Das alternative Betriebssystem

CTOS tritt als Konkurrent von Unix und OS/2 in den Ring

07.12.1990

Verteilte Verarbeitung ist bereits der Normalfall in Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft. Das trifft gegenwärtig auf die lokale Verteilung zu, in großem Tempo greift diese Methode auf geografisch entfernte Ressourcen über Logischerweise ist mit dieser Entwicklung auch die Forderung nach Standards verbunden. Problematisch erscheint, daß der bevorzugte Betriebssystem-Standard für Midrange-Aufgaben, nämlich Unix, aus einer Zeit stammt, in der verteilte Verarbeitung noch ferne Theorie war. Interessanterweise gilt ähnliches auch für das "junge" OS/2, das ebenfalls von dem Prinzip "alle Ressourcen auf einer Maschine" ausgeht.

Spezialisiert auf Applikationen in einer kommunikationsorientierten Umgebung ist das "größte unbekannte" Betriebssystem CTOS. Es gibt davon rund 750 000 Installationen und ungefähr 880 von unabhängigen Software-Entwicklern erstellte Anwendungssysteme.

Dazu kommen ungezählte Anwenderentwicklungen: IDC zitiert die Aufrechnung von Anbieterseite mit "mehr als 7000", bezogen auf alle Länder, wo es zu haben ist. Vor rund zehn Jahren wurde es freigegeben. Unbekannt ist CTOS nicht zuletzt deshalb, weil das runde Dutzend der OEM-Anbieter das Recht hatte, es nach eigenem Gusto zu benennen. Inzwischen sieht man ein, daß man sich damit selbst ein Bein stellt, und so wurde "CTOS/Open" gegründet, um erstens den Namen per einvernehmlichem Beschluß wieder zu vereinen und ferner Connectivity- und Portablitätsmaßnahmen bei Anbietern und Anwendern abzusichern.

Da CTOS auf Intel-Prozessoren läuft, wäre eine Portierung für den Industriestandard sicher kein Hexenwerk. Noch ist die Politik des Entwicklers jedoch so, daß für das Betriebssystem eine bestimmte, dafür entworfenen Hardware-Architektur vorgesehen ist genannt "NGEN". Hardware wie Betriebssystem werden an Lizenznehmer vergeben. Anbieter in der Bundesrepublik sind Unisys, die den Entwickler Convergent Technologies übernommen hat, Bull, die selbst NGEN-Maschinen fertigt, ferner MDS und Telenorma. Die Architektur umfaßt unter anderem auch Mehrprozessor-Systeme, die für Serveraufgaben vorgesehen sind und bis zu 128 Workstations versorgen.

Unix oder OS/2 lautet die entscheidende Frage

In der Öffentlichkeit ist ein dialektischer Prozeß im Gange, der gerade bei der These angeIangt ist: "Proprietary-Betriebssysteme sind genau das, was wir nicht mehr wollen, die Diskussion kann im Midrange-Bereich nur um die Frage ' Unix oder OS/2' gehen." Will sich hier ein proprietäres Relikt in unsere schöne neue Welt des Unix- oder OS/2-Standards einschleichen?

Tatsächlich zweifelt niemand ernsthaft an der Dringlichkeit offener Systeme. Klar ist auch, daß man sie nur durch Standards erreichen kann, wie sonst? Dies vorausgesetzt macht es Sinn, sich zu überlegen, wo sich im System die Standards eigentlich befinden müssen, können oder sollen.

Der nächstliegende Gedanke ist sicherlich richtig, aber bei näherem Hinsehen genügt er nicht allein: Wenn alle das gleiche Betriebssystem benutzen, ist das Problem gelöst Aber mit Betriebssystemen ist es wie mit Prozessoren und Hardware-Architekturen: Sie sind nicht für alle Aufgabenstellungen optimal geeignet. Die Welt des DOS der Intel-Prozessoren und der Industriestandard-Architektur zeigt anschaulich die Vor- und Nachteile.

