Das Geschaeft mit dem Cyberhelm Technostress durch Maengel bei Head-mounted Displays

19.05.1995

Von Hilde-Josephine Post*

Nicht nur Tauchen im Ozean wird zunehmend populaer fuer Otto Normalverbraucher, zukuenftig kann er auch ueber seinen Home- Computer als Cybernaut in kuenstliche Phantasiewelten eintauchen. Aber wie kommt er dort hinein? Als Tor in die virtuelle Wirklichkeit offerieren hauptsaechlich amerikanische Firmen Datenhelme, die der Cybernaut aehnlich wie eine Tauchermaske ueberziehen kann. Nicht genug, dass diese Helme noch recht schwer auf Kopf und Nase lasten, wie gesund sie fuer unsere Augen sind, dieser Frage geht kaum einer ernstlich nach - oder doch?

"Mir ist schwindlig geworden, aber ich bin ziemlich empfindlich, was den Einfluss visueller Reize auf mein Gleichgewichtssystem betrifft", aeussert der Mediziner Ingolf Mertens von der University of California in Berkeley, als er aus dem Flug in Richtung schwarzes Loch durch die unterirdischen Welten des Cybertron auftaucht und sich in der nuechternen Realitaet wiederfindet. Mertens befasst sich mit den negativen Auswirkungen von elektronischen Displays auf das Sehsystem.

Heute wiegen die Displays noch mehr als ein Pfund

Das Gefuehl, wirklich in einer anderen, virtuellen Welt, im Cyberspace zu sein, kann derzeit am besten durch einen sogenannten Datenhelm vermittelt werden. Unter den Experten auch als Head- mounted Display (HMD), Headset oder Eyephone bekannt, soll diese elektronische Tauchermaske den Cybernauten in eine dreidimensionale Klang- und Erlebniswelt versetzen. Im Fachjargon nennen Experten dieses totale Eintauchen in die virtuellen Welten auch "fully immersiv virtual reality".

Wie gut das Eintauchen gelingt, ist immer noch eine Kostenfrage und haengt sehr stark von der Leistung und Geschwindigkeit des Computers, der Software, dem Sensorsystem (Trakking-System) und nicht zuletzt von der Guete des Datenhelms ab. So redlich sich auch die HMD-Hersteller bemuehen, die Helme zu verbessern, sie bleiben hinderlich und pfundschwer (von 500 Gramm aufwaerts). Fuer einen guten Datenhelm mit hoher Aufloesung muss der Cybernaut, bedingt durch den technischen Aufwand, derzeit noch mit einigen tausend Mark rechnen. Billigversionen gehen zu Lasten der Qualitaet.

Faelschlicherweise wird als Qualitaetsmerkmal eines HMDs oft vornehmlich die Aufloesung des Bildes betrachtet, dabei gibt es eine Reihe weiterer wichtiger Eigenschaften, die einen guten Helm ausmachen. Viele HMDs liefern neben der schlechten Bildqualitaet wenig Kontrast und Helligkeit und lassen sich nicht auf individuelle Sehfaehigkeiten der Benutzer einstellen.

In Verbindung damit haelt es der Mediziner Mertens fuer relevanter, generell danach zu fragen, inwieweit HMDs die visuell-motorische Koordination des Menschen beeinflussen koennen. Wie lange darf der Cybernaut den Helm aufsetzen, ohne Schaeden an den Augen oder der Psyche davonzutragen?

Die Forscher Mark Mon-Williams und John Wann der Abteilung Vision Science, Glasgow Caledonian University, sowie Simon Rushton in der Abteilung fuer Psychology der University of Edinburg beklagen, dass den physiologischen Faktoren bisher zuwenig Beachtung geschenkt werde und HMDs trotz ihrer Schwaechen sowohl im industriellen Bereich als auch im Entertainment zunehmend an Popularitaet gewinnen wuerden. Damit seien Kinder und Erwachsene in naechster Zukunft hoechst ungewoehnlichen visuellen Situationen ausgesetzt.

Auf den von Sega angekuendigten VR-Helm, der fuer das Sega "Genesis"-Spielesystem vorgesehen ist, warten Millionen Spielefans. Sein Erscheinen wird allerdings regelmaessig verschoben. Linda Jacobson aeussert in ihrem Buch "Garage Virtual Reality": "Einige Leute vermuten, dass Sega seine Plaene bezueglich des HMDs wegen der moeglichen Gesundheitsgefaehrdung fallen lassen wird."

