"Das Internet zwingt die Unternehmen zur Kooperation"

24.09.1999
Mit Günther Tolkmit, SAPs Vice-President Corporate Marketing, sprach CW-Redakteur Hermann Gfaller auf der Sapphire ''99 in Philadelphia.

CW: Mit der Mysap.com-Ankündigung gehört die SAP zu jenen, die progagieren, daß Unternehmen ihre Grenzen sprengen und in einer Art via Internet organisiertem Verbund zusammenarbeiten. Sind Sie da nicht ein wenig der amerikanischen Zukunftseuphorie verfallen?

Tolkmit: Im Business-to-Business-Bereich ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich die per Internet miteinander verflochtenen Firmen durchsetzen. Der Vorsprung der Amerikaner von etwa ein bis zwei Jahren wird schrumpfen.

CW: Woher kommt das Zutrauen, daß die Unternehmen tatsächlich zu einer Zusammenarbeit via Web bereit sind?

Tolkmit: Die betriebswirtschaftliche Dimension des Internet ist, daß Unternehmen nur noch durch das Teilen von Informationen erfolgreich sein können und nicht durch Beharren auf Betriebsgeheimnisse. Das Internet zwingt die Unternehmen zur Kooperation.

CW: Ist dieses Geschäftsmodell nicht ziemlich kompliziert?

Tolkmit: Da steckt schon noch Arbeit drin, aber darum kommt keiner herum. Die Unternehmen, die sich Marktvorteile durch das Offenlegen von bis dahin vertraulichen Informationen verschaffen, zwingen den Mitbewerb nachzuziehen. Die Wertschöpfung geschieht durch das Freigeben des vorhandenen Informationsreichtums an Partner, Zulieferer und Kunden.

CW: Das klingt ziemlich abstrakt. Ich habe das Gefühl, daß hier große Unternehmen ein Mittel gefunden haben, ihre Zulieferer und Kunden an sich zu binden.

Tolkmit: In anderen Fällen tun sich Kunden zusammen, um gemeinsam günstiger einzukaufen. Das ist zum Beispiel im Öl- und Gasbereich der Fall. Jeder muß für sich feststellen, wo seine Kernkompetenzen liegen und sich für alles andere Partner suchen.

Wir haben zum Beispiel die Kunden zu Mitentwicklern gemacht, was die Gestaltung benutzerfreundlicher Oberflächen betrifft. Dafür haben wir ihnen Einblick in unsere Entwicklungsabteilungen gegeben. Es wird natürlich weiter geschlossene Märkte geben, in denen nur wenige Partner und die Zulieferkette eingebunden werden, aber auch andere, die weitgehend für jeden offen sind.

CW: Der Re-Engineering-Experte Mike Hammer hat auf Ihrer Konferenz gesagt, daß man alle Prozesse nach außen geben soll, bei denen man nicht ganz vorne liegt. Ist es das, was Sie meinen?

Tolkmit: Ja. Diese Form des Outsourcings, die Konzentration auf Kernkompetenzen, führt dazu, daß ich Informationen mit Partnern teilen muß, um den Gesamtprozeß noch im Griff haben zu können.

CW: Besteht dann nicht die Gefahr, daß man zwar die Prozesse verbessert, aber vor lauter Koordinationsaufgaben die Produkte selbst aus den Augen verliert?

Tolkmit: Die bisherigen Erfahrungen mit ausgefeilten Zulieferketten etwa bei Dell bestätigen diese Befürchtung nicht. Dort ist auch das Produkt gut, weil der Markt keine schlechte Qualität akzeptiert. Das Beispiel zeigt, wie erfolgreich es sein kann, nicht mehr selbst zu produzieren - auch wenn der Organisationsaufwand sehr groß ist.

CW: Wie überzeugt man einen Mitbewerber zu kooperieren?

Tolkmit: Wir haben schon viele symbiotische Verhältnisse. Oracle-Chef Larry Ellison hat zum Beispiel die hinter den Zielen zurückgebliebenen Datenbankumsätze mit der Abschwächung des R/3-Verkaufs begründet. Oracles Einnahmen stehen eben direkt mit dem SAP-Geschäft in Verbindung. Mit dem Internet nehmen solche Abhängigkeiten noch zu.

