Web

Das E-Business braucht neue CIOs

20.11.2000
Gartner hatte Anfang des Monats zur ITXpo in Cannes geladen. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen die Veränderungen der IT-Landschaft durch die allgegenwärtige Vernetzung der Unternehmen.

Von CW-Redakteur Gerhard Holzwart

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Während das E-Business die Geschäftslandschaft verändert und sich letztlich auch ganze Gesellschafts- und Wertesysteme in Richtung digitale Wirtschaft bewegen, stellt sich bereits die Frage, wie Firmen und Organisationen nach der Einführung der Internet-Ökonomie aussehen werden. Dieses Zukunftsszenario stand jedenfalls im Mittelpunkt des Europa-Symposiums "ITXpo 2000" von Gartner. Die Botschaft für die mehr als 4000 in Cannes anwesenden IT-Manager war eindeutig: Die Wandlung zum Business-orientierten Manager ist unabdingbar. Und: Dessen eigentlicher "Job" wird nicht einfacher - mehr als die Hälfte aller IT-Aktivitäten werden sich über kurz oder lang auf Bereiche außerhalb der klassischen Unternehmensgrenzen konzentrieren müssen.

Es hat bei Gartner schon Tradition, dass zum "Warm up" einer ITXpo das Auditorium durch provokante Thesen wachgerüttelt wird. President und CEO Michael Fleisher stellte in seiner kurzen Eröffnungsansprache eigentlich nur drei Fragen, von deren Relevanz ihm zufolge sich alles im Zusammenhang mit dem E-Business und damit der Zukunft der Informationsverarbeitung in Unternehmen ableiten lässt. Entscheidend sei, so Fleisher, nicht die Frage, ob "das Internet die Industrie und die Gesellschaft verändert". Auch nicht, ob Vorstände und CEOs dieses "machtvolle Instrument nutzen wollen". Von Belang sei vielmehr ein anderer Aspekt - der nämlich, wer "im Unternehmen neue Technologien erkennt und zum Einsatz bringt".

Und hier sieht es derzeit offenbar für die IT-Verantwortlichen nicht sehr rosig aus. Der Gartner-Chef lieferte die Begründung gleich mit, in dem er den Finger direkt in die Wunde vieler Konferenzteilnehmer legte. "Wen konsultiert Ihr CEO bei E-Business-Projekten?" Antwort: "Nicht Sie". 40 Jahre lang sei, so Fleisher, die IT "bloßer Kostenfaktor" gewesen, jetzt habe sie sich unumkehrbar als "Motor zur Geschäftsentwicklung" etabliert. Doch wehe dem, der in dieser Feststellung nur die Wiederholung einer seit Jahren strapazierten Worthülse von Marketiers und Beratern sieht!

Mit dieser "Hypothek" belastet hätten - salopp formuliert - die ITXpo-Besucher eigentlich wieder ihre Heimreise antreten können. Doch die Gartner-Analysten machten den IT-Managern Hoffnung - unter der Voraussetzung, dass sie den durch die Internet-Wirtschaft ausgelösten "Cultural Change" selbst vorleben, sich quasi an dessen Spitze setzen. "Sie allein verstehen die Technologie, können die Folgen ihres Einsatzes beurteilen und abschätzen. Sie müssen nur endlich beginnen, wirtschaftlich zu denken", hieß es sinngemäß in zahlreichen Vorträgen. Bedingungen für ein "Comeback" klassischer IT-Professionals als Lenker (und Denker) in E-Business-Projekten seien aber eine endgültig neue Definition der Rolle des CIO sowie das "Schlachten einiger heiliger Kühe der IT".

