DV wird historische Hilfswissenschaft

Computer hilft Archäologen bei der Gebäuderekonstruktion

20.09.1991

Computer in der Archäologie? Zyniker werden behaupten, hier seien ein paar Technikfreaks am Werk, die mal wieder neues Terrain entdeckt haben. Der "Archäologiecomputer", so Paul Reilly* und Felix Weber, schafft aber völlig neue Möglichkeiten - nicht nur für die Forscher, sondern auch für das breite Publikum.

Die Rekonstruktion einer Geschichtsepoche durch Ruinen oder schriftliche Quellen ist schwierig. Hier kann eine Computersimulation weiterhelfen. Diese Möglichkeit wissen auch Archäologen immer mehr zu schätzen. Nachdem der Computer schon bei der Dokumentation zum Einsatz kam, hilft er jetzt bei der Präsentation der Ergebnisse. Wie hat die Kathedrale in X oder das römische Bad in Y wohl ausgesehen? Statt mühsam Skizzen auf Papier zu zeichnen, geben die Forscher heute Daten in den Computer ein und lassen sich von Modellierprogrammen digitale Rekonstruktionen errechnen.

Die entsprechende Software ist in den letzten Jahren immer besser geworden. Grund dafür ist eine Art Symbiose, die sich zwischen Archäologen und Programmierern entwickelt hat. Ursprünglich wollten sich die Altertumsforscher mit dem Computer lediglich die aufwendige Illustrationsarbeit erleichtern. Die Programmierer andererseits fühlten sich herausgefordert von den technischen Problemen, die beim Modellieren komplexer Objekte auftauchen. So entstanden im Laufe der Zeit Programme, die den Archäologen nicht nur Ansichten, sondern auch neue Einsichten liefern.

Dies geschah auch bei der Erforschung der einstigen römischen Stadt Bath. Bath hat ganze Generationen von Archäologen beschäftigt, aber Barry Cunliffe von der Oxford University zu Beginn der achtziger Jahre der erste, der dabei den Computer richtig ins Spiel brachte: Er holte sich den Modelltheoretiker und Softwarespezialisten John Woodwark, um den Tempelbezirk von Bath auf dem Rechner zu rekonstruieren.

Die Ausgangsdaten bestanden lediglich aus einer Reihe von Plänen der verschiedenen Gebäude des Tempelbezirks. Die beiden Forscher gaben die Daten in den Rechner ein und erhielten mit einem Konstruktionsprogramm ein dreidimensionales Abbild des Tempelbezirks. Cunliffe studierte nun den Tempelbezirk auf dem Bildschirm aus verschiedensten Blickwinkeln und entwickelte dabei eine Theorie, wie die römischen Architekten den Raum eingesetzt hatten, um symbolische Beziehungen zwischen den verschiedenen Elementen des Tempelbezirks zu unterstreichen.

Nach Ansicht von Cunliffe war die Anlage absichtlich so gebaut, daß sich bei den Besuchern je nach Standort Gefühle von Über- oder Unterlegenheit einstellen sollten. Das Computermodell vermittelte den Archäologen also Einsichten, die ihnen bei der Arbeit mit herkömmlichen Methoden verborgen geblieben wären.

Vor kurzem wurde in Bath ein neues archäologisches Computerprojekt in Angriff genommen, das sich an das Publikum richtet: Der Computer soll den vielen Touristen Einblicke in ehemaligen Anlagen geben, von denen heute nur Ruinen zu sehen sind.

Römische Bäder sind das Pendant zu den heutigen Freizeit- oder Sportzentren, komplett mit Schwimmbecken, Turnhalle und einer Reihe von Räumen mit schön abgestuften Luft- und Wassertemperaturen. Von all dem ist in Bath so wenig übriggeblieben, daß es für Laien sehr schwierig ist, sich vorzustellen, wie groß und prunkvoll die Anlage einst gewesen sein muß.

Perspektiven per Tastendruck ändern

Hier kann eine Computersimulation der Phantasie leicht auf die Sprünge helfen. Das geplante Modell, das ein interdisziplinäres Team an der Universität Bath gegenwärtig entwickelt, soll den ganzen Komplex so zeigen wie er nach Ansicht der Archäologen um 300 nach Christus ausgesehen hat.

Im Gegensatz zu Woodwarks Modell des Tempelbezirks versuchen die Forscher hier, Innenräume miteinzubeziehen. Offenbar mit Erfolg: Eine Vorversion des Bädermodells vermittelte den involvierten Archäologen bereits einen so starken Eindruck von der Anlage, daß sie nochmals über die Bücher gingen und für die nächste Version etliche Teile neu gestalteten.

Sind die Daten einmal im Computer, kann man praktisch per Tastendruck die Perspektive der Bilder verändern. Aufwendige Programme beziehen auch das Licht und die Umgebung mit ein. Die Frage zum Beispiel, ob je Sonnenlicht auf den Altar einer längst zerstörten Kathedrale gefallen war, könnte ein Computermodell ohne weiteres beantworten.

Die Präsentationsmöglichkeiten hängen natürlich von der technischen Ausrüstung ab. Einfache Programme liefern Zeichnungen, die aussehen wie Fotografien eines Drahtgerüstes Sie zeigen alle Umrißlinien einer Architektur gleichzeitig. Da solche Darstellungen vor allem für Laien verwirrend sind, stellen komfortablere Programme die Gebäude mit ihren Flächen dar, wobei sie die verdeckten Teile verschwinden lassen.

