Künstliche Intelligenz: ein weiteres Feld mit verschwimmenden Grenzen, Teil 6:

Computer lernen durch "Überlegungen"

14.10.1988

Von CW-Mitarbeiter Egon Schmidt

Will man erreichen, daß Expertensysteme und andere Computer mit KI-Fähigkeiten ihr Wissen eines Tages nicht mehr mühsam eingetrichtert bekommen müssen, so gilt es, lernende Systeme zu entwickeln - wie etwa jenes, das in Princeton, New Jersey, im Research and Technology Laboratory (RTL) der Firma Siemens ausgestellt ist.

Einer der dortigen KI-Forscher führt Besuchern gerne Compte vor, ein KI-System zum selbsttätigen Unterscheiden verschiedener Klassen von Objekten. Zwar landet Compte dabei dann gelegentlich den klassischen "Vorführeffekt", doch im allgemeinen soll George Drastals, auf Erklärungen basierendes - und mithin zur Gruppe der deduktiven Systeme gehörendes - Programm sich gut bewähren. Was ja auch weiterhin kein Wunder sein darf, ist es doch nicht mehr und nicht weniger als ein, so sein Schöpfer, "Characterizer of Multiple Partial Theory Explanations" (wir suchen noch nach dem treffenden deutschen Wort...).

"Mit Compte", so Drastal im Zuge einer Demonstration, "wollen wir in erster Linie unser eigenes, am RTL selbst entwickeltes und auf Erklärungen basierendes Lernverfahren testen"; nämlich ein Verfahren, das Objekte der jeweils gleichen Art dadurch von sonstigen Objekten zu unterscheiden lernt, daß man ihm ein paar Beispiele für die verschiedenen, in Betracht kommenden Gegenstände zeigt. Wobei dieses "zeigen" hier noch nicht wörtlich genommen werden darf, denn vorerst besteht es einfach darin, daß Drastal dem System eine kodierte, computergerechte und strikt formelle Beschreibung der jeweiligen Objekte eintippt. Für den Rechner ist sie dann aber der Ausgangspunkt für die weiteren, eigenen "Überlegungen" - wenn man seine internen, algorithmischen Prozesse mal so nennen darf.

Compte, so Drastal, arbeitet mit "einer speziellen, von uns entwickelten Sprache" zum exakten Beschreiben simpler Behältnisse, wie man sie im Haus verwendet: Becher, Tassen, Gläser, Schüsseln und so weiter. Im Rahmen dieser Sprache erhält das Programm aber nur über solche Merkmale eines Objekts Informationen, die sich äußerlich beobachten lassen, also beispielsweise über dessen Gestalt, Größe, Farbe und Einzelteile etc.

Compte arbeitet zu Laborzwecken also in einer vergleichsweise künstlichen, synthetischen Welt, in der sich anhand der Merkmale übrigens maximal 2 786432 verschiedene Klassen von Gegenständen - theoretisch aber sogar unendlich viele - definieren lassen; je nachdem nämlich, welche Kombinationen von Merkmalen man jeweils zusammenfaßt und als neue "Klasse" definiert.

Bei den Experimenten, die Drastal nun mit Hilfe von Compte anstellt, wird das Programm zunächst mit Informationen über wichtige Eigenschaften solcher Behältnisse versorgt, deren Namen -beziehungsweise von deren Klasse den Namen - es schon kennt. Dabei erwarten die RTL-Forscher nun, Compte werde immer dann, wenn man ihm die Beschreibung eines weiteren Objekts ohne explizite Nennung dessen Klasse vorsetzt, versuchen, selbst zurechtzukommen; also selbst herausfinden, zu welcher der ihm schon bekannten Klassen es wohl gehören mag. Oder aber, ob es nicht vielleicht der - für Compte - erste Repräsentant einer bislang unbekannten und mithin neu zu beschreibenden Klasse von Behältnissen ist...

