Wenige technisch-wissenschaftliche Anwendungen

Das Angebot an Standardsoftware ist in letzter Zeit stark gestiegen

29.03.1991

Anwendungen, die nur unter Sinix, also dem Unix von SNI, laufen, sind nicht Thema dieses Beitrags. Vielmehr soll versucht werden, einen Abriß dessen zu geben, was sich unter dem Betriebssystem BS2000 in bezug auf Anwendungen und Software so alles tut oder auch nicht tut.

Der Siemens-Vorstand Hermann Franz hat kürzlich im Manager-Magazin (Heft 2/1991) sehr deutlich zum Thema Unternehmensstrategie zum Ausdruck gebracht, was aus Sicht der Kunden viele Jahre auch die Anwendungssoftware-Politik von Siemens bestimmt hat: Halbherzigkeit, Entscheidungsmangel und Zweitklassigkeit der Kooperationspartner.

Die Siemens-Anwender - auch noch unter BS2000 - beklagten, daß man alles selbst machen müßte, weil es kaum Tools oder Standardsoftware gab. Die Anwender vom "Big Brother" sahen sich im Vorteil, konnten sie doch für die vielfältigsten Anwendungen schon lange "von der Stange gekaufte Software" einsetzen.

Die gleichen Probleme und Chancen wie MVS

Hat sich daran nun etwas geändert? Ja, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen hat der Markt für Hosts relativ an Gewicht für Anwendungen und Anwendungssoftware, nicht aber an wirtschaftlicher Bedeutung verloren. Viele Anwendungen haben sich von den Großrechnern auf Abteilungsrechner, Workstations und die vielgescholtenen PCs verlagert. Zum anderen weiß der Kundige, daß das Angebot an Standardanwendungen im Bereich BS2000 in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen hat. Einschränkend muß aber gesagt werden, daß sich dies nicht auf die Effekte der "konfessionellen Mischehe" zwischen Neuperlach und Paderborn bezieht, mit der - weil Liebesheirat und Vernunftsehe zugleich - ewiges Glück für die Anwender annonciert wurde.

Nun aber konkret: BS2000 hat die gleichen Probleme und Chancen wie MVS. Zum heutigen Zeitpunkt laufen für viele Anwendungen mit großen Transaktionsvolumina, mit umfangreichen Datenbeständen und/oder mit hoher Integration am wirtschaftlichsten und sichersten auf propritären Systemen. Entsprechend finden sich solche Anwendungen bei Kunden aller Branchen unter BS2000 und nicht unter Unix beziehungsweise Sinix. Denn SNI führt heute für alle Anwendungen Rechner in seiner Produktpalette. SNI hat sich gegenüber dem Markt und den Standards geöffnet und bietet seinen Anwendern inzwischen eine steigende Anzahl von Verbindungen zu heterogener Hard- und Software.

Dies war nicht immer so, und die Sünden der Vergangenheit sind noch nicht völlig abgelegt doch deutliche Verbesserungen sind für die Anwender erkennbar und - was entscheidend ist - planbar: Für Industrie und auch andere Unternehmen zum Beispiel für den Großhandel, gibt es neben den SNI-eigenen Produkten IS und Siline 200 (über den mißglückten Höhenrausch mit Siline 400 wollen wir gleich wieder schweigen) SAP- und noch eine Reihe anderer Fremdprodukte, wie zum Beispiel EBO. Mit den Softwareprodukten sind die Kunden überwiegend zufrieden. Verständlich ist, daß oftmals fehlende Funktionalität beklagt wird. SAP schneidet da wegen seiner inzwischen breiten Modulpalette am besten ab. Bezüglich des Installations-, Wartungs- und Pflege-Aufwands haben wohl andere Produkte die Nase vorn.