Schnittstellen "und ähnliches Zeug"

Die Wahrheit ist simpel: Letztendlich kommt es auf die Schnittstellen an, auf nichts sonst. Das ist neuerdings auch das Argument der "Proprietären", der wenigen, die es noch es gibt, also sagen wir: So argumentiert zum Beispiel Digital. Schwer wiegt demgegenüber, was in der CW Nr. 39 von 23. September 1990 über Schnittstellen, Protokollkonverter, Übersetzer "und ähnliches Zeug" zu lesen war: "Jedes dieser Dinge funktioniert in 95 Prozent der Fälle, die restlichen fünf Prozent treiben uns in den Wahnsinn." So argumentiert ein Großanwender aus der Protestantenvereinigung "30 von Houston''.

Die Antwort kann nur lauten: Die einschlägigen Produkte müssen verbessert werden. Die ganze "Offenheit" ist ja noch in der Entwicklung, und nicht einmal ein Betriebssystem für eine einzige Prozessorfamilie wie OS/2 bis jetzt ohne "bugs", ganz zu schweigen von einem, das gerade erst zusammenwachsen will, wie es zusammengehört, nämlich Unix.

Einheits-Betriebssystem kein Glaubensbekenntnis

95,7 Prozent der Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik sind Pkws. Aber die Betreiber der 4,13 Prozent Lkws können mit Anwendungen für Pkws nichts anfangen. Das ist eine Binsenwahrheit, die auch in der Computerwelt ihre Entsprechung hat. Fünf Prozent Unsicherheit erinnern an die Zeiten des Automobils mit Anlasserkurbel unter dem Kühlergrill. Ein Maßstab für die Qualität eines Produktes muß das offene Funktionieren in allen Lebenslagen sein. (Um dies zu prüfen, gibt es übrigens heute sogar schon Spezialunternehmen für aufwendige Konnektivitäts und Kompatibilitätstests, bei denen sich Anbieter ihre Produkte zertifizieren lassen können!)

Es geht nicht darum, gegen den Strom des Unix im Midrange-Sektor oder des OS/2 im Aufstiegsbereich von DOS anzuschwimmen. Ein großer Teil der Anwendungen wird ja von diesen Betriebssystemen bestens oder wenigstens zufriedenstellend bedient. Es geht darum, aus dem Einheits-Betriebssystem kein Glaubensbekenntnis zu machen. Die Forderung sollte statt dessen lauten, daß ein System optimal für eine bestimmte Aufgabenstellung geeignet und außerdem offen zu sein habe. Offen heißt hier: "Konnektiv", also fähig, mit "fremden" Umgebungen fehlerfrei und effizient zusammenzuarbeiten und was die Anwendungssoftware betrifft, "portabel" zu sein, also nach routinemäßiger Neukompilierung softwarekompatibel.

Offen, aber auch zweckoptimiert

Arun Taneja, bei Unisys Vice-President für Marketing der Distributed Systems Division, nannte so etwas auf der "CTOS Convention" letzten Juni in Paris "optimierte, offene System" und charakterisiert den Anwendungsbereich von CTOS in folgender Weise: "CTOS ist optimiert für Netzwerk-Aufgaben und Fernkommunikation (Interconnection) unter Nutzung von beispielsweise X.25. Die Netzwerk und Kommunikationseigenschaften sind integrierter Teil des Betriebssystems. Als Anwender kommen in erster Linie Organisationen mit Zentralverwaltung einerseits und zahlreichen kleineren Geschäftsstellen und Betrieben in einer Stadt, einer Region, einem Land oder in aller Welt andererseits in Betracht. Banken und Versicherungen sind dafür typische Beispiele."

"Message-orientiert" - die andere Philosophie

Taneja verweist darauf, daß die Abhängigkeit von der ständigen Verfügbarkeit solcher Netzwerke natürlich immer größer wird. CTOS sei auf Robustheit gegenüber Störungen entwickelt. Während Unix und OS/2 prozedurorientiert aufgebaut seien, habe man CTOS von vornherein Message-orientiert entwickelt. Das bewirke seine Ausrichtung auf "mission critical environments", das heißt auf Umgebungen, in denen Aktionen typischerweise keinen Verzug erlauben. Er behauptet: "Da für prozedurorientierte Betriebssysteme die Vernetzung keine fundamentale Eigenschaft ist, wird sie auf Prozeduraufrufe als Layer (Schicht) aufgesetzt. Zwei weitere Schichten sind für einen Fernverarbeitungsprozeß notwendig, um Dienste anzufordern und zu empfangen (Named Pipes, Remote Procedure Calls). Kommunikation von Prozeß zu Prozeß wird schwerfällig, und darunter leidet die Effizienz des Netzes. Demgegenüber verkehren Client-Server-Prozesse in einem Message-orientierten Betriebssystem in genau gleicher Weise, ob sie als lokal oder als remote anzusprechen sind." Vor diesem Hintergrund wird das Betriebssystem auch als "distributiv", also aktiv "verteilend", bezeichnet.

