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Das Intranet als Gleichmacher für die Unternehmens-DV

28.06.1996

Derzeit existiert der paradoxe Zustand, daß Anwender bei der Recherche im riesigen Internet Informationen gezielt suchen und relativ schnell finden können, während in den wesentlich kleineren LANs von Unternehmen zumeist Datenchaos herrscht. Schnell verfügbar sind dort im allgemeinen nur strukturierte, in der Praxis also die operativen Daten. Sobald es um Adreß- und Telefonverzeichnisse, Korrespondenz, technische Handbücher, Ausbildungsunterlagen, Produktkataloge, Unternehmensrichtlinien oder Pressemitteilungen geht, bestimmt digitaler Wildwuchs den Umgang mit Informationen. Häufig fühlen sich die IT-Abteilungen für das Management von solchen Informationen gar nicht zuständig. Sie werden von den Anwendern selbst in proprietären Dateiformaten von Textverarbeitungen und Tabellenkalkulationen über die Verzeichnisse von File-Servern verstreut.

Die Hersteller ihrerseits taten bisher ihr bestes, um die babylonische Sprachverwirrung zu fördern: Das Update von Office- Anwendungen geht fast immer mit der Einführung eines neuen Dateiformats einher. Informationen, die mit neueren Programmversionen gespeichert wurden, sind dann für Anwender nicht zugänglich, wenn sie noch kein Update installiert haben.

Ähnlich sieht es bei den Möglichkeiten des interaktiven Informationsaustausches aus: Im Internet können sich Millionen von Interessierten an Online-Diskussionen zu allen möglichen Themen beteiligen, in den meisten Unternehmen existiert hingegen kein Medium dafür.

E-Mail, einer der Internet-Dienste von Anfang an, hat auch Einzug in die Unternehmens-DV gehalten. Bei proprietären Systemen sind für das Versenden von Post nach außen teure und wartungsintensive Gateways meist unvermeidlich. Außerdem hat die fehlende Integration des E-Mail-Systems in eine Informations- und Dokumentenverwaltung unerwünschte Seiteneffekte. Soll beispielsweise einer E-Mail ein umfangreiches Dokument beigelegt und an zwanzig Adressaten versandt werden, dann füllen nicht selten zwanzig Kopien davon das Postfach des Zielrechners. Im Internet reicht es, die E-Mail um einen Verweis als Uniform Resource Locator (URL) auf das Dokument zu ergänzen - ein Mausklick in Netscapes Browser "Navigator" verbindet den Empfänger mit der betreffenden Web-Seite.

Was liegt also angesichts des Durcheinanders von Protokollen und Dateiformaten näher, als sich bewährte Internet-Standards ins Haus zu holen?

Genau dies beschreibt der Anfang 1995 eingeführte Begriff "Intranet". Ging es zuerst darum, lokale Netzwerke auf TCP/IP umzustellen und Web-Server zur internen Informationsverbreitung einzurichten, so hat dieses Konzept mittlerweile eine steile Karriere gemacht. Verantwortlich dafür sind neue Möglichkeiten der Anwendungsentwicklung, die durch Suns Programmiersprache Java und Netscapes Plug-in-Architektur entstanden. Das Intranet bescheidet sich nun nicht mehr mit der Ergänzung bestehender Strukturen, sondern hat das Zeug dazu, scheinbar festen Größen der heutigen DV die Existenz streitig zu machen. Dazu zählen Desktop- wie Netzwerk-Betriebssysteme, Middleware, Dokumenten-Management- Software und vor allem Groupware-Produkte.

Während die Medien sich auf das Phänomen Internet stürzten, fand die damit verbundene Technologie fast unbemerkt rasante Verbreitung hinter den firmeneigenen Firewalls. Alle Zahlen von Marktforschern und Herstellern bestätigen, daß wesentlich mehr Web-Server in Intranets zum Einsatz kommen als im Internet selbst. Eine Umfrage der Bluestone Inc. ergab, daß mehr als 80 Prozent der Entwicklung von Web-Applikationen für Intranets erfolgen. Die Meta Group fand heraus, daß drei Viertel aller Web-Server firmenintern genutzt werden. Eine von vier der Fortune-1000-Companies hat bereits ein inhäusiges Web in Betrieb. Und das ist erst der Anfang. Forrester Research behauptet, daß der Umsatz mit Intranet- Servern im Jahr 2000 eine Milliarde Dollar überschreiten wird. Über 80 Prozent aller Unternehmen wollen nach einer Umfrage der Business Research Group bis Ende 1997 einen internen Web-Server installieren, Zona Research prophezeit ein Umsatzwachstum um das 16fache für Intranet-Software auf acht Milliarden Dollar innerhalb der nächsten drei Jahre.