Wenn man dieses Spektrum des Angebots von Standardsoftware mit dem von vor einigen Jahren vergleicht, dann muß sicherlich festgehalten werden daß SNI-Vetrieb und -Kunden heute eher vor der Qual der Wahl stehen, mit welchem Produkt denn nun das Kundenproblem am besten zu lösen ist. Sehr viele Anwender haben noch große Altlasten an selbst entwickelten Produkten, die - wie überall - große Teile der Entwicklungskapazitäten für Wartung und Pflege verbrauchen.

Eine wachsende Zahl von Kunden ergänzt den steigenden Anteil von Standardsoftware um strategische Eigenentwicklungen. Diese Anwender - das gilt auch für User aus anderen Branchen - wünschen sich Instrumente, die ihnen einen Verbund von Software-Eigenentwicklungen und Standardsoftware unterschiedlichster Provinienz leicht ermöglichen: einheitliche Software-Produktionsumgebung, Style-Guide, Datenbank und Data-Dictionary. Größere Anwender stehen oftmals vor dem Dilemma, ob sich die Nutzung von Standardsoftware wirklich lohnt, wenn jede Software eine eigene Software-Produktinsumgbung Entwicklungs-Tools, spezielles Know-how etc. voraussetzt.

Die BS2000-Kunden verfolgten mit Spannung die Politik von SNI bezüglich der Filial- beziehungsweise Regional-Systeme für ihre Comet- und Siline-Anbindungen an die auf dem Host unter BS2000 laufenden Zentral-Applikationen, seien es Eigenentwicklungen der Kunden oder seien es Standardsoftware-Anwendungen beispielsweise von SAP; Es hat nach Meinung vieler einfach zu lange gedauert, bis SNI klare Linie hat erkennen lassen und bis die Produktpolitik beim Kunden durchgedrungen ist.

Das neue Denken und Handeln

Erkennbar und spürbar ist aber für die Anwender das neue Denken und Handeln von SNI und zwar in Richtung auf mehr Offenheit und auch beim Eingehen von strategischen Allianzen mit Software-Entwicklern, wie es besonders deutlich wird in bezug auf SAP. Hier hat SNI aus dem langjährigen Drängen der Kunden eine begrüßenswerte Konsequenz gezogen und agiert abgestimmt mit SAP auf vielen Ebenen. (So ist mit SAP ein gemeinsames Kompetenzzentrum zur besseren Betreuung der SNI-SAP-Kunden im Aufbau begriffen.)

Solche positiven Trends lassen sich auch auf dem Feld der Versicherungswirtschaft erkennen, wo SNI ein Gemeinschaftsprojekt mit mehreren Partnern zur Erstellung einer modularen Versicherungs-Standardsoftware nahezu abgeschlossen hat. Nach Meinung der Versicherungswirtschaft hat SNI mit dem Softwarepaket "Siss" deutlich die Nase vorn (Versicherungswirtschaft, Heft 21 /1990). Diese Branche wird mit Sicherheit in naher Zukunft zunehmend mehr Standardsoftware einsetzen müssen, um dem Kostendruck im Europa von 1992 begegnen zu können. SNI darf sich hier nicht auf seinen Lorbeeren ausruhen.

Gute Karten scheint SNI auf dem Sektor der Bankwirtschaft zu haben mit seinem Softwareprodukt "Kordoba". Gerade in der Finanzbranche sind solche Standardsoftware-Produkte von Bedeutung, weil nur mit ihnen die heute fest verteilten Märkte aufzubrechen sind. Bei neuen Projekten kann es dann schon interessant sein, modulare, individuell ergänzbare Standardsoftware als Alternative zu der Eigenentwicklung zu sehen und dabei auch mit einem anderen Hardwarelieferanten zu flirten. Dieser Weg scheint für SNI zukunftsweisender zu sein, als dauerhaft nur auf die Regional-Anwendungssysteme der Großkunden aus der Finanzwirtschaft zu hoffen und periphere Einheiten und deren Software zu liefern.