Letzteres dürfte vor allem auch deshalb notwendig sein, weil gemäß dem von Gartner im vergangenen Jahr vorgestellten so genannten "E-Business-Hype"-Zyklus viele Unternehmen in den kommenden zwölf Monaten zunehmend realisieren werden, dass das "Going E" nicht das automatische Allheilmittel für alle Probleme war, und deshalb ernsthaft an ihren einschlägigen Investitionen zweifeln. Mit fatalen Folgen, wie Alexander Drobik, Gartner-Vice-President für Business Management Research, zu bedenken gab. Denn spätestens jetzt gehe es ans Eingemachte, muss sich der Erstellung eines einfachen Online-Auftritts eine unternehmensweite E-Business-Strategie unter Einbeziehung von Geschäftspartnern, Lieferanten und Kunden anschließen. Mit anderen Worten: Die IT ist gezwungen, den drei wichtigsten Business-Trends Globalisierung, Virtualisierung und Transparenz zu folgen.

Zu besagten heiligen Kühen der IT gehört deshalb laut Gartner in erster Linie das traditionelle Back Office samt mehr oder weniger intelligent implementierte Front-End-Insellösungen. Rein produktbezogen betrachtet bedeutet dies: Ein ERP-System (Enterprise Resource Planning) ohne integrierte Supply-Chain-Management- (SCM) und Customer-Relationship-Management-Lösung (CRM) ist künftig so gut wie nichts mehr wert. Gartner-Vice-President Peter Sondergaard zerstörte in diesem Zusammenhang mehr als nur eine Hoffnung: "Unterschiedliche IT-Lösungen, die lediglich die Interaktion mit dem Kunden überwachen, werden nicht die gewünschten Einnahmen und Profite bringen. Mehr als 45 Prozent aller CRM-Initiativen, die sich auf die Effizienz im Kundendialog fokussieren, haben keinen Zusatznutzen." Gefordert sei vielmehr eine "effektive Anwendungsintegration", die - zur Erhöhung der Kundenloyalität - der Business- und Marketing-Strategie des Unternehmens angepasst wird und damit den "geschäftlichen Erfolg" sicherstellt.

Einfacher gesagt als getan, denn für die IT-Manager heißt das zunächst: Die ewigen Diskussionen, die Konflikte mit den Business-Verantwortlichen (und Fachabteilungen) finden ihre Fortsetzung dort, wo sie bis dato kaum ein Thema waren - bei den "Mission-critical"-Anwendungen. Und die Gartner-Analysten setzten quasi noch einen drauf, indem sie in Cannes weitere "Major Trends" formulierten. Nur diejenigen Companies, die eine sich an ihrem Business orientierende Anwendungsintegration als Kernstück der Unternehmensstrategie nicht bloß definieren, sondern sie auch bedingungslos umsetzen, werden zu den "künftigen Gewinnern in der Post-E-Business-Ära" zählen. Spätestens in acht Jahren dürfte, so die These von Gartner, der Begriff "E-Business" ohnehin völlig aus dem Geschäftsvokabular verschwunden, die heute aufgeregt diskutierte Internet-Ökonomie pure Selbstverständlichkeit sein.

Gewissermaßen als Katalysatoren wirken sich dabei neben den Entwicklungen im Internet die Technologieschübe in der mobilen beziehungsweise drahtlosen Kommunikation aus - vor allem in Europa. Hier sei, wie es in Cannes hieß, "eine Art Revolution" zu beobachten, die einen sichtbaren Markt schafft, bei dem der Kunde "die Führungsposition einnimmt". Als Konsequenz rät Gartner den Unternehmen daher - neben der erwähnten Verzahnung von IT- und Business-Strategie - , auf absehbare Zeit mindestens die Hälfte ihrer laufenden IT-Investitionen für kundenfokussierte Anwendungen auszugeben. Was um so bedeutsamer ist, als Gartner in den kommenden zehn Jahren einen Anstieg der herkömmlichen IT-Bugdets in Anwenderfirmen von derzeit fünf bis sieben Prozent des Umsatzes auf mindestens zehn Prozent prognostiziert.