Die ausgesprochen schnelle Aneignung von teilweise noch neuen Technologien entspringt sicher nicht einer unkontrollierten Internet-Euphorie von DV-Entscheidern. Intranets und der oft damit ausgerufene Paradigmenwechsel bieten eine Reihe von unübersehbaren Vorteilen.

Gleich mehrere davon bietet alleine die Verwendung offener Standards wie der Hypertext Markup Language (HTML), des Hypertext Transfer Protocol (HTTP), des Simple Mail Transfer Protocol (SMTP), des Interactive Mail Access Protocol (IMAP) oder von TCP/IP. Sie haben sich in zahlreichen großen Installationen bewährt und sind vor allem nicht im Besitz eines Herstellers. Außerdem ist damit die Anbindung von Intranets an das Internet denkbar einfach und erlaubt es externen und mobilen Anwendern, von dort auf Unternehmensdaten zuzugreifen. Darüber hinaus macht die Standardisierung den unkomplizierten Informationsaustausch zwischen Intranets von Geschäftspartnern via Internet möglich (im Netscape-Jargon "Extranet").

Die firmeninterne Benutzung von Internet-Technologien hat den angenehmen Nebeneffekt, daß viele Anwender mit der Benutzung von Browsern bereits vertraut sind und das Navigieren in Hypertext- Dokumenten beherrschen. Zudem ist die Bedienung von Web-Clients derart einfach, daß sie auch ohne Schulung in Form von Internet- Surfen leicht zu erlernen ist. Mit der Ausweitung des Intranet für immer mehr Dienste etabliert sich der Browser als universeller Client. Der Benutzer hat es für verschiedene Arbeitsabläufe immer mit dem gleichen Interface zu tun, was die Bedienung von Programmen vereinfacht und Fehlerquellen reduziert.

Basisdienste sind einfach zu realisieren

Generell zeigen Erfahrungen mit Intranets, daß auch Basisfunktionen wie "Document Sharing" ziemlich einfach zu realisieren sind. HTML ist leicht zu erlernen, außerdem gibt es schon zahlreiche Tools, die das Erstellen von Web-Seiten vereinfachen. Deshalb kommt es häufig vor, daß Arbeitsgruppen oder Abteilungen auf eigene Faust und vorbei an konservativen DV- Abteilungen an eigenen HTML-Seiten basteln. Die Einrichtung eines Web-Servers stellt ambitionierte PC-Anwender vor keine großen Probleme, die Software ist kostenlos über das Internet zu bekommen. Die Hardware-Anforderungen sind ebenfalls gering, ein ausgemusterter Arbeitsplatzrechner tut es für den Anfang. Schlimmstenfalls bedarf es nicht einmal eines Web-Servers, sondern es genügt selbst ein Verzeichnis auf dem File-Server. Oft sind es solche Initiativen, die den Intranet-Zug erst ins Rollen bringen. Die amerikanische CW-Schwesterpublikation "Computerworld" berichtet von einer Elektronikfirma in Florida, wo ein Produkt- Manager ohne das Wissen der IT-Abteilung 500 HTML-Dokumente über ein Verzeichnis des hauseigenen Netware-Servers zugänglich machte.

Er fürchtete den Einspruch der DV-Profis, die dem Intranet-Boom wenig abgewinnen konnten und wahrscheinlich mit möglichen Netzwerkproblemen argumentiert hätten. Als sie nach mehreren Monaten mit den vollendeten Tatsachen - einem voll funktionstüchtigen Publishing-System - konfrontiert wurden, gaben sie den Weg frei für einen eigenen Web-Server.

Hinter solchen Ambitionen von Anwendern steht der Wunsch nach besserem Informationsfluß innerhalb des Unternehmens, der von herkömmlicher DV kaum berücksichtigt wird. Deren Entscheider schrecken nämlich häufig vor den Kosten von Dokumenten-Management- Systemen oder aufwendigen Groupware-Lösungen zurück. Mit der Web- Technologie erwächst beiden jetzt eine ernsthafte Konkurrenz.