Banken und Versicherungen werden in Zukunft aus Konkurrenzgründen ihren Informatikaufwand auf Notwendigkeit und Effizienz überprüfen müssen und dann für Standardsoftware eher aufgeschlossen sein, als es heute noch der Fall ist.

Auch für die Finanzwelt Standardsoftware

Verlassen wir vorerst die Finanzwelt und betrachten die "öffentlichen Anwender". Bei den öffentlichen Verwaltungen hat Standard-Anwendungssoftware für den operativen Betrieb traditionell noch eine geringe Bedeutung. (Möglicherweise ist dies ein Sparansatz.) Eine große Anzahl von Bundes- und Landesbehörden haben sehr unterschiedliche, selbst entwickelte Anwendungen unter BS2000 im Einsatz.

Für sachlich begrenzte Anwendungsfälle kann SNI eigene oder Partnerprodukte anbieten: "Golem" und "Siass" für Informations- und Dokumentationsanwendungen, für die verschiedensten kartografischen Anwendungen ist SNI mit "Sicad" Marktführer, für Kommunalverwaltungen findet "Kompakt" Anwendung. Dazu kommen dann die Partnerprodukte "Idik" und "Krw2" für das Gesundheitswesen, "Kokis" und "Kofue" für den Einsatz rund um das Autofahren, "Pfeil-2000" für Feuerwehren, "Sigeda" für Gefahrenstoffe etc. Nicht alle genannten Produkte haben die von den Kunden heute gewünschte Modernität mit Datenbank-Anschluß, Portierbarkeit etc. Aber mit diesem Problem kämpfen noch sehr viele Software-Anbieter, im Grunde für alle Branchen.

Dem Außenstehenden sind die öffentlichen Verwaltungen mit der Mehrstufigkeit vom Bund bis zur Gemeinde, den unterschiedlichen Aufgaben vom Fiskus bis zum Kataster und den hochgehaltenen regionalen und lokalen Besonderheiten ein Schreckgespenst für eine Abwicklungs-Standardisierung.

Letztlich fehlt das Korrektiv durch den Markt. Bei bestem Bemühen können Rechnungshöfe dies nicht ersetzen. Allerdings gibt es gerade bei den selbst entwickelten Anwendungen im öffentlichen Sektor eine Reihe von Kooperationen zwischen den Institutionen in verschiedenen Hoheitsgebieten, die den Entwicklungsaufwand je Anwender reduzieren helfen.

Mageres technisch-wissenschaftliches Angebot

Bislang nicht angesprochen wurde der große Sektor der technisch-wissenschaftlichen Anwendungen. Hier muß leider festgestellt werden, daß das Angebot, gemessen an der Vielfalt des internationalen Marktes, nicht übermäßig reichhaltig ist für Anwender von BS2000. VieIe der heute möglichen Anwendungen wurden durch ein Gemeinschaftsprojekt der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Siemens/SNI in das BS2000 migriert. Es ist davon auszugehen, daß Anwendungen für Wissenschaft und Technik gerade wegen der Internationalität und Austauschbarkeit von den proprietären Systemen aller Hersteller über kurz oder lang auf Unix abdriften werden. Dies ist ein Trend, der alle Hersteller treffen wird. Gewinnen dürfte langfristig jener, der die größte Offenheit für Standards zeigt, die beste Vernetzung bietet und dazu noch die Hochschulen als strategische Multiplikatoren am attraktivsten anspricht.

Blicken wir über die Grenzen der Branchen hinweg, dann können ein paar - sicher unvollständige - Schlaglichter gesetzt werden: Die Entwicklung von Anwendungen mit Hilfe von BS2000 und seinen Tools sowie ihre anschließende Portierung in andere Systemwelten ist für eine Reihe von Software Entwickler lange Zeit weniger eine Frage der Weltanschauung als vielmehr der Entwicklungs kosten gewesen. Für die Zukunft ist aber zu erwarten, daß Software-Entwicklung verstärkt mit Client-Server-Architekturen unter Unix betrieben wird.