Folgt man diesem Credo, dürfte künftig eine Menge Geld in Applikationen und Dienstleistungen fließen, die in ihrer Dimension heute zum Teil nur in Ansätzen erkennbar und abschätzbar sind: ERP-Systeme der "zweiten Generation", "intelligente" und "transparente" CRM- und SCM-Lösungen, das mobile Endgerät mit Internet-Zugang als künftige IT-Zentrale - nicht nur beim bestellenden Kunden, sondern auch beim Lieferanten und Auftragnehmer, wo beispielsweise der Vertriebsmitarbeiter via Handy, PDA (Personal Digital Assistant) oder Notebook direkten Zugriff auf die gesamte Prozess- und Logistikkette seines Unternehmens hat. Gartner kleidet dieses Szenario in den etwas missverständlichen Begriff einer "Net Liberated Organisation".

Firmen werden (das ist ein weiterer "Major Trend"), nachdem sie in besagtem Hype-Zyklus das "Tal der Desillusionierung" durchwandert und sich entsprechend aufgestellt haben, keine separaten E-Business-Aktivitäten mehr an den Tag legen, sondern E-Business ganz einfach "leben". Das Internet befreie dann als wichtigster Faktor Organisationen von Einschränkungen hinsichtlich Zeit (wann Geschäfte getätigt werden), Ort (wo Geschäfte getätigt werden), Hierarchien (wie Personen miteinander agieren), Besitz (wem gehören die eingesetzten Vermögenswerte beziehungsweise Produktionsmittel) und Informationen, hieß es in Cannes etwas pathetisch.

Doch die Gartner-Analysten ließen diesen hehren Worten konkrete Prognosen folgen: Bereits in fünf Jahren werden demnach 90 bis 95 Prozent der dann weltweit noch existierenden Top-2000-Unternehmen diese "Net-Liberated"-Geschäftsphilosophie als vorrangiges Organisationsmodell nutzen. Und was noch wichtiger sein dürfte: Dieser "Avantgarde" winkt laut Gartner nicht nur entsprechender Imagegewinn, sondern eine Verbesserung der Gewinnspanne zwischen fünf und 25 Prozent.

Unabhängig davon müssen IT-Verantwortliche aber auch in Zukunft ihre täglichen Hausaufgaben lösen können. Die technische beziehungsweise taktische Empfehlung, wonach das Thema Anwendungsintegration in den kommenden Jahren der Bereich sein dürfte, der den größten Einfluss auf die Business-Strategie haben wird, konnte Gartner allerdings nur mit wenig konkreten und weiterführenden Aussagen untermauern. Grundsätzlich gehörten nicht nur "heilige Kühe" wie das Back Office oder der laufende Betrieb von Legacy-Applikationen, sondern jedes neue IT- respektive E-Business-Projekt auf den Prüfstand, hieß es. Man müsse immer öfter den Mut haben zu sagen: "Das können andere besser".

Laut Sondergaard ist das Thema Anwendungsintegration allerdings nicht so einfach, wie es sich derzeit anhört. "Bis 2005 werden für Unternehmen wichtige Investitionen und strategische Entscheidungen im Zusammenhang mit Integrationsbemühungen doppelt so komplex sein wie das ERP-Umfeld von gestern. Trotz aller Versprechen der großen Anbieter dürfte keine Einzelapplikation mehr als 40 Prozent des Gesamtbedarfs an Anwendungen im Unternehmen ausmachen."

Eine neue Generation von Dienstleistern ist also gefragt. Laut Gartner können und werden nur Application Service Provider (ASPs) der Schlüssel für diese Herausforderungen sein. Kein einzelner E-Business-Consultant, Anwendungsanbieter oder IT-Solution-Provider sei in der Lage, erfolgreich ein Projekt im Bereich "E-Business-Transformation" ohne "das Element ASP" zu betreiben, hieß es. Anwendern könne man daher nur raten, auf so genannte One-Stop-Shopping-Lösungen zu verzichten und einen kompetenten ASP in die Strategie einzubinden. Bei dieser Partnersuche sei allerdings große Vorsicht und damit eine "Ausweichstrategie" angebracht. Schon bis 2004 dürften mehr als 80 Prozent der heute in diesem Bereich existierenden Dienstleister entweder durch Konsolidierung oder durch Scheitern vom Markt verdrängt werden.