Eng gekoppelt gibt's im Netz nicht

Als Hintergrund: Das prozedurorientierte Paradigma schließt eine enge Koppelung

ein, das heißt, da ursprünglich von einer Maschine, auf der alle Ressourcen zu finden sind, ausgegangen wurde, werden alle Maßnahmen, mit denen auswärtige Ressourcen angesprochen werden, auf einem von allen Prozeduren gemeinsam benutzten Arbeitsspeicher organisiert (shared memory). Somit widerspricht dieses Muster schon im Ansatz der tatsächlichen heute zu bewältigenden Situation. Das distributive, Message-orientierte Betriebssystem hingegen ist lose gekoppelt, das heißt, es geht bereits im Ansatz von mehreren CPUs aus.

Als Ergebnis sei, so Taneja, das Zeitverhalten im Netz wesentlich besser. Was bei CTOS Bestandteil des Systems sei, bekomme man bei OS/2 als ein Add-On unter anderen. Taneja geht auch davon aus, daß CTOS im Gegensatz zu OS/2 verteilte Datenbankanwendungen bereits heute vorweist. DOS laufe im Rahmen von CTOS teilweise besser als in der "DOS Compatibility Box" des OS/2. Die Möglichkeit, Diskless-Workstations auch unter DOS im CTOS-Netz einzusetzen, hebt er ebenfalls hervor.

Posix, API und der Presentation Manager

Das Schreiben von Applikationen, die auf einem Netzwerk fußen, erfordere bei einem prozedurorientierten Betriebssystem mehr Zeitaufwand als bei einem Message-orientierten. Ferner sei das Erweitern der Ressourcen in einem prozedurorientierten System unter Umständen mit viel Aufwand verbunden.

Zu den "unbekannten Tatsachen über CTOS" dürfte auch gehören, daß es das erste Non-Unix-Betriebssystem ist, für das eine Posix-Server-Software geschrieben wurde. Datafocus testete die Programmanpassung unter diesem Server entsprechend der sogenannten Posix-Test-Suite des U.S. National Institute of Standards and Technology. Daraufhin wurde CTOS als neuer Maßstab angelegt und die Fest-Suite für alle Nachfolger nach strengeren Maßstäben modifiziert.

Für den Anwender bedeutet die Posix-Konformität, daß Anwendungen aus der Unix-Welt durch routinemäßige Neukompilierung übernommen werden können, sofern diese Posix-konform programmiert sind.

Umgekehrt portiert er Anwendungen von CTOS auf Unix wenn er Eigenentwicklungen verkaufen will, wenn eine Filiale damit unter Unix arbeiten soll oder wenn er eines Tages das System wechselt. Der Einheit über die Posix-Regeln hinaus soll ein API (Application Programming Interface) dienen, das unter anderem Printing Services, Graphics User Interface und Network Services entsprechend dem OSI-Modell enthält.

Der Presentation Manager wurde einschließlich Microsoft C 6.0 und Pascal 4.0 Compiler übernommen. Es ist dies die erste Implementation im Rahmen eines Non-OS/2-Betriebssystems. Als "Look and Feel" geht Presentation Manager identisch über alle Leistungsklassen der CTOS-Hardware einschließlich der zeichenorientierten Geräte am Low-end. Dies wird durch das Werkzeug Extensible Virtual Toolkit (XVT) möglich.

XVT dient dem Entwickler darüber hinaus als Brücke zu anderen Windowing-Plattformen. Man erwartet, daß damit viel Zeit und Geld gespart wird, weil Entwicklungen für CTOS ohne das Programmieren gesonderter Versionen in Macintosh- , X-Window, Presentation-Manager-, MS-Windows- und Motif-Umgebungen übernommen werden können.

*Dieter Büllow ist freier Journalist aus Obernhain/Taunus.