Perfekte Schutzsysteme gegen atomare Erstschläge gibt es nicht:

Computer-Experten lehnen SDI-Proiekt ab

12.07.1985

DARMSTADT (ih) - "Wir fordern die Bundesregierung auf, sich nicht an dem von den USA geplanten Weltraum-Verteidigungssystem (SDI) zu beteiligen." Mit diesem eindringlichen Appell ging die Jahrestagung der "Informatiker für den Frieden und gesellschaftliche Verantwortung" (FIFF) zu Ende.

In einem Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl begründeten die mehr als 300 DV- Fachleute aus Hochschulen, Forschungseinrichtungen und DV-Unternehmen ihre Forderung, warum sich die Bundesrepublik nicht an der Militarisierung des Weltraums beteiligen sollte. Die Informatiker erklärten das Kernstück der Strategic Defense Initiative (SDI) als ein computerisiertes Schlachtenführungssystem, das teilweise automatisch Interkontinentalraketen erfaßt, ihre Flugbahn analysiert und Vorschläge für den Einsatz von Laser- und Atomwaffen erstellt.

Die Programme für dieses Computersystem bestehen, so die FIFF-Experten, aus über zehn Millionen Zeile die von mehreren tausend Programmierern in langjähriger Arbeit erstellt werden müssen. Selbst bei dem größten bisher entwickelten militärischen Einzelsystem konnten entscheidende Probleme der Sicherheit und Zuverlässigkeit bisher nicht gelöst werden. Dieses Einzelsystem beinhalte jedoch nur ein Zehntel des Umfangs der geplanten SDI-Projekte. Die Wissenschaftler in ihrem Schreiben an die Bundesregierung: "Einen sicheren Schutzschild gibt es deshalb nicht. "

Aber selbst, wenn es niemals zur Stationierung von Waffensystemen im Weltraum käme, fürchten die Informatiker und DV-Verantwortlichen die erschreckenden Folgen des SDI-Programms. Allein die Vorbereitung würde eine unverantwortliche Vergeudung von geistiger Kapazität und finanziellen Mitteln bedeuten. Außerdem sei die zivile Forschung durch die Beschränkung des freien Wissens- und Technologieaustausches behindert.

Mit ihrem Nein zu einer SDI-Mitarbeit sehen sich die in Darmstadt aus mehreren europäischen Ländern zusammengekommenen DV-Fachleute nicht allein. So berichtete Dr. Jürgen Altmann vom Forum "Naturwissenschaftler für Frieden und Abrüstung", Marburg, über die ablehnende Haltung der Mehrzahl der amerikanischen Wissenschaftler. Altmann: "Die Zahl der Befürworter kann man an einer Hand abzählen." Auf starken Widerstand stoßen die Pläne der US-Regierung auch bei den Mitgliedern der CPSR (Computer Professionals for Social Responsibility) in Palo Alto.

Neben den Gefahren des SDI-Projekts wurde auf dem Forum auch die Frage diskutiert, ob Fehler, die in Computersystemen auftreten, "einen Atomkrieg aus Versehen" verursachen können.

So verwies Professor Jörg Siekmann, Spezialist für Künstliche Intelligenz an der Universität Kaiserslautern, auf einen Untersuchungsbericht des US-Senats, nach dem in der Zeit vom 1. Januar 1979 bis zum 30. Juni 1980 bei der amerikanischen Luftverteidigung (Norad) durch Computerfehler 147 Fehlalarme auftraten (siehe CW vom 18. November 1983, Seite 4). Allerdings schätzt Siekmann die Gefahr eines ungewollten Atomkriegs in "Friedenszeiten" als relativ gering ein.

Der KI-Fachmann fürchtet aber, daß durch eine widrige Kombination unvorhersehbarer Ereignisse sehr wohl ein Atomkrieg aus Versehen ausbrechen kann - nämlich dann, wenn es durch Computer-Versagen und menschliche Fehler während einer internationalen Krise zu Fehlalarmen käme.

Gegründet wurde FIFF im Juni vergangenen Jahres von rund 250 Computerfachleuten. Anlaß war die Sorge über die zunehmende Verflechtung von Informatik und Rüstung und die damit einhergehende Militarisierung.

Das FIFF sieht seine vordringlichen Aufgaben darin, die Bedeutung der Informationstechnik und der Arbeit der DV-Verantwortlichen aufzuzeigen, sowie die Folgen der prinzipiellen Fehlerhaftigkeit der komplexen Systeme im militärischen Bereich aufzudecken. Vor allem wollen die Wissenschaftler sozial verantwortbare Alternativen zur militärisch orientierten Forschung und Entwicklung im Bereich der Informationstechnik erarbeiten.