltungen etc.) automatisiert und in der Folge immer mehr Geschaeftsvorgaenge in vorhandenen Informationssystemen untergebracht. Die Loesungen waren gepraegt vom damaligen Hardware-Angebot und fuehrten damit fast ausschliesslich zu einer Mainframe-Umgebung.

Weil sie als sicher und stabil gelten, finden wir diese Rechenzentren zu Hauf in der heutigen Wirtschaft. In Firmen, wo keine Wettbewerbsvorteile entscheidend von der Informationsverarbeitung abhaengen, draengt sich aber immer mehr der Outsourcing-Gedanke auf.

Bei der Betrachtung des Zukunftsmodells - das viele als Downsizing umschreiben, obwohl das Wort Rightsizing eher der Realitaet entspricht - stellt sich in erster Instanz die Kostenfrage. Nach der Antwort darauf wird sowohl in der Praxis als auch wissenschaftlich gesucht. Es werden dabei immer die vier Kostenbereiche Hardware, Software, Personal in Entwicklung und Produktionsbetrieb sowie Migration beziehungsweise Re-Engineering analysiert.

Aus der Sicht des Produktionsbetriebes bleibt festzuhalten, dass eines klar sein sollte, wenn von Rightsizing die Rede ist: Die Menge der zu betreibenden Hardware und Software-Einheiten wird in einem aehnlichen Ausmass wachsen, wie es in der PC-Welt zu beobachten war.

Zu den wichtigen Fragen gehoert natuerlich diejenige nach der geeigneten Hard- und Software. Viel entscheidender ist aber die Stabilitaet der neu zu schaffenden Infrastruktur. Wie laesst sich diese effizient evaluieren, beschaffen, installieren und vor allem von Anfang an stabil betreiben?

Es gibt keine innovativere und schnellebigere Welt als die der Informatik. In Stichworten lassen sich die vergangenen und kuenftigen Veraenderungen grob folgendermassen einordnen:

- gestern: Lochkarte, Batch, Mainframe, proprietaer;

- heute: Online, Netzwerk, 3270, Schnittstellen-Politik;

- morgen: Client-Server, Open Systems, OSI, LU 6.2.

Ein kurzer Blick in Zeitungen und Computerzeitschriften genuegt, um zu wissen, in welche Richtung der Trend geht. Die Kursentwicklung bestimmter DV-Aktien, zum Beispiel des Mainframe- Giganten IBM, ist aussagekraeftig genug.

Die Rechenzentren sind zwar immer groesser geworden. Aber ob sie ihrer Aufgabe gewachsen sind, die komplexen Informationssysteme zuverlaessig zu betreiben, ohne die Innovation und Schnellebigkeit der Entwicklung zu blockieren, und gleichzeitig ihre Kunden zufriedenzustellen, wird heute immer mehr angezweifelt.

Welcher RZ-Leiter hat nicht schon einmal, sei es im Zusammenhang mit einem PC-Geschaeft oder mit Unix oder einem AS/400-System, den folgenden unueberlegten Satz geaeussert: "Wenn Ihr unbedingt die Maschine haben wollt, kauft Euch eine. Wir wollen aber nichts damit zu tun haben." Welche Grossfirma kann noch mit Recht sagen, dass sie die Stabilitaet und Sicherheit ihrer kompletten Informationsverarbeitung durchgaengig im Griff hat?

Es liegt nun bei den Rechenzentren mit ihren gut funktionierenden Infrastrukturen, ihr Wissen und ihre Faehigkeiten - durchaus gewinnbringend - den Kunden anzubieten. Dies ist aber nur bei guter Vorbereitung moeglich. Das RZ der zweiten Haelfte der 90er Jahre und darueber hinaus wird ganz neue Aufgaben und damit auch neue Strukturen erhalten.

Das physische Rechenzentrum (Physical Data Center, PDC) ist tot, aber das logische Rechenzentrum (Logical Data Center, LDC) lebt. Dieses setzt sich zusammen aus beliebig vielen Logical Data Center Units (LDCUs). Sie stellen unter Umstaenden ein voellig heterogenes Umfeld dar. Dabei ist es unerheblich, welche technischen Gegebenheiten in der jeweiligen LDCU vorzufinden sind. Sie sind in jedem Fall in einen Verbund zu integrieren.

Dieser Verbund beruecksichtigt die neuesten technologischen Entwicklungen, und das RZ ist in der Lage, gegenueber moeglichst allen anfallenden Wuenschen und Anforderungen machbare und damit auch finanzierbare Loesungswege aufzuzeigen. Der Kunde hat zukuenftig kein Verstaendnis mehr fuer Argumente, welche die Nichtmachbarkeit unter Beweis stellen sollen. Er geht davon aus, dass ein modernes Rechenzentrum in der Lage ist, seine aktuellen Beduerfnisse zu befriedigen.

Das heutzutage den meisten Informationssystemen zugrundeliegende Betriebsmodell praesentiert sich nach einer Namensgebung der britischen Central Computer & Telecommunications Agency als "IT Infrastructure Library", wobei mit Infrastructure alle Ressourcen gemeint sind, die fuer die Informationsverarbeitung noetig sind. Dieses Modell ist sowohl fuer zentrale wie auch fuer dezentrale Systeme anwendbar. Auch die Komplexitaet oder Groesse der Systeme spielt keine Rolle. Die qualitativen und quantitativen Anforderungen, die an den Produktionsbetrieb von Informationssystemen gestellt werden, die organisatorischen Voraussetzungen, die Ablauforganisation und die Evaluationskriterien werden in vollem Umfang abgedeckt.