CW: In Ihrem Beispiel geht es um sich ergänzende Techniken. Sie haben Oracle und andere Mitbewerber aber auch eingeladen, sich mit direkten Konkurrenzprodukten auf den Mysap.com-Markt zu begeben.

Tolkmit: Die Welt ist heterogen. Wir können niemanden ausschließen.

CW: Sie sagen, SAP wolle nicht mehr alles allein machen. Wie paßt dazu, daß Sie eigene Komponenten etwa für Supply-Chain-Management entwickelt haben, obwohl sie doch gute Partner dafür hatten?

Tolkmit: Die Kunden, die sich für unser Advanced Planner and Optimizer (APO) und gegen die Software von I2 entscheiden, tun das nicht der SAP zuliebe, sondern weil sie damit Funktionen bekommen, die I2 nicht liefert. Wir wollen mit unserem Marktplatz-Konzept eine Infrastruktur für den Wettbewerb aufbauen, an dem wir uns aber dann selbstverständlich auch beteiligen.

CW: Und da sollen I2, Siebel, Oracle und all die anderen mitmachen ?

Tolkmit: Ja, denn Koopetition gehört zu den Grundcharakteristiken des Internet.

CW: Warum sollten Unternehmen etwa der Chemieindustrie sich gerade der eigentlich fachfremden SAP-Web-Seite bedienen, um zusammenzuarbeiten?

Tolkmit: Was die branchenspezifischen Inhalte angeht, sind die Chemiekonzerne bereits dabei, sich selbst zu organisieren. Aber die DV-technische Abbildung von Prozessen gehört nicht zu deren Kernkompetenzen, das ist unsere Spezialität - auch firmenübergreifend.

CW: Themenwechsel: Warum haben Sie gegen Ihre erklärte Absicht eine OS/390-Version von R/3 herausgegeben und das fast schon ad acta gelegte Geschäft mit Adabas D wieder aufleben lassen?

Tolkmit: Ganz einfach: Jetzt ist die kritische Masse da.

CW: Und die gab es vorher nicht?

Tolkmit: Es gab zwar die Kundenwünsche, aber noch nicht die festen Entscheidungen für R/3. Jetzt lassen sich die Kosten für die Pflege dieser Versionen im Rahmen halten.

CW: Sie haben aber dennoch mit diesen Versionen zusätzliche Arbeit. Hinzu kommt das SAP-Engagement für Schulung, für Applikations-Hosting, Outsourcing, die branchenspezifischen R/3-Versionen, Erweiterungen für Supply-Chain-Management und Customer-Relationship-Management und natürlich Mysap.com. Haben Sie nicht Angst, sich zu übernehmen?

Tolkmit: Das ist eine oft gestellte Frage. Wir sind inwischen als Unternehmen um ein vielfaches größer als etwa Oracle in diesem Bereich. Da erwarten die Kunden auch mehr von uns.

CW: Es drängt sich der Eindruck auf, daß SAP angesichts sinkender Absatzzahlen hektisch versucht, sich zusätzliche Einnahmequellen zu erschließen und zudem, wie jedes Unternehmen in der DV-Branche, eine Web-Strategie aufzulegen, um am US-Markt ernst genommen zu werden.

Tolkmit: Es ist ganz normal, daß ein erfolgreiches Unternehmen seine Aktivitäten ausdehnt. Außerdem sind die Versionen für Adabas D und OS/390, die Sie ins Feld führen, nicht unbedingt Produkte, die unseren Umsatz steil in die Höhe schnellen lassen.

CW: Womit wollen Sie denn dann Ihr Geschäft machen?

Tolkmit: Natürlich machen wir nach wie vor sehr viel Umsatz mit Softwarelizenzen. Es ist uns aber mit Mysap.com eine Strategie gelungen, die das Alte in sich aufnimmt und uns zudem Zukunftsperspektiven eröffnet. Unsere Software bietet die richtige Ausgangsplattform für E-Business.

CW: Können Sie das erklären?

Tolkmit: Ein Kunde hat mir von einem Test erzählt, bei dem auf einer Web-Seite mit einer falschen Kreditkartennummer bestellt wurde. Der Anbieter läßt diese Nummer ausdrucken und durch einen Mitarbeiter per Telefon prüfen. Das dauert eineinhalb Tage, und die Ware ist bis dahin schon ausgeliefert. Bei einer Buchbestellung im Wert von 30 Mark mag das hinnehmbar sein, nicht aber bei Industriegütern. Damit will ich sagen, daß sich langsam das Bewußtsein dafür schärft, daß E-Business nicht von den anderen Geschäftsprozessen zu trennen ist.