Wegnehmbar, isoliert und besteht aus Ton

Das erwähnte Fachwissen über wichtige Eigenschaften jener Behältnisse, deren Klasse Compte schon kennt, also die sogenannte "Domain Theory", besteht aus sogenannten "Regeln", die wichtige Eigenschaften der Behälter wie etwas "isoliert", "wegnehmbar" oder auch "das Objekt besteht aus Ton" beschreiben. Wobei kurz erwähnt sei, daß das Attribut "wegnehmbar" beispielsweise eine Wasch-schüssel von einem fest eingebauten Waschbecken unterscheidet, und daß das Attribut "isoliert" besagt, daß der Benutzer den entsprechenden Behälter nicht direkt anfaßt, wie das etwa bei einem Zahnputzbecher der Fall wäre, sondern "isoliert" an einem besonderen Griff, wie man das ja vom Maßkrug her gewohnt ist.

Im Zuge eines ganz bestimmten Demonstrationsexperiments hat Drastal sein Programm nun in einen klar definierten Anfangszustand versetzt, in dem es die Behälterklassen Becherglas, Teetasse und Teller als solche kennt und entsprechende Objekte, werden sie ihm in kodierter Form beschrieben, prompt den richtigen Klassen zuordnen - sie also richtig "benennen" - kann.

Computer soll selbst mit Worten beschreiben

Hingegen ist dem Programm Compte in dieser Initialphase noch nie ein Weinglas - beziehungsweise dessen kodierte Beschreibung -"zu Gesicht" gekommen. Was also wird geschehen, präsentiert man dem Programm nun zwei Beschreibungen zweier leicht unterschied-licher, typischer Weingläser? Und außerdem, als lehrreiche Gegenbeispiele, die Beschreibungen eines Kaffeehaferls und eines Becherglases? Und fordert man den Computer dann auf, doch bitte mit sozusagen "eigenen Worten" zu beschreiben, was er da alles gesehen hat - aber natürlich ohne daß er einfach die eingegebenen Beschreibungen erneut herunterleiern darf...?

So herausgefordert, beginnt das Programm Compte nun prompt, auf Basis der funktionellen Eigenschaften von Objekten, über die es schon etwas weiß, eine ganz neue Klasse von Gegenständen zu definieren. Das Programm kombiniert dazu alles, was es in den vorliegenden Beschreibungen finden kann, so lange hin und her, bis es die neue Art von Glas - also die typischen Weingläser - schließlich als Klasse von Behältern definiert, die "eine Art Becherglas sind, tatsächlich aus Glas bestehen und isoliert sind". Wobei dieses "isoliert" sich natürlich auf den Stiel des Weinglases bezieht, der einem gewöhnlichen Zahnputzglas ja fehlt.

Bei dieser Suche nach einer treffenden und die neue Klasse klar abgrenzenden Bescheibung fahndet Compte innerhalb der einzelnen Merkmale gezielt nach solchen, die auf alle beide der noch unbekannten neuen Objekte namens Weinglas zutreffen, aber nicht oder nur teilweise auf Objekte aus anderen Klassen. Compte achtet also beispielsweise auf die Tatsache, daß neben den Weingläsern nur das Kaffeehaferl, nicht aber das Becherglas "isoliert" ist; und zwar durch seinen Henkel. Und auch darauf, daß neben den Weingläsern nur das Becherglas, aber nicht der Kaffeebecher aus Glas (statt aus Ton beziehungsweise Keramik) ist.

Problematisch kann es für Systeme der Art Comptes werden, treten bestimmte Merkmale allein in den Beschreibungen der neuen Klasse (von Weingläsern) auf, nicht aber in den Beschreibungen der übrigen Klassen. So könnte zum Beispiel die - denkbare - Tatsache, daß rein zufällig alle zwei Weingläser grün gefärbt sind, ein solches Programm zu der irrigen Folgerung verleiten, die grüne Färbung sei ein wesentliches Merkmal der neu zu definierenden Klasse; also aller Weingläser...