Ein Rechenzentrum darf sich nicht isolieren. Einerseits muss es offen fuer Entwicklungen sein, andererseits die Vereinbarungen mit den Anwendern, besser: Kunden, formulieren und anforderungsgerecht gestalten. Es ist eine Gesamtstruktur festzulegen, wie die Informationsservices am Markt entwickelt, geliefert und gestaltet werden. Die Grenzen zwischen Entwicklung, Rechenzentrum und Kunden muessen fallen.

Die Feststellung, dass das Wort Rechenzentrum in der heutigen Zeit ein Anachronismus ist, zwingt uns, einen geeigneteren Ausdruck zu finden. Hier draengt sich das Wort Informationsservice-Zentrum auf, welches die bisher in der Informationsverarbeitung fehlende Zielsetzung explizit erwaehnt.

Das Service-Management im neuen Informationsservice-Zentrum sollte gemaess den ISO-Normen 9001 ff. gestaltet sein. In der ISO- Norm 9004 beispielsweise sind im Service-Quality-Loop alle ablauftechnischen Komponenten genannt, die es zur Sicherung der Qualitaet zu beruecksichtigen gilt.

Der Weg zum Servicezentrum ist nur in kleinen Schritten zu bewaeltigen. Die ablauforganisatorische Aufgabe ist konzeptionell vorzubereiten. Noch wichtiger ist allerdings, dass sich die Mitarbeiter ein neues Rollenverstaendnis aneignen. Weil sie "auch nur Menschen sind", geht das nicht von einem Tag auf den anderen. Aber da der Weg zur vollstaendigen Client-Server-Umgebung noch lange ist, muessen wir nicht das Gefuehl haben, jetzt schon den Zug verpasst zu haben.

Die Management-Aufgaben, die im Service-Management als Hauptdisziplinen zentral stehen sollten, sind in die Bereiche Service-Support und -Delivery aufzuteilen. Service-Support ist eine interne unterstuetzende Aufgabe im Informationsservice-Zentrum mit Themen wie Configuration Management, Help desk, Problem- Management, Change-Management sowie Software-Control und - Distribution. Service-Delivery bezeichnet eine mehr extern orientierte Servicegestaltung mit Themen wie Service-Level- Management, Capacity Management, Availability Management, Contingency Planning und Cost Management.

Je nach Bedarf und aktuellem Standard sind Umfang, Reihenfolge und Detaillierung konzeptionell vorzubereiten und praxisnah umzusetzen.

Spaetestens hier laesst sich die eingangs gestellte Frage nach der Berechtigung des Rechenzentrums beantworten. Wir duerfen nicht zulassen, dass die Erfahrung und das Know-how, das in den letzten 20 Jahren gesammelt wurde, jetzt mit dem Eintritt in eine neue Technologieumgebung weggeworfen wird.

Es ist schon schwierig genug, die neuen Technologien zu beherrschen. Denn einen Vorteil hat der Mainframe anderen Architekturen gegenueber immerhin. Der Betrieb eines Mainframe- orientierten Informationssystems ist um einiges einfacher als die Arbeit mit einer dezentralen, heterogenen Umgebung.

Wo das heutige Rechenzentrum in allen genannten Bereichen schon Massnahmen, Verfahren und Werkzeuge im Einsatz hat, ist zu fragen, ob sie die Zielsetzungen sicher, stabil und serviceorientiert unterstuetzen. Die zwei urspruenglichen Maximen Stabilitaet und Sicherheit genuegen in der heutigen Informationsverarbeitung nicht mehr. Sowohl die dynamische, innovative Komponente der heutigen Entwicklungen als auch die Serviceorientierung an den Anwendern sollte integriert werden.

Das bedeutet, dass die Zusammenarbeit mit und demzufolge auch das Know-how von IS-Entwicklung zu steigern ist. Ausserdem wird es notwendig, das Rollenverstaendnis der Mitarbeiter im alten Rechenzentrum neu auf das Erbringen von Serviceleistung auszurichten.

Obwohl das Wort Rechenzentrum dieses Jahrhundert wahrscheinlich nicht ueberleben wird, ist nicht anzunehmen, dass die System- Management-Leistungen die im klassischen Rechenzentrum erbracht wurden, auch verschwinden werden. Im Gegenteil, mehr als je zuvor ist das Handwerk des sicheren und stabilen operationellen Betriebs von komplexen Informationssystemen gefragt.

Wir sollten uns endlich auf die menschlich-organisatorische Seite der Informationsverarbeitung konzentrieren, damit wir die heutige Entwicklung in der Informationstechnologie erfolgreich in sichere, stabile und vor allem kundenorientierte Informationsbewirtschaftung umsetzen koennen. Das gilt fuer alle - egal ob downsized, rightsized oder wrongsized.

*Joep Winkels leitet als geschaeftsfuehrender Direktor die Sofcom AG, Basel. Hans Mathys ist Marketing Manager der Sofcom Holding AG.

Operationelle, taktische und strategische Disziplinen des Managements von zeitgemaessen Informationssystemen.