CW: Ich habe noch nicht verstanden, wie die SAP hier Geld verdienen kann.

Tolkmit: Wir wollen in den kommenden drei Jahren jeweils um 20 bis 25 Prozent wachsen.

CW: Mit Outsourcing, Anwendungs-Hosting,...?

Tolkmit: Das wird nicht soviel bringen. Schließlich lagern die Kunden die Bereiche aus, die ihnen weniger wichtig erscheinen. Das sind vielleicht zehn bis fünfzehn Prozent der Prozesse.

CW: Mysap.com soll nach Benutzerzahl und Benutzerrolle abgerechnet werden. Ist dieses Preismodell der eigentliche Wachstumfaktor?

Tolkmit: Es gibt den Anwendern mehr Flexibilität. Sie zahlen unterschiedlich, je nachdem, ob eine Anwendung ständig und von allen oder nur ab und zu gebraucht wird. Im Prinzip steckt dahinter, daß wir um so mehr verlangen, je höher der Wert der Anwendung für das Unternehmen ist.

CW: Das klingt nach Umsatzbeteiligung...

Tolkmit: Nein. Es geht nur um die Rolle, etwa die des CEO. Der Firmenchef braucht Software, die ihm umfassende Informationen für seine Entscheidungen liefert. Er schafft damit aus unserer Sicht mehr Wert für das Unternehmen als ein Buchhalter oder Fließbandarbeiter. Deshalb sind Lizenzen für Entscheidungsträger teurer.

CW: Kommen Sie mit Ihren vielfältigen neuen Aktivitäten nicht Ihren Partnern ins Gehege?

Tolkmit: Nein.

CW: Web-Hosting zum Beispiel ist doch ein Geschäft mit wenigen, meist großen Partnern und mit vorkonfigurierten Komponenten. Wo wird hier noch Implementierungshilfe gebraucht?

Tolkmit: Wir evaluieren das Web-System, prüfen die Einpassung in die bestehende Umgebung, können es neben den Partnern auch implementieren. Das eigentliche Hosting aber bleibt das Geschäft von Partnern, und die müssen nicht notwendig Großunternehmen sein.

CW: Wie sieht es mit den für bestimmte Branchen optimierten R/3-Versionen aus, die Sie an Ihren Partnern vorbei verkaufen?

Tolkmit: Wir haben ein grobes Raster von 19 Industrien, die wir selbst bedienen. Aber diese werden dann von Partnern für sehr spezielle Einsatzgebiete etwa in Meiereien oder dem Getränkehandel angepaßt. Dafür haben wir in Deutschland das "Ready-to-run-Konzept" entwickelt.

CW: Ihr Vorstandsvorsitzender Hasso Plattner hat in bezug auf das Rollenkonzept von einem Wandel des Selbstverständnisses der SAP gesprochen, von einer neuen Kundenorientierung. Was ist damit gemeint?

Tolkmit: Bislang hatten wir eine Benutzeroberfläche für unsere Software gemacht. Im Internet geht das so nicht mehr, weil man es dort oft nicht mit geschulten SAP-Usern zu tun hat. Wir müssen uns also überlegen, was der Kunde tun will und wie wir ihm diese Funktionen zur Verfügung stellen. Deshalb gehen wir bei der Produktentwicklung vom Kundeninteresse aus. Wir haben nicht nur eine einfache Benutzeroberfläche geschaffen, sondern rollenspezifische Ausprägungen und die Möglichkeit, Produkte und Funktionen von Fremdanbietern einzubinden.

CW: Könnte es nicht sein, daß Rollenkonzept und Abkoppelung der Benutzeroberfläche die SAP von der Mühe befreit, die nur zäh fortschreitende Komponentisierung voranzutreiben?

Tolkmit: Das ist nicht ganz richtig. Wir haben immerhin schon zwölf Komponenten. Aber Sie haben insofern recht, als das Rollenkonzept die Komponentisierung aus Benutzersicht weit weniger interessant erscheinen läßt als die Integration. Schließlich lassen sich die Fremdanwendungen, die über die Extensible Markup Language (XML) in den Arbeitsfluß des Users eingebunden werden, als Komponenten auffassen.