Computerschach - Mythos und Wirklichkeit

10.11.1978

Schachspielende Computer sind in letzter Zeit sehr populär geworden. Spezielle, Schachcomputer auf Mikroprozessorbasis kann heute jedermann in Warenhäusern für ein paar hundert Mark erwerben.

Was aber ist wirklich dran an den Schachcomputern?

Die meisten Presseartikel über dieses Thema sind leider sensationell aufgemacht und bieten so gut wie keine sachliche Information. Die in Warenhäusern erhältlichen Mikroschachcomputer muß man grundsätzlich je nach Interessentenkreis unterschiedlich beurteilen. Während diese Schachcomputer zum Beispiel für einen Spieler der Bezirksmeisterklasse bestenfalls ein amüsantes Spielzeug darstellen; so sind sie doch gelegentlich Hobbyspielern und sogar Clubspielern der unteren Klassen, zum Lernen und Trainieren sehr zu: empfehlen. Leider verschweigen die Public-Relations-Veröffentlichungen

der Hersteller einige sehr wichtige Punkte. So benötigt der vom Exweltmeister Spassky gelobte MK1 in seiner stärksten Spielstufe bis zu zwei Tage für einen Antwortzug! Für einen wirklich objektiven Spielstärketest dieses Gerätes würde man also praktisch ein bis zwei Jahre ansetzen müssen.

Gute Mikroschachcomputer sollten unbedingt einen Zufallsgenerator für die ersten Zuge enthalten. Andernfalls wird das Gerät auch für den Anfänger schnell uninteressant.

Erstaunliche Spielstärke

Eine ganz andere Sache als die "Spielzeuge" sind die für echte Großcomputer entwickelten Schachprogramme. Diese Programme haben eine höchst erstaunliche Spielstärke erreicht. Die programmiertechnische Leistung ihrer Schöpfer ist bewundernswert. Jedoch ist es ein durch unsachliche Sensationsartikel selbst bei Fachleuten verbreiteter. Irrglaube, daß es heute schon ein Schachprogramm gäbe, welches ein ernsthafter Gegner für Meisterspieler wäre. Gelegentlich kommt es jedoch vor, daß ein renommierter Meisterspieler durch ein Versehen oder nachlässiges Spiel eine Partie gegen den Computer verliert.

Milchmädchenrechnung

Oft werden hier eindrucksvolle Zahlenbeispiele angeführt, die eine Überlegenheit des Computers über den Menschen belegen sollen. Zum Beispiel kann das weltbeste Schachprogramm "CHESS 4.7" über 500 000 Positionen in einer Zeit durchrechnen, in der ein Meisterspieler bestenfalls 40 Positionen berechnen kann. Es handelt sich hier aber um eine echte "Milchmädchenrechnung", in der wesentliche Faktoren weggelassen werden. In einer durchschnittlichen Schachposition gibt es mehrere Millionen mögliche Zugfolgen. Ein Schachmeister erkennt davon auf einen Blick die etwa ein Dutzend Zugfolgen die eine nähere Berechnung wert sind. Nur diese Zugfolgen wird der Schachmeister durchrechnen. Dabei wiederum benötigt er meistens nur eine Berechnungstiefe von zwei bis drei Zügen, um die Stellung gefühlsmäßig abzuschätzen. In kritischen Zugfolgen wiederum kann ein Schachmeister ohne weiteres bis über zwanzig Züge im voraus berechnen. Aus der eindrucksvollen 500 000: 40-Überlegenheit des Computers wird in Wirklichkeit eine 500000 :mehreren-Millionen-Überlegenheit des Menschen. Wie wird nun die Entwicklung der Schachprogramme weitergehen?

Weit verbreitet ist die irrige Ansicht daß es nur eine Frage der Entwicklung noch schnellerer und größerer Computer sei, um zwangsläufig in einigen Jahren dahin zu gelangen, daß ein Computer Großmeister oder Weltmeister schlägt.

Das Problem liegt aber nicht in der Hardware, sondern in der Schwierigkeit der Programmierung. Die derzeitige Methode der Programmierung eines Computers für das Schachspiel ist gewissermaßen nach dem Denkmodell eines Durchschnittsspielers aufgebaut. Die Denkweise eines Meisterspielers ist aber nicht etwa nur linear größer in der Tiefe der Vorausberechnung, sondern von grundsätzlich anderer Struktur als die Denkweise eines Durchschnittsspielers.

Es bedarf einer revolutionären Umwälzung in der Softwaretechnologie, um ein Schachprogramm zu entwickeln welches einen Großmeister schlagen kann. Es ist zwar zu erwarten, daß innerhalb der nächsten 20 Jahre Schachprogramme entwickelt werden, die gegen Meisterspieler mithalten, aber von dort bis zu einem Computer, der den Weltmeister schlagt, ist ein Unterschied wie zwischen einem Mondflug und einem Flug zur nächsten Galaxis.

Realistische Prognose

Ein solches Programm würde kein Computerprogramm im heutigen Sinne mehr sein, sondern ein völlig selbständiger Intellekt mit Phantasie und allen anderen geistigen Eigenschaften, die man bisher nur dem Menschen zubilligt.

Eine realistische Prognose ist es jedoch, daß in etwa 10 Jahren oder noch früher billige Mikroschachcomputer von der Spielstärke des heute weltbesten Großcomputerprogramms zu haben sein werden. Hier handelt es sich tatsächlich nur um das Problem noch leistungsfähigerer Hardware, weil die Software prinzipiell vom Großcomputer auf den Mikroprozessor übersetzbar ist.

*Eckhard Kopka ist professioneller Programmiere und Schachexperte.