Anbieter solcher Produkte reagieren indes auf die Intranet- Herausforderung. So bietet beispielsweise Zylab eine Web-Variante seines Archivierungssystems an. Während Konkurrenten wie Easy, die noch stärker dem Desktop-Paradigma verhaftet sind, gerade die wuchtigen 16-Bit-Windows-Programme ihrer File-Server-Lösung auf 32 Bit hieven, erwartet Johannes Scholtes von der europäischen Zylab- Niederlassung, daß die Umsätze mit der Web-Server-Version schon im dritten Quartal 1996 jene mit der Windows-Variante übertreffen wird. "Alle wollen plötzlich Intranet-Lösungen, das Preisargument ist unschlagbar", kommentiert er diese Entwicklung. Sie bietet aber nicht nur Anlaß zur Freude. Bei der Windows-Applikation war die Preispolitik noch klar: eine Lizenz pro Arbeitsplatz. Die Web- Server-Variante wirbelt dieses Lizenzierungsmodell nun durcheinander, da beliebig viele Anwender darauf zugreifen können.

Intranet versus Groupware

Nach allgemeiner Einschätzung spielen Workflow- und Groupware- Produkte eine zentrale Rolle beim Business Process Engineering. Sie sollen dazu beitragen, Arbeitsabläufe zu straffen und im Unternehmen vorhandene Informationen besser zu nutzen.

Kaum hatte sich die IBM das führende Groupware-Produkt "Notes" durch die Lotus-Übernahme einverleibt, da wurde es auch schon wegen des prognostizierten Intranet-Booms totgesagt. Tatsächlich lassen sich über ein Intranet traditionelle Groupware-Funktionen einfach und kostengünstig realisieren. Dazu gehören Dokument- Datenbanken, Diskussionsforen und E-Mail. Intranet-Verfechter bemängeln an Notes, daß es nicht auf offenen Standards basiere und proprietäre Protokolle, Sicherheitsfunktionen und Datenbanken verwende. Umgekehrt verfügen aber Web-basierte Lösungen längst nicht über die Möglichkeiten einer integrierten Groupware-Lösung wie Notes.

In der Praxis konvergieren beide Ansätze. Hersteller von Groupware öffnen sich den Internet-Standards, während Anbieter von Web-Tools Back-end-Funktionalität erst nachrüsten, die beispielsweise Notes schon heute besitzt. So will Netscape mit dem zugekauften "Collabra" Workflow-Funktionen in seine Intranet-Lösung einbauen. Umgekehrt bringt Lotus unter dem Namen "Domino" Mitte des Jahres ein Zusatzmodul für Notes heraus, das Web-Browser als fast gleichberechtigte Front-ends mit der proprietären Client-Software zuläßt. Unterstützung für offene Mail-Protokolle ist ebenfalls angekündigt. Klar die Nase vorn hat Lotus bei Replikationsfunktionen, die besonders für mobile Anwender von Interesse sind.

Das Intranet als Entwicklungsplattform

Die anfängliche Client-Server-Euphorie hat sich mittlerweile abgeschwächt. Die verheißenen Einsparungsmöglichkeiten im Vergleich zur zentralistischen Mainframe-DV blieben weitgehend aus. Client-Server-Entwicklung hat inzwischen den Ruf, teuer und kompliziert zu sein. Verantwortlich dafür ist der Mischmasch aus proprietären Entwicklungswerkzeugen, Schnittstellen, Plattformen, Middleware und Netzwerkprotokollen - insgesamt ein Mangel an Standards. Intranets mit einem einheitlichen Front-end, einheitlichen Protokollen und ebensolcher Middleware-Architektur versprechen da Abhilfe. Und der Aufwand dafür ist relativ gering: Unternehmen, die bereits über Intranets verfügen, berichten, daß die notwendige Infrastruktur teilweise weniger als 40 Dollar pro Arbeitsplatz kostete.

