Daimler: Schritt für Schritt zur SOA

11.04.2009
Von Dirk Gernhardt und Gunter Maag 
Die Daimler AG hat ihren Pkw-Vertrieb flexibler organisiert, indem sie eine Service-orientierte Architektur aufgebaut hat.

Eine Umgebung, die weltweit über 150 Marktgesellschaften, mehrere hundert Transportdienstleister und mehr als zehn Produktionsstandorte in die Wertschöpfungskette einbindet, lässt sich nicht mehr nach den klassischen Regeln des Requirements-Engineering entwickeln. Es ist schlicht unmöglich, die Anforderungen aller Beteiligten genau zu erheben. Deshalb hat der PKW-Vertrieb des Automobilkonzerns Daimler in den vergangenen zehn Jahren eine Service-orientierte Anwendungslandschaft entwickelt, die schnell und effizient an sich ständig verändernde Prozesse anpassbar ist.

Vor elf Jahren nannte es noch keiner SOA. 1997 stand ein gemischtes Team aus Mitarbeitern von Daimler und sd&m (heute: Capgemini sd&m) vor der Frage, wie sich bei der damaligen Daimler-Benz AG der Prozess von der Bestellung bis zur Fahrzeugübergabe stringenter organisieren ließe. Der schwäbische Autobauer stand damals vor der Einführung seiner A-Klasse. Er wollte seinen Kunden gern eine verbindliche Lieferterminzusage direkt bei der Bestellung geben und zusätzlich die Lieferzeit von 30 auf 15 Tage verkürzen – verfügbare Kapazitäten vorausgesetzt. Ein IT-System sollte den Prozess implementieren, transparent machen und so gestalten, dass er zu einem späteren Zeitpunkt auf alle Baureihen übertragen werden konnte.

Und so begann das Team, Schritt für Schritt die bestehende Anwendungslandschaft umzugestalten. Eine zentrale Rolle spielte dabei das fachliche Verständnis entlang den Kernprozessen – über alle Abteilungsgrenzen hinweg. Bei der Entwicklung und Umstrukturierung der IT-Landschaft unter dem Namen "Global Ordering" setzte das Team auf erprobte Gestaltungsansätze, die heute als die zentralen Bausteine einer Service-orientierten Architektur gelten. Dazu zählen:

  • Definition von Komponenten, die unternehmensweit eindeutig für bestimmte Geschäftsobjekte zuständig sind und Services dafür anbieten,

  • lose Kopplung der bestehenden Anwendungen mit den neu entwickelten Services, um schrittweise neue Funktionen zu entwickeln und gleichzeitig den unternehmensweiten Ansatz zu wahren, sowie

  • Entwicklung von Schnittstellen, die geschäftsbezogen, grobgranular und kontextfrei sind.

Im ersten Schritt führte Daimler die Buchung eines Produktionsplatzes einschließlich der Lieferterminzusage für die A-Klasse-Kunden ein. So konnten die Prozesse ohne übermäßigen Aufwand deutlich verbessert werden. Die Ordering-Systeme der Märkte und der Stuttgarter Zentrale wurden hierfür nur geringfügig angepasst. Schon hier zeigt sich der Charme von SOA für viele IT-Verantwortliche: Alte Systeme lassen sich beibehalten und Stück für Stück ausbauen oder verändern.

Feste Lieferterminzusage trotz loser Kopplung

Um die Lieferzeit der Daimler-Fahrzeuge zu verkürzen, musste die nächtliche Batch-Abwicklung durch lose gekoppelte Online-Systeme ersetzt werden. Alle Werke erhielten Auftragsänderungen ab diesem Zeitpunkt zeitnah online – und nicht mehr nur einmal pro Nacht. Gleiches galt für die Status- und Terminrückmeldungen der Werke an den Vertrieb. Einer festen Lieferterminzusage gegenüber dem Käufer standen zwei Hindernisse im Weg:

  1. Technisch gesehen, existiert zwischen lose gekoppelten Systemen keine Transaktionssicherheit.

  2. Fachlich kann eine optimale Produktionsreihenfolge für einen Tag – und damit ein verbindlicher Liefertermin – erst ermittelt werden, wenn schon genügend Aufträge für die Folgetage vorliegen.

