Consumer-Markt bringt Impulse fuer die IT-Branche Chancen und Risiken der Informationsgesellschaft

15.09.1995

Video on demand, interaktives Fernsehen, Internet oder Teleshopping - das sind die technikzentrierten Schlagworte, die in keiner Diskussion fehlen duerfen, wenn es um die Zukunft Europas in der Informationsgesellschaft geht. Wenig ist dagegen ueber die Gefahren und Risiken sowie die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chancen zu hoeren, die das beginnende Informationszeitalter mit sich bringt. Die auf dem European IT Forum der IDC versammelten IT-Bosse zeigten in ihren Visionen einmal ein anderes Bild der Gesellschaft von morgen, die mehr ist als Multimedia on demand oder Internet. Zudem bemuehten sie sich, die Umwaelzungen in Gesellschaft und Wirtschaft aufzuzeigen.

Los Angeles. 6.30 Uhr. Dienstbeginn fuer John Miller. Wieder einmal bebt die Erde unter seinen Fuessen. Miller verliert seine Netzverbindung. Doch bereits eine halbe Stunde spaeter haelt der Schichtleiter im Emergency Center die erste Online-Pressekonferenz ab. Die Zahl der Toten und Verletzten sowie Schaeden halten sich, im Vergleich zu den Beben der 90er Jahre, in Grenzen.

Mit nur einem Mausklick hatte Miller seine zerstoerte Netzverbindung auf einen Satelliten-Link geroutet. Bereits Sekunden spaeter lieferten ueberall im Stadtgebiet verteilte Sensoren und Kameras Informationen ueber Zerstoerungen, ausstroemendes Gas etc. Per Funk bekamen die Rettungsmannschaften ihre Einsatzplaene auf ihre Personal Digital Assistants (PDA) gespielt, ueber die sie in staendigem Videokontakt mit der Zentrale stehen. Verschuettete lassen sich dank Global-Positioning-System- (GPS)-Sensoren, die in Uhren integriert sind, innerhalb von Minuten auffinden.

Im Zentrum haben Sensoren ein Gasleck entdeckt. Explosionsgefahr droht. Computer berechnen die Evakuierungsplaene und geben, nach Abgleich mit dem Melderegister, den Rettern Auskunft darueber, in welchen Sprachen die Rettungsplaene zu drukken sind. Dass die Helfer trotz zerstoertem Rechenzentrum noch Informationen bekommen, verdanken sie dem in den 90er Jahren aufgebauten Client-Server- Netzen, bei denen die Daten nicht mehr zentral gespeichert, sondern ueber das Netzwerk verteilt vorgehalten werden.

So oder aehnlich koennte das Katastrophen-Management eines Erdbebens im naechsten Jahrtausend aussehen, wenn die Informationsgesellschaft Realitaet ist. Dieses Szenario zeichnete Joel Birnbaum, Vice-President and Director Corporate Laboratories bei Hewlett-Packard, auf dem European IT Forum. Birnbaum zufolge wird sich die Informationsgesellschaft vor allem durch die Konvergenz von Messgeraeten, Computern und Communication-Tools auszeichnen und wahrscheinlich die Lebensumstaende der meisten Menschen im naechsten Jahrhundert veraendern.

Auch wenn der HP-Manager ein sehr positives Bild ueber die kuenftigen Moeglichkeiten der Informationsgesellschaft zeichnet, wurden kritische Stimmen nicht muede, vor den Risiken und Gefahren zu warnen. So betonte Richard Livesey-Haworth, Group Executive Director bei ICL, dass es im Interesse der Industrie liege, "ihre Aktionsplaene an den Perspektiven des einzelnen Individuums einer Gesellschaft auszurichten".

Deshalb duerften die IT-Anbieter ihre Bemuehungen nicht nur auf die Verabschiedung von Standards und die Schaffung eines regulatorischen Rahmenwerks konzentrieren. Diese seien zwar wichtig, um das Zusammenspiel der neuen Technologien zu realisieren; doch der Politik muesse auch erklaert werden, warum diese Technologien erforderlich und fuer die Masse verfuegbar sein sollten.

Ein unschoenes Beispiel fuer den falschen Umgang der Politik mit IT- Technik ist fuer den ICL-Manager die Kryptographie, "die von den Regierungen wie Munition behandelt und entsprechend kontrolliert wird". Ginge es nach Livesey-Haworth, so waeren die entsprechenden Verfahren fuer jedermann zugaenglich, damit alle ihre Daten schuetzen koennen. Darueber hinaus, so der Manager weiter, sollte jeder die Moeglichkeit haben, sich mit entsprechenden Werkzeugen in der Information Society vor der Flut an Informationen zu schuetzen. Auch die Industrie koennte davon profitieren: Mit der allgemeinen Verfuegbarkeit waere die Technologie weit gestreut, so dass ein groesserer Markt entstehen koenne.