Apropos Konsolidierung: Sehr pointiert setzte sich Gartner in Cannes mit dem derzeitigen "Mega-Hype" um Internet-Marktplätze auseinander. Einerseits sei hier nach wie vor mit einem kräftigen Anstieg von Umsätzen, vor allem im B2B-Sektor (Business-to-Business), zu rechnen. Gartner prognostiziert hier beispielsweise alleine für Europa bis 2004 ein Marktvolumen rund einer Billion Dollar; weltweit könnte es dann schätzungsweise über 7000 solcher digitalen Basare (inklusive einschlägige B2C-Aktivitäten, Business-to-Consumer) geben. Diese Zahl wird sich Gartner zufolge mittelfristig aber wieder deutlich reduzieren - vor allem dürften 95 Prozent aller B2B-Dotcoms, die im Windschatten dieses Trends segeln, wieder von der Bildfläche verschwinden.

Nach dem im vergangenen Jahr in Cannes vorhergesagten Shakeout bei Internet-Startups im B2C-Bereich, der wenige Monate später Realität wurde, ist demnach eine weitere Marktbereinigung zu erwarten. Wen wundert´s, dass die Gartner-Analysten bei dieser Prognose angesichts ihres "Erfolges" im Vorjahr sichtlich Oberwasser hatten. Sondergaard sprach diesbezüglich von "notwendigen Marktkorrekturen". Die Zukunft werde, so der Vice President, nicht nur im B2B-Sektor gemischten, also "click-and-mortar"-orientierten Geschäftsmodellen gehören. Reine Dotcom-Companies müssten "ihre Nachteile in puncto Markenidentität, Effektivitätszuwachs und Produktivität durch Mehrwert in anderen Bereichen ausgleichen". Sondergaard vermied zwar in diesem Zusammenhang das momentan grassierende Unwort der New Economy, sang aber dennoch das Hohelied auf die (lernbereiten) alten Industrien: "Traditionelle Unternehmen sind in der Lage, neue Modelle und die Vorteile von E-Business-Strategien zu adaptieren, während sie gleichzeitig ihre fundamentalen wirtschaftlichen Vorteile bewahren können."

Das könnte, nein muss auch in Zukunft das Motto des IT-Managements sein, für das Gartner - wie schon erwähnt - derzeit kaum konkrete Lösungshilfen parat hat. "Redefining the role of the CIO" (Chief Information Officer) war trotzdem eines der weiteren Schlagworte, das durch zahlreiche Vorträge der ITXpo geisterte. Glück im Unglück für Unternehmen, die - ironisch formuliert - diese "Stabsstelle IT" bis dato überhaupt noch nicht eingerichtet haben. Dort kann man jetzt quasi auf der grünen Wiese beginnen.

Mit dem Unternehmensvorstand kommunizieren, eigene Management-Teams aufstellen, jedes Projekt mit einem individuellen Business-Plan versehen - Kontrolle des jeweiligen Returns on Investment inklusive! Das Pflichtenheft, das Gartner hier aufstellte, ist alles andere als neu. Bleibt die mancherorts sicher unbequeme Frage, was CIOs und IT-Chefs bisher gemacht haben. Für Gartner kommen neben diesen Selbstverständlichkeiten jetzt aber noch neue Aufgaben hinzu. IT-Manager und CIOs müssten im Zeitalter des E-Business Initiativen und Strategien (mit-)anstoßen, mit Hilfe neuer Technologien neue Geschäftsfelder erschließen, entsprechende interne und externe Ressourcen managen und über allem das wachende Auge des Controlling haben. Dabei gebe es nur "Hopp oder Topp". Scheitere man an dieser anspruchsvollen Stellenbeschreibung, sei ein "jähes Ende der CIO-Karriere vorgezeichnet". Gelingt es den IT-Verantwortlichen indes, sich mit ihrer neuen Rolle zu arrangieren, die "Leadership" in E-Business-Projekten vom Vorstand, vom Marketing oder Vertrieb zurückzuerobern, werde in absehbarer Zeit eine weitere Frage zulässig sein: "Warum sollte ein CIO nicht die Chance erhalten, zum CEO aufzusteigen?"