Die Lösung lautet: kompensierende Services

Aus SOA-Sicht lautet die passende Antwort für das technische Problem: Entwicklung kompensierender Services. Doch eine solche Kompensation bedeutet eine Stornierung des kompletten Auftrags und führt damit zur Lieferterminverschiebung. Folglich müsste mit dem Käufer ein neuer Liefertermin vereinbart werden, der sich unter Umständen erneut verschieben würde.

Mit einer geschickten vertraglichen Lösung

Das Projektteam umging das technische wie auch das fachliche Hindernis mit einer geschickten vertraglichen Lösung. Produktion und Vertrieb verpflichteten sich, wie folgt zu verfahren: Die Produktion teilt der Ordering-Komponente freie Tagesproduktionsplätze mit, in die der Vertrieb die Aufträge bucht. Der Autokäufer erhält statt eines festen Liefertermins eine Spanne von fünf bis zehn Arbeitstagen zugesagt, die bei der Produktionseinplanung als fest einzuhalten gilt. Sie hängt von der Komplexität des Produkts und der jeweiligen Produktionsflexibilität am Standort ab und reicht aus, um eine optimale Produktionsreihenfolge zu bilden. Mit dieser Lösung gelingt es Daimler, Liefertermine – außer im Fall von Streiks oder kurzfristigen Lieferantenengpässen – konstant einzuhalten.

Möglichst wenige Versionen der Schnittstellen

Im Zusammenspiel zwischen der Zentrale und den Marktgesellschaften verbarg sich eine weitere Herausforderung. Als global agierendes Unternehmen kann Daimler nicht alle Services für die Marktgesellschaften mit den jeweils Beteiligten konzipieren. Da stellt sich die Frage, wie Schnittstellen so gestaltet werden können, dass möglichst wenige Versionen davon entstehen und unterstützt werden müssen.

In diesem Fall half die klassische SOA-Antwort weiter: Das Projektteam verwendete grobgranulare Schnittstellen und definierte vorab klare Verantwortlichkeiten im "Kundenauftragsprozess": Auftrags-Management, Vertriebsplanung und Fahrzeugdistribution sind heute Domänen. Innerhalb dieser Domänen wurden Komponenten entwickelt, denen jeweils Services zugeordnet sind. Diese wurden gemeinsam mit wenigen Marktgesellschaften konzipiert und in Form einer versionierten Programmierschnittstelle (API) oder als Dialog (GUI) implementiert.

Diese Vorgehensweise kam einem Richtungswechsel im Denken gleich: Das Projektteam bot – ausgehend von einem klar strukturierten Komponentenschnitt – von Anfang an vollständige, grobgranulare und geschäftsbezogene Services an.

Projektsteckbrief

Projektname: Global Ordering.

Branche: Automobilbau und -vertrieb.

Projektkategorie: Service-orientierte Architektur.

Herausforderung: Richtungswechsel im Denken.

Ergebnis: deutlich reduzierte Anzahl von Systemvarianten, flexible Anwendungslandschaft.

Zeitrahmen, Stand des Projekts: über zehn Jahre entwickelt, produktiv im Einsatz.

Involvierter Dienstleister: Capgemini sd&m.

Ansprechpartner: Gunter Maag, Daimler AG.

Internet-fähige Oberfläche für die kleineren Märkte

Von dieser Schnittstellengestaltung profitieren heute die Zentrale wie die 150 Länder mit ihren vielen historisch gewachsenen IT-Systemen. Beispielsweise gab es von 1998 bis heute für etwa 60 Märkte nur sechs Versionen des Ordering-Service – von denen drei parallel unterstützt werden. Für kleinere Märkte ohne eigene IT steht eine Internet-fähige Oberfläche bereit, so dass auch sie den Service nutzen können. (qua)