Während für Strichzeichnungen ein einfacher PC genügt, bedarf es für perspektivische Farbbilder in guter Qualität schon wesentlich leistungsstärkerer Rechner. Um mit bewegten Bilder einen "Film" zu erzeugen werden mindestens 24 Darstellungen pro Sekunde benötigt. Diese so rasch zu generieren, ist eine Aufgabe, die selbst Großrechner oft überfordert. Ein hochauflösender Grafikbildschirm hat über eine Million Bildpunkte in je drei Farben. Damit die Bilder nahtlos laufen, muß ein großer Teil dieser Punkte jeweils in Sekundenbruchteilen neu berechnet werden.

Leistungsfähige Computermodelle liefern ein Spektakel ganz besonderer Art: Indem sie in kurzer Folge fotorealistische Darstellungen aus stets leicht verschobenen Perspektiven zeigen, simulieren sie den Gang einer Person durch oder um ein Gebäude herum. Mit der Computermaus bestimmt der Betrachter, wohin sein "Spaziergang" in der fremden Welt führen soll.

1985 startete am IBM-Wissenschaftszentrum in Winchester der erste Versuch, eine archäologische Animation auf dem Rechner zu erstellen. Als Objekt wählten die Forscher die alte angelsächsische Kathedrale von Winchester, die im Jahre 1092 niedergerissen wurde, um Platz für ein neues Münster zu schaffen.

Ausgrabung bedeutet kontrollierte Zerstörung

Das Ziel war eine zweiminütige Filmsequenz, welche die Geschichte der Kathedrale über einen Zeitraum von vier Jahrhunderten präsentieren und dem Betrachter einen Eindruck der Architektur des Monuments vermitteln sollte. Die Konstruktion der Bilder auf dem Computer war eine überaus mühselige Aufgabe. Schließlich gelang es dem Team, auf diversen Umwegen doch noch zum Ziel zu kommen. Einer davon war die Konstruktion eines digitalen Drahtmodells der Kathedrale, das sich auf leistungsfähigen Arbeitsstationen in Echtzeit bearbeiten ließ, ein anderer das Schreiben von Spezialprogrammen, welche die Parameter für die x-tausend Bilder berechneten, die es braucht, um während der zweiminütigen Tour in und um die Kathedrale den Eindruck einer fließenden Bewegung zu vermitteln.

Moderne Computertechnologie in der Archäologie kann aber noch mehr, als vergangene Zeiten auf den Bildschirm zu zaubern. Sie verspricht einen möglichen Ausweg aus dem klassischen Dilemma, das die Archäologen seit eh und je plagt: Um aufzudecken, was darunterliegt, müssen sie Schicht für Schicht abtragen - und damit häufig Interessantes zerstören. "Ausgrabung", erklärte Wolfgang Radt vom Deutschen Archäologischen Institut einmal treffend, "bedeutet kontrollierte Zerstörung".

Ändern könnte dies nur eine Methode, die den Forschern eine Art Röntgenblick in die Tiefe vermittelt. Dies ist denn auch der neueste Trend in der Archäologie: Man möchte möglichst wenig ausgraben, dafür die Stätte durch geophysikalische Fernerkundung (zum Beispiel mit Magnetometern oder einem sogenannten Ground-Pulse-Radargerät) bis in Tiefen von mehreren Metern vermessen und dann im Computer ein digitales Abbild davon ablegen.

Sind die Daten einmal im Rechner, können sie auf verschiedenste Weise aufbereitet werden. Eine im Computer gespeicherte Topographie zum Beispiel läßt sich so manipulieren, daß die Höhenunterschiede sehr viel deutlicher zutage treten als im Feld. Getestet wurde dieses Vorgehen bei der archäologischen Untersuchung einer Abfallgrube, die zur mittelsächsischen Siedlung Hamwic gehörte. Statt alles auszugraben und die genaue Position von über 30 000 Objekten zu notieren, wurde auf dem Computer die Ausgrabung einiger weniger Objekte simuliert.

Natürlich sind solche Computersysteme auch für die Ausbildung künftiger Archäologen interessant Studenten können damit sehr viel mehr und kostengünstiger üben, als dies an wirklichen Ausgrabungsstätten möglich (und auch geduldet) wäre.

Hypothesen können auch falsch sein

Tatsächlich gibt es bereits mehrere Computersysteme, mit denen sich archäologische Ausgrabungen simulieren lassen, das kompletteste heißt Grafland. Es präsentiert dem Benutzer ein dreidimensionales Modell einer archäologischen Formation, die aus einer Reihe von Schichten mit unterschiedlichen Eigenschaften besteht - und damit einem wirklichen Ausgrabungsort sehr ähnlich ist. Das Modell kann unterschiedliche Ausgrabungsszenarien durchspielen. Dabei erkennt der Anwender, welche Methode sich für eine Rekonstruktion der Stätte auf dem Computer am besten eignet.

Eine Animationssequenz ergänzt das Programm. Sie zeigt den Ausgrabungsort mit allen Schichten aus verschiedenen Blickwinkeln. Die Stätte wird auf dem Bildschirm Stück für Stück seziert, zuerst von der Seite, dann von oben her, wobei eine Schicht nach der andern entfernt wird. Dann läuft der Vorgang rückwärts ab. Die Schlußsequenz zeigt eine mögliche Rekonstruktion des Artefakts. Je realistischer die Präsentation, desto eher vergißt der unkritische Betrachter, daß die Bilder gar nicht echt, sondern das Resultat archäologischer Hypothesen oder Interpretationen sind, die ja auch falsch sein können. Ein möglicher Ausweg aus diesem Dilemma wäre die Präsentation verschiedener Modelle. Man könnte auch die Hauptstationen des Weges aufzeigen, den die Archäologen gegangen sind, von den rohen Daten bis hin zum fertigen Computermodell.