Drohende Gefahr einer Zweiklassengesellschaft

Livesey-Haworth war sich mit Olivetti-Chef Carlo De Benedetti darin einig, dass es keine kuenstlichen Huerden, beispielsweise ueberhoehte Gebuehren, fuer den Zugang zur Informationsgesellschaft geben duerfe. Sonst warnten die Skeptiker zu Recht vor der Gefahr einer Zweiklassengesellschaft, in der es die Informierten und die Nichtinformierten gebe. "Oder koennen Sie sich vorstellen, dass eine politische Partei sagt: Tut uns leid, Sie haben nicht die gleichen Zugangsmoeglichkeiten wie Ihre Mitbuerger, da Sie zu weit entfernt vom naechsten Knoten wohnen oder zu arm sind?" Der ICL-Manager appellierte an die Industrie, alle an der Informationsgesellschaft teilhaben zu lassen, falls sie einen starken Eingriff der Politik vermeiden wolle. Ferner riet er zur Zusammenarbeit mit der Politik bei der Entwicklung neuer Applikationen, da sich die Industrie sonst in der Zwangsjacke der Gesetzgeber wiederfaende, die groesstenteils nichts von neuen Technologien verstuenden.

Als Beispiel, wie diese Kooperation aussehen koennte, nannte der Manager ein ICL-Projekt in South Bristol, einer von der Rezession arg gebeutelten Region. Dort haben Arbeitslose die Moeglichkeit, sich ueber "Cyberskill"-Workshops fortzubilden und ihre Kenntnisse via Internet zu erweitern.

Begeistert von diesem Projekt, traeumt der ICL-Mann bereits von weiteren Versuchen, um die Wissensluecken zu fuellen. Livesey- Haworth ist ueberzeugt, dass seine Vision "kein Sozialistentraum" sei. Die Antwort, wie entsprechende Projekte zu finanzieren sind, blieb der ICL-Mann allerdings schuldig.

Fuer eine eher restriktive Informationspolitik war bisher die IBM bekannt; offenbar ist diese Phase ueberwunden. In Paris gab sich Big Blue ganz als Cyber-Company und adelte die Web-Server als Mission Critical Applications. John Patrick, Vice- President Global Networking Division, traeumt bereits davon, dass "die Leute kuenftig eine Web-Pause anstelle einer Rauchpause machen." Angesichts solcher Internet-Euphorie stellt ICL-Manager Livesey- Haworth nur trocken fest, dass das heutige Netz-Surfen wohl kaum als ernsthafter Informationstransport zu betrachten ist.

Weitgehend einig waren sich die Teilnehmer des IT-Forums darin, dass die Hochzeit des Computers mit der Telefonie ein voellig neues System der Informationsuebermittlung hervorbringen wird. Dank der verbesserten Infrastruktur besteht fuer die IT-Industrie nach den Worten von David Moschella, Senior Research Consultant der IDG, die Moeglichkeit, die Wertschoepfungskette betraechtlich zu erweitern. Allerdings, so der Consultant weiter, muessten die Nutzniesser dieser Entwicklung nicht unbedingt die heutigen Player wie Microsoft, Orcale etc. sein (vergleiche Abbildung 2).

Einstimmig vertrat das Gros der Redner die Meinung, dass wesentliche Impulse fuer die IT-Branche aus dem Consumer-Markt kommen. In diesen Kanal, so die Prognose von Andreas Barth, Senior Vice-President bei Compaq, gehen im Jahr 2000 ueber 40 Prozent der hergestellten PCs. Die Majoritaet ihres Umsatzes werde die Industrie allerdings nach wie vor mit Produkten fuer den professionellen Bereich erwirtschaften. Der Beitrag des Consumer- Marktes betraegt nur bescheidene 18 Prozent des Umsatzes. Zudem muessen sich die Hersteller laut Barth darauf einstellen, dass der Markt fuer Hardwareplattformen im Vergleich zum Networking Business sowie dem Handel mit Medieninhalten nur relativ schwach wachse - ein Trend, der bereits heute in Ansaetzen auf dem europaeischen Markt erkennbar ist.

Dass die der Information Society zugrundeliegende Infrastruktur weitgehend auf Glasfaser-, Satelliten- und Funknetzen beruhen wird, steht fuer die meisten Teilnehmer ausser Frage. Umstritten ist allerdings, welche Geraete im "Pervasive Networking" oder "Computing" die DV-Landschaft charakterisieren, den Begriff hatte Novell-Boss Bob Frankenberg im letzten Jahr auf der Networld + Interop in Atlanta gepraegt und in den allgemeinen Sprachschatz der IT-Manager eingefuehrt.