Das Intranet bietet sich als Entwicklungsplattform für zwei Aufgaben an: Die Aufwertung von Legacy-Anwendungen und Vereinfachung von Client-Server-Projekten. Bei letzteren herrschen heute sogenannte "Two-tier"-Applikationen vor. Sie bestehen aus einer PC-basierten Komponente, die zumeist mit Tools wie Microsofts "Visual Basic", Powersofts "Powerbuilder" oder "SQL Windows" (Gupta, mittlerweile Centura) entwickelt wird. Diese greift typischerweise auf Datenbank-Server zu, die meist unter Unix laufen. Die gestiegenen Ansprüche an solche Anwendungen führten zu fetten Front-end-Anwendungen, die hohe Hardware- Anforderungen an die Client-PCs stellen. Die Verteilung solcher Anwendungen auf Tausende PCs bereitet Probleme, Updates des Desktop-Betriebssystems oder der Applikation verursachen den DV- Leuten generell Kopfschmerzen.

Dagegen wartet die Intranet-Architektur mit ihrer Plattformunabhängigkeit auf. Jeder Client, der über einen Browser verfügt, darf mitmachen. Der ganze Aufwand, der sich bis dato aus einem "Wir unterstützen auch den Mac" oder "Wir bieten nun das Windows-95-Update an" ergab, ist damit hinfällig. Das Betriebssystem reduziert sich nach den Worten von Serge Bernard, Mitarbeiter der französischen Netscape-Niederlassung, auf ein "Set of drivers".

Das Web bietet eine offene, einfache und robuste Dreischicht- Architektur, die dem Client-Server-Modell auf die Sprünge helfen könnte. Der Browser repräsentiert die einheitliche GUI-Komponente, der Web-Server mit der Applikationslogik die mittlere Schicht, und Datenbank-Server bilden das Back-end. Dieses Modell bietet gute Skalierbarkeit, da Anfragen von einem Web-Server sehr einfach an einen anderen weitergereicht werden können. Daß dies auch in der Praxis funktioniert, belegen die großen Web-Installationen im Internet: Jene von Netscape beispielsweise verzeichnet 17 Millionen Zugriffe pro Tag.

Die Web-Technologie läßt sich in der gleichen Form auch Legacy- Anwendungen überstülpen. Eine Schlüsselrolle übernimmt wie bei der Erweiterung von Two-tier-Anwendungen auch hier das für Web-Server standardisierte Common Gateway Interface (CGI). Wenn der URL im Web-Browser nicht auf ein HTML-Dokument, sondern auf ein Gateway- Programm zeigt, so veranlaßt der Web-Server dessen Ausführung. Es übergibt der Altanwendung alle dem Eingabeformular entstammenden Parameter. Umgekehrt nimmt es den Output der Legacy-Applikation entgegen und reicht ihn im HTML-Format an den Web-Server zurück. Der bedient damit die Client-Anfrage.

Eine solche Aufwertung alter Anwendungen gestaltet sich meist undramatisch. Thomas Mälicke von der Karlsruher Inovis GmbH beschreibt den Aufwand für die Umstellung des Bibliothekssystems der Münchner Staatsbibliothek mit etwa fünf Mannwochen. Zugute kamen der schnellen Abwicklung allerdings Vorarbeiten, die für ein traditionelles Client-Server-Front-end geleistet wurden. Das eingesetzte Bibliothekssystem "Opac", welches die Benutzer mit seinem unfreundlichen Interface das Fürchten lehrte, präsentiert sich nun im typischen Gewand einer Web-Anwendung mit Schaltflächen, scrollbaren Eingabefeldern und Optionsmenüs.

Pro

-Plattform- und herstellerunabhängige Technologie,

-relativ geringe Kosten für Hard- und Software von Web-Servern,

-geringe Anforderungen an Desktop-Rechner,

-mit HTML lassen sich sehr einfach Frond-ends erstellen,

-Browser als einheitliche Benutzer-Schnittstelle auf allen Betriebssystemen,

-gute Skalierbarkeit sowie

-geringer Aufwand bei Updates und Softwaredistribution.

Contra

-Fehlende Management-Tools für große Web-Sites,

-Umstellung auf TCP/IP ist erforderlich,

-HTML hat enge Grenzen bei der GUI-Entwicklung,

-Programmierstandards wie Java befinden sich noch in einer frühen Phase,

-Technik zur gemeinsamen Bearbeitung von Dokumenten ist kaum entwickelt sowie

-umfassende Lösung muß aus verschiedenen Produkten zusammengestellt werden, Groupware-Plattformen bieten dagegen einheitliche Umgebung.