Atari moechte bis Ende 1995 mit einem Helm fuer das "Jaguar"-System auf den Markt kommen. Er soll um die 200 Dollar kosten. In der gleichen Preiskategorie will Nintendo mit einem VR-Headset den Markt erobern.

Billig-Displays gibt es zuhauf

Die Anzahl der Billigversionen von Datenhelmen nimmt rapide zu. Das amerikanische Unternehmen Victor Maxx praesentierte bereits im Sommer 94 den Cyber-Maxx-Helm in den USA, den es mittlerweile bei Karstadt fuer 2000 Mark zu kaufen gibt. Inzwischen hat das Kaufhaus laut Wolfgang Alt, Abteilungsleiter fuer den Computerbereich in Muenchen, den Verkauf eingestellt, da das Preis-Leistungs- Verhaeltnis nicht stimme.

"Die Firma Virtual I/O aus

Seattle moechte 1995 gleich drei PDS (Personal Display Systems) fuer den Unterhaltungsbereich auf den Markt bringen", schreibt das Magazin "Digi Media". Dort heisst es weiter, im ersten Quartal solle der "PDS-Gamer" fuer rund 250 Dollar erhaeltlich sein: eine etwa 450 Gramm schwere LCD-Brille einschliesslich Kopfhoerer und Stereo-Optik (104000 Pixel). Zielgruppen seien vorrangig amerikanische Videospieler, die auf dem geplanten Sega-Kabelkanal zirka 50 Spiele abrufen koennen. Der Kanal sei zukuenftig in ueber 31 Millionen Haushalten zu empfangen. Eine weitere verbesserte PDS- Version mit 138000 Bildpunkten gebe es dann fuer ungefaehr 400 Dollar. Die dritte Version liefere ueber zwei Fernsehroehren eine Aufloesung von 307200 Bildpunkten. Diese Ausfuehrung duerfte allerdings wesentlich schwerer sein als die LCD-Brillen.

Das deutsche Magazin "Data News" pries in der Ausgabe 9/1994 den Datenhelm "VFX1" (Aufloesung 428 x 244 Pixel) der amerikanischen Firma Forte Technologies. Der Preis fuer das VR-System einschliesslich Helm und Navigator soll bei 2000 Mark liegen. Gleichzeitig gibt "Data News" aber auch Ratschlaege, wie sich der VR-Begeisterte verhalten soll, wenn er seinen Helm aufgesetzt hat: "Vermeiden Sie extrem ruckartige Kopfbewegungen (...) Speziell Menschen mit Gleichgewichtsproblemen sollten sich in eine sichere Position bege-ben, druecken Sie von Zeit zu Zeit die Pausentaste Ihres Spiels

und klappen Sie das Visier hoch."

Wird sich der Benutzer an solche umfangreichen Regeln halten? Mertens macht darauf aufmerksam, dass gerade bei Kindern die Gefahren fuer bleibende Schaeden groesser sind, da sich das Sehsystem noch in der Entwicklung befindet (siehe Interview mit Ingolf Mertens auf Seite 55).

Trotz rasanter Entwicklungsfortschritte hinken die synthetischen Welten der realen hinterher. Das heisst, wenn der Cybernaut seinen Kopf bewegt, schwappt die Perspektive des virtuellen Raumes nach, wenn auch nur um Zehntelsekunden. Deshalb vermutet der Forscher aus Berkeley auch: "Da es noch keine wirkliche Echtzeit bei den VR-Systemen gibt, bedeutet das,

dass ich mein Auge-Kopf-System jetzt noch komplizierter umprogrammieren muss." VR-Pionierin Jacobson erwaehnt in "Garage Virtual Reality", dass eine Verzoegerung um mehr als 100 Millisekunden bei einigen Personen ein Schwindelgefuehl ausloesen koenne. Sogar eine Latenzzeit von 50 Millisekunden erkenne der Mensch noch. Laenger als 30 Minuten ohne Unterbrechung solle man stereoskopische HMDs und VR-Brillen nicht tragen.