Waren sich Bill Gates und Oracle-Chef Larry Ellison noch darueber einig, dass sich die Desktop-zentrierte DV-Sicht zugunsten einer Netzorientierung wandle, so konnten die beiden hinsichtlich der Rolle der PCs keinen Konsens finden. Ellsion, fuer den die "PCs die Mainframes des Desktop-Zeitalters" sind, erwartet ein "baldiges Aus fuer diese Rechner als Mittelpunkt des Computer-Universums, da sie viel zu teuer seien. Dem Oracle-Boss zufolge gehoert die Zukunft billigen Terminals, die via Netz mit leistungsfaehigen Servern verbunden sind.

PCs sind Mainframes des Desktop-Zeitalters

Eine Vision, die Bill Gates schlicht fuer unrealistisch haelt. Der Microsoft-Gruender rechnet noch in diesem Jahr mit einem weltweiten Absatz von ueber 100 Millionen PCs, der auch in den naechsten drei bis vier Jahren in dieser Groessenordnung liegen soll. Aufgrund dieser Einschaetzung glaubt Gates nicht an die Abloesung der PC- basierten Rechner durch dumme Terminals.

"Der Desktop wird das Kommunikations-Tool der Zukunft sein", zeigte sich der Microsoft-Gruender ueberzeugt.

Robert Metcalfe, Ethernet-Erfinder und Vice-President of Technology bei IDG, mochte sich mit keiner der beiden Visionen anfreunden. Er warf den Unternehmern vor, nur im eigenen Interesse zu sprechen und stellte zynisch fest, "wenn Sie also einen Platz in der ersten Reihe der Informationsgesellschaft wollen, dann muessen sie Windows 95 sowie Oracle 7 kaufen."

Das Phaenomen Microsoft versuchte Metcalfe durch den Vergleich mit einem anderen amerikanischen Unternehmen, dessen Produkte weltweit Erfolg haben, zu erklaeren: "Warum aehnelt Microsoft Mc Donalds? Wir wissen, ihre Produkte sind zu fett, und sie sind wirklich nicht gut fuer uns."

Doch bei allem Zwist ueber die Rolle des PCs in der Informationsgesellschaft, steht es fuer Metcalfe ausser Frage, dass der Information Superhighway auch in Europa bereits angekommen ist. Der Information Highway passiert jetzt, so der IDG-Manager weiter, "allerdings ist zu bedenken, dass die Zeitspanne lang sein kann". Der Ethernet-Erfinder raet den Anwendern dennoch, bereits erste Fahrversuche auf der Datenautobahn zu unternehmen.

"Bei aller Flickschusterei sollte aber darauf geachtet werden, unnoetige Risiken zu vermeiden".

Ebenfalls ohne Beruehrungsaengste geht Gerhard Schulmeyer, Chairman und CEO der Siemens-Nixdorf Informationssysteme AG, an das Thema heran. Multimedia ist nach Einschaetzung des SNI-Bosses nichts anderes als eine neue Dimension von Telekommunikation, Informationstechnik. Auch wenn die dahinter steckende Technologie ueberschaubar sei, erwartet der Manager doch grosse Veraenderungen fuer die Industrie, "da die Lernkurve im Informationszeitalter einen immer steileren Verlauf nimmt". Wie Metcalfe appellierte Schulmeyer, nicht weiter zu warten, sondern bereits heute mit dem Versuch zu beginnen, auch wenn noch keine Glasfasern bis in die Haushalte verlegt seien.

Erfolg im Informationszeitalter, so der SNI-Chef weiter, habe nur der, der die Gateways kontrolliere und damit Geld verdiene. Um auf der Seite der grossen Gewinner zu stehen, arbeite auch SNI bereits an der Informationsgesellschaft, obwohl noch unklar ist, in welche Richtung die Reise geht. Deshalb steht der IT-Manager der Spielwiese Internet sehr offen gegenueber, "denn wenn unsere Mitarbeiter nicht damit spielen, dann koennen sie auch keine Produkte dafuer entwickeln".

Ueberhaupt ist dies fuer Schulmeyer das groesste Manko der europaeischen IT-Industrie, die sich, was die Ausbildung ihrere Ingenieure betrifft, nicht hinter den Amerikanern zu verstecken braucht. Doch aufgrund des groesseren Spieltriebs im Silicon Valley gelaenge es dort, neue Ideen bei gleichen Faehigkeiten schneller in Produkte umzusetzen.

Bleibt allerdings fraglich, ob Spielen allein die Schwierigkeiten der Branche loest, oder ob diese dann nicht noch mehr, wie ICL- Manager Livesey-Haworth kritisiert, Probleme schafft anstatt Loesungen zu entwickeln.