Verfeinerung im zweiten Schritt

Im weiteren Verlauf des Experiments teilt Drastal seinem Rechner nun mit, er sei mit der gefundenen obigen Definition der neuen Klasse von Behältnissen noch nicht zufrieden. Er fordert Compte daher auf, die Definition der neuen Klasse von

Behältnissen etwas schärfer zu fassen und unterstützt es bei diesen Bemühungen durch zusätzliche Informationen. Drastal gibt nun also auch noch die Beschreibung eines typischen Teeglases ein, das ja bekanntlich einen - gleichfalls "isolierten" - Henkel aufweist.

Nachdem der Experimentator dem System außerdem noch mitgeteilt hat, das Teeglas - oder eventuell auch ein gläserner Maßkrug - sei, bezogen auf die gesuchte neue Klasse der Weingläser, ein "Gegenbeispiel", kommt das Programm automatisch zu der zusätzlichen Erkenntnis: Die neue Klasse von Behältern wird nun durch die obenstehende Definition sowie zusätzlich die Angabe definiert, die Eigenschaft "isoliert" dürfe nicht der Präsenz eines Henkels entstammen, sondern müsse durch einen (mittig angeordneten, senkrecht stehenden) Stiel bewirkt werden.

Erfaßt nicht nur Haushaltsgegenstände

Denn nur Objekte, die "eine Art von Becherglas sind, die tatsächlich, aus Glas bestehen und die mit Hilfe eines Stiels "isoliert" sind", sind ja, im Gegensatz zu allen anderen hier in Frage kommenden Objekten, Weingläser. Es könnte sich ja allenfalls noch um Sektschalen oder -flöten handeln, doch deren Definieren wäre dann Aufgabe weiterer Zyklen des hier skizzierten, automatischen Lern- und Klassen-Unterscheidungsprozesses.

Drastal hebt mit Blick auf die bisherigen Fortschritte besonders hervor, sein Programm Compte sei in keiner Weise etwa auf die Modellwelt der Haushaltsbehälter begrenzt. Denn es sei allgemein genug formuliert, um mit Objekten aller möglichen Art zu

arbeiten - und es bewähre sich auch, würden durch die Merkmalsbe-

schreibungen oder Domain Theories anstelle physischer Objekte beispielsweise abstrakte Situationen geschildert.

Compte wurde in Interlisp-D für eine Xerox-Arbeitsstation des Typs 1186 geschrieben und soll in weiteren Entwicklungsphasen noch erheblich ausgebaut werden. Denn, so Drastal, "wir haben Pläne, Compte mit Hilfe neuer Erweiterungen künftig auch für solche Gebiete zum Ziehen logischer Schlußfolgerungen zu befähigen, in denen das vorliegende Wissen nicht mehr" - wie hier bei den Gläsern, Tassen und Schüsseln - "in Form von Regeln ausgedrückt werden kann".

So denkt Drastal beispielsweise an komplexe Simulations-modelle tatsächlich arbeitender Fabrikanlagen, über die man ja schon heute verfügt und mit deren Hilfe Compte oder spätere Programme vergleichbarer Machart automatisch komplizierte Regeln erkennen und erlernen könnten, die ihrerseits der zweckmäßigen Steuerung des Produktionsprozesses dienstbar gemacht werden könnten.

Ratschläge für den Meister

Man könnte sich also vielleicht schon in wenigen Jahren vor einem Szenarium wiederfinden, in dem ein Programm auf Basis der Compte-Techniken einen Werkmeister oder Bereichsleiter sozusagen "beobachtet" und lernt, welche Entscheidungen er in welchen Situationen jeweils zu treffen pflegt. Dabei versucht dieser computerisierte Zauberlehrling dann aber stets auch gleich, ein eigenes "Verständnis" dessen zu entwickeln, was der Mensch mit der jeweiligen Entscheidung wohl gerade zu erreichen trachten mag.

Und mit der Zeit könnte dieser blecherne Assistent dann immer naseweiser werden und eines Tages prompt auch anfangen, dem Meister eigene Ratschläge zu erteilen. Wie etwa nach dem Muster: "Die Produktion der Spindeln auf Drehautomat B zu verlagern, ist sicher eine tolle Idee. Ich aber denke, man sollte den Job doch besser auf Maschine D legen. Weil nämlich..."