Interview/

"Das Internet ist die grosse Chance fuer Programmierer"

19.04.1996

CW: In Ihrem neuen Buch "Decline and Fall" lassen Sie sich unter anderem ueber die Zukunftsperspektiven von Programmierern aus. Sie sagen, dass selbst der Arbeitsplatz von Entwicklern, die neuere Tools wie Visual Basic benutzen, gefaehrdet ist.

Yourdon: Es gibt eine ganze Reihe von Orten auf dieser Welt, an denen die Leute auch einen Teil vom Kuchen abhaben wollen und wo Software ebensogut entwickelt werden kann wie in den USA und Europa, aber zu einem Fuenftel oder Zehntel des Preises. Ein Programmierer in Indien verdient vielleicht 3000 Dollar pro Jahr und kann im Prinzip die gleiche Arbeit leisten wie etwa ein Amerikaner mit 60000 Dollar Jahreseinkommen.

CW: Insbesondere amerikanische Programmierer glauben aber, dass sie ein besonderes Haendchen fuer ausgezeichnetes Softwaredesign haben.

Yourdon: Stehen Sie technisch gesehen an der vordersten Linie, ist alles bestens. Doch entwickeln Sie Abrechnungssysteme in Cobol oder auch Visual Basic, dann bewegen Sie sich auf einem Gebiet, das jeder beherrschen kann. Noch vor fuenf Jahren machte Indien damit Reklame, dass die Arbeit dort billig war, auch wenn das Ergebnis nicht immer hundertprozentig ueberzeugte. Heutzutage wirbt das Land mit Qualitaet, Produktivitaet und Talent.

CW: Die gute Nachricht scheint nun das Internet zu sein?

Yourdon: Vieles haengt mit der gesamten Telekommunikation beziehungsweise ihrer Infrastruktur zusammen. In den USA hat fast jedes Kind einen Internet-Anschluss. Das gibt es in anderen Laendern nicht. Dort ist der Zugang haeufig noch Universitaeten vorbehalten, bei denen man sogar eine Erlaubnis benoetigt, um das Netz zu benutzen.

CW: Was bedeutet das fuer einen Durchschnittsprogrammierer?

Yourdon: Es gibt noch eine Reihe von Cobol-Entwicklern. Mittlerweile sehen sie sich selbst als aussterbende Spezies. Vor fuenf Jahren habe ich denen gepredigt, sie sollten produktiver arbeiten. Damals mussten sie aber keine Angst vor den Entwicklern in Indien haben, sondern vor den halb so alten Visual-Basic- Nachkoemmlingen, die fuer halb soviel Geld arbeiteten. Heutzutage achten die Cobol-Entwickler darauf, dass sie mit Delphi und Visual Basic umgehen koennen. Besser waere es jedoch, sie wuerden sich Internet-Kenntnisse aneignen.

CW: Was kaeme speziell in Frage?

Yourdan: Sie koennten zum Netscape-Experten werden oder sich auf Sicherheitsaspekte konzentrieren. Das Naheliegende waere, Verwalter eines Web-Servers zu werden. Allerdings ist inzwischen nahezu jedes Kind einer hoeheren Schule dazu in der Lage. Besser waere da schon, Java zu lernen. Das kann zwar jeder durchschnittliche Programmierer, aber wenigstens nicht jeder High-School-Zoegling.

CW: Was ist aber, wenn ich die vergangenen zwei Jahre damit zugebracht habe, ein Visual-Basic-Guru zu werden? Ich koennte argumentieren, dass dieses Wissen nun im Client-Server-Umfeld eine groessere Rolle spielt als jemals zuvor. Und hat nicht Bill Gates angekuendigt, Visual Basic Script werde auch im Internet eine Rolle spielen?

Yourdon: Es ist noch zu frueh, dazu gezielte Voraussagen zu treffen. Aber sicher wird Microsoft mit Visual Basic mitbieten - neben anderen: Delphi, Powerbuilder oder Smalltalk haben ebenfalls Chancen. Alle Anbieter solcher Tools werden Versionen fuers Internet anbieten.

Ausserdem gibt es eine Menge Dinge, die jeder selbst tun kann. Gehen Sie nach Hause, starten Sie Ihren PC, waehlen Sie sich ins Netz ein und staunen Sie, wie einfach Sie mit Leuten in aller Welt reden koennen. Sie koennen zum Java-Spezialisten avancieren und Ihre Firma ueberreden, die neue Technologie auszuprobieren. Wenn Sie merken, dass Ihre Firma der Client-Server-Technologie verhaftet bleibt, sind Sie zumindest auf einen Wechsel vorbereitet.

CW: Man sollte sich also auch ohne Ruecksicht auf das eigene Unternehmen fuer das Internet-Geschaeft fit machen?

Yourdon: Die Botschaft ist einfach: Jeder ist selbst verantwortlich fuer seine Karriere und seine berufliche Laufbahn. Wenn der Arbeitgeber die Chancen, die das Internet bietet, erkennt, um so besser. Tut er es nicht, sorgen Sie fuer sich selbst. Das Internet ist die grosse Chance. Rennen Sie ihr hinterher, selbst wenn Ihnen Ihre jetzige Firma im Weg ist.

Mit Ed Yourdon, einem der fuehrenden Experten fuer objektorientiertes Programmieren, sprach Kathleen Melymuka im Auftrag der CW-Schwesterpublikation "Computerworld".