Für verteilte Anwendungen bietet SNI mit UTM-D ein leistungsfähiges Instrument an. Es war schon früh verfügbar, aber leider ist seine Funktionalität noch für einige Zeit beschränkt auf die SNI-Betriebssysteme BS2000 und Sinix. Eingesetzt wurde UTM-D bislang aus schließlich bei Eigenentwicklungen von Anwendern, Standardsoftware nutzt diese Funktionalität bis heute kaum.

Eigenentwicklungen in der Umbruchphase

Bei den meisten Kunden sind viele Eigenentwicklungen in der Umbruchphase, bei der die Funktionalität von UTM genutzt werden kann und auch zu nehmend genutzt wird. Altsysteme sind mit begrenztem Aufwand elegant in die für Unix basierte Neu-Anwendungen installierte Client Server Architektur und die damit ermöglichte grafische Oberfläche per Emulation integrierbar.

Im Laufe des Jahres 1991 soll auf MS-DOS und später auf OS/2 die verteilte Architektur für die Anwendungen erschlossen werden.

Die Zukunft von Anwendungssoftware wird eindeutig bei verteilten oder - besser noch - verteilbaren Anwendungen liegen. Die bisher geringe Nutzung solcher Möglichkeiten der Verteilung resultiert teilweise auch daraus, daß Siemens sich früher gegenüber Markt und Standards weniger offen zeigte, und daß nur wenige Anwender einen einzigen Hard- und Softwarelieferanten haben, was die Verteilung erschwert hat.

Eine solche Abschottung aufzuheben braucht sicher seine Zeit. Zu schaffen machte der Führungsmanschaft des Herstellers sicherlich auch das "Not-invited-here-Syndrom" .

Ganz gerne mal "Quick-and-dirty-Lösungen"

Diese Einstellung, verbunden mit dem immer noch anzutreffenden ingenieurmäßigen Ansatz bei der Entwicklung von Problemlösungen, erschwerte oftmals den Einsatz von Fremdsoftware oder das Anbieten von "Quick-and-dirty-Lösungen", die ein Anwender eben auch ganz gerne einmal alternativ einsetzen möchte.

Zum Schluß noch einmal ein Zitat aus berufenem Siemens-Munde. Der langjährige Vorstandsvorsitzende Plettner hat einmal gesagt: "Wenn Siemens wüßte, was Siemens weiß!" Die Anwender denken das häufiger auch: Siemens/SNI konnte Lösungen anbieten, die sich in der Praxis bewährt haben, die aber nur einem kleinen Kreis von Wissenden bekannt waren und deshalb nur mit Glück einen nach "Lösung dürstenden" Kunden erreichten.

Keine schlechte Ausgangsposition für SNI

Für industrielle Standardanwendungen zum Beispiel ist Siemens nicht zu schlagen, wenn gemeinsame Lösungen der Bereiche Automations-Technik (AUT), Private Nebenstellen-Anlagen (PN) und Siemens-Nixdorf (SNI) angeboten werden. Warum sollten SNI und der Geschäftsbereich "Medizintechnik" (MED) nicht gemeinsam Krankenhäuser modernisieren? Weiß SNI von vergleichenden Erfahrungen seiner Kunden daß das BS2000 einen äußerst günstigen "CW-Wert" zu haben scheint? Was spricht dagegen, das Siemens/SNI-Entwicklungs-Know-how in externe Entwicklungen von Softwarehäusern und für Entwicklungen der Kunden einfließen zu lassen (zwangsweise bei Partnersoftware und freiwillig in allen anderen Fällen)?

Fazit: Anwendungssoftware und Software-Anwendungen für BS2000 sind reichhaltiger und besser als ihr Ruf.

SNI hat bei der Anwendungssoftware keine schlechte Ausgangsposition. Die Kunden wünschen sich aber mehr realisierte Offenheit.