Deutsche Mediziner kennen die Gefahren

Aehnliche Erfahrungen sammelte Klaus Boehm, der sich beim Zentrum fuer Graphische Datenverarbeitung in Darmstadt mit der Interaktion in virtuellen Raeumen beschaeftigt: "Ich habe nach kurzem Anwenden immer ein starkes Schwindelgefuehl und muss den Helm dann absetzen. Meiner Meinung nach liegt das daran, dass dem Benutzer etwas vorgegaukelt wird, was er zwar sieht, das aber sein Gleichgewichtssinn nicht mitbekommt."

Wer einen HMD traegt, nimmt nur optische Reize wahr, nicht aber die normalerweise zeitgleich etwa ueber Tast- oder Geruchssinn empfundenen kinaesthetischen Einwirkungen. Der Kinderpsychotherapeut Thomas Steinke, Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Darmstadt, vermutet daher auch, wenn Kinder solche Helme sehr lange tragen, "kann es vermehrt zu Integrationsstoerungen der unterschiedlichen Reize kommen".

Das heisst, Kinder muessen ueber Erfahrung lernen, die unterschiedlichen Reize (Sehen, Hoeren, Tasten, Schmecken, Riechen), die in der realen Welt gleichzeitig auf sie einwirken, zu sortieren. Das geschieht ueber Filterfunktionen des Stammhirns, das bei Kindern noch nicht voll ausgebildet ist. Bewegen sich Kinder aber sehr haeufig in der virtuellen Welt, erfahren sie die Gleichzeitigkeit dieser Reize nicht. Das Umschalten in die reale Welt kann dann als Reizueberflutung empfunden werden. Das koenne laut Steinke zu Symptomen wie Konzentrationsstoerungen und uebersteigertem Bewegungsdrang fuehren.

Der Berkeley-Mediziner Mertens verweist auf eine weitere Schwachstelle: die unnatuerliche Tiefenwahrnehmung. Schaut der Mensch in die Naehe, so kruemmen sich seine Linsen stark, die Blickachsen konvergieren, blickt er in die Weite, flachen sich die Linsen ab, die Blickachsen laufen parallel.

"In allen VR-Systemen, die es bisher gibt, wird diese Kopplung ausser Kraft gesetzt. Die Displays erzwingen einen fixen Abstand vom Auge zum Bild. Das heisst, die Kruemmung meiner Augenlinse (Akkommodation) wird konstant gehalten, waehrend Vergenzbewegungen der Augen stattfinden muessen, um Gegenstaende, die verschiedene raeumliche Tiefen besitzen, auf der Netzhaut zu fusionieren", erklaert Mertens. Das sei etwas sehr Unnatuerliches.

Hierbei verweist der deutsche Mediziner auf die Untersuchung der britischen Forscher Mon-Williams, Wann und Rushton, die die Sehfaehigkeit von 20 Personen testeten, nachdem sie fuer zehn Minuten einen der populaersten Helme, das HMD "VPL Eyephone LX", getragen hatten. Zwoelf Probanden zeigten Symptome wie Kopfschmerzen, Schwindelgefuehle, traenende Augen. Sie sahen Doppelbilder und einiges mehr, "und zwar aufgrund der Tatsache, dass die Akkomodation und die Vergenz entkoppelt waren". Die Forscher halten es fuer sinnvoll, fuer die Nutzung der HMDs gesetzliche Richtlinien zu ziehen.

Ob HMD-Traegern Strahlenschaeden drohen, wurde bis dato nicht systematisch untersucht. Bei den Mobiltelefonen vermuten Experten Einfluesse der elektromagnetischen Felder auf die Gehirnstroeme. Genaue Ergebnisse sind auch hier noch nicht formuliert. Mertens meint dazu:

"Bei Datenhelmen mit LCD sind die Strahlen vernachlaessigbar. Bei den kleinen Monitoren, die auf Kathodenstrahlroehren basieren und im Abstand von zwei bis drei Zentimetern vor dem Auge sitzen, koennte sich das Problem allerdings stellen. Auch gibt es Hinweise dafuer, dass das von der Kathodenstrahlroehre ausgehende magnetische Feld negative Auswirkungen haben kann."

Der Mediziner verweist auch auf die Risiken zukuenftiger Entwicklungen: "Es wird noch gefaehrlicher, wenn die Leute mit Displays auf den Markt kommen, die mittels Laserstrahlen Bilder direkt auf der Netzhaut des Auges erzeugen.