Rechner unterstützt Rechtssystematik und schult Studenten:

Computer bringt licht ins Paragraphendickicht

08.02.1985

Korrekte Programme zeichnen sich durch Widerspruchsfreiheit aus und gute überdies noch durch eine klare, hierarchische, modulare Struktur. Für korrekte und besonders für gute gesetzliche Regelwerke gilt im Grunde genau das gleiche - und da liegt es natürlich nahe, Computer und Paragraphen zum Nutzen der Rechtswissenschaft einmal eng miteinander in Kontakt zu bringen.

An der Ludwig-Maximilians-Universität in München dient, wie sich einer Schrift der Universität entnehmen läßt, ein Computer den Experten von der Juristischen Fakultät als "unbestechlicher Analysator", der vor allem zum Durchforsten des Paragraphendickichts eingesetzt wird. Mit seiner Hilfe will man herausfinden, wo vielleicht Lücken oder Widersprüche im leider nicht immer perfekt modular strukturierten Gesamtsystem unseres Rechts verborgen sind.

Um die Zwecke, denen der Rechner hier also dienen muß, näher verstehen zu können, muß man sich vor Augen führen, daß Juristen nicht, wie Naturwissenschaftler, bloß einige wenige und möglichst allgemeingültige, keine Ausnahmen zulassenden Gesetze kennen. Vielmehr haben sie es tagein tagaus mit Regeln zu tun, die zwar ursprünglich sehr weit gezogen waren, die aber in der Praxis der Rechtsprechung durch immer enger werdende Ausnahmen und Ausnahmen von diesen Ausnahmen durchlöchert oder auch zerstückelt werden. Und nur wenn beim Gesetzgeber wie in der Rechtsprechung alles gut gegangen ist, steht am Ende so einer oft jahrzehntelangen Rechtsentwicklung eine halbwegs ordentliche, modulare Struktur, die auch das Herz eines kritischen Programmierers noch erfreuen könnte.

Mit dem Computer Paragraphen transparent machen

Professor Lothar Philipps vom Uniinstitut für Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik, also eine Art "Paragraphen-Computer" versucht nun, mit Hilfe seines Rechners alle jene logischen Verknüpfungen im Paragraphenwald "handhabbar und transparent" zu machen, die sich teils aus geschichtlichen Gründen im Verlauf der Entwicklung des Rechts herausgebildet haben, teils aus "synchronen" Umständen resultieren: also etwa aus typischen, erst vor Gericht voll aufbrechenden Interessenkonflikten oder auch, weil unterschiedliche Stufen der Wichtigkeit von Rechtsnormen ihren Ausdruck in entsprechenden Paragraphen (und Urteilen) gefunden haben.

Für Philipps ist der Paragraph "212" des Strafgesetzbuches ein schönes Beispiel für das, worum es ihm geht; denn der besage, "wer einen Menschen tötet, ohne Mörder zu sein, wird mit Freiheitsstrafe nicht unter fünf Jahren bestraft". Das aber sei "offensichtlich so nicht richtig", denn wer zum Beispiel einen Menschen auf dessen ernsthaftes Verlangen hin tötet, bekommt laut Paragraph "216" allerhöchstens fünf Jahre zudiktiert. Ganz zu schweigen von der straflosen Tötung in Notwehr und so weiter.

An diesem Beispiel, hinter dem übrigens ein ganzes Gebäude rechtsphilosophischer Begründungen für die Herkunft dieser Quasi-Widersprüche steht, zeigt sich jedenfalls eines deutlich: Beim Recht hat man es mit Satzsystemen zu tun, die durch tiefliegende Grundsätze sowie ferner durch zahlreiche Ausnahmen und Irregularitäten bestimmt sind. Und weil dies nun einmal so ist, bekommt diesseits aller rechtsphilosophischen Grundsatzüberlegungen die widerspruchsfreie, modulare Ausgestaltung des Paragraphenwerks eine eminent praktische Bedeutung. Muß man doch, und dazu kann ein Computer beitragen, mehr Klarheit, aber auch mehr Flexibilität bei der Entwicklung und Veränderung des Rechts anstreben.

Auf dem Weg dorthin ist es zunächst nötig, die Vielfältigkeit und Vielschichtigkeit der Rechtsmodule und ihrer Verknüpfungsweise klar durchleuchten zu können. Dies aber hat so es gelingt, nebenbei auch noch den Vorteil, daß man damit dann auch gleich einen Weg eröffnen kann, auf dem nun den Studenten im "bewußten kombinatorischen Spiel" das Regelwerk des Rechts "griffig" gemacht werden kann. Denn es wird ja immer schwieriger, im verwickelten Recht eines modernen Staates dem Nachwuchs den notwendigen Durchblick zu verschaffen; "aktives und strukturiertes Lernen" mit Hilfe des Mikrorechners als einem unbestechlichen Analysator könne da weiterhelfen, meint man an der Uni München

Die Idee, den Rechner in das Recht einzubauen, ist keineswegs neu erinnert Professor Philipps sich Denn das wollte man schon vor 20 Jahren, wobei man damals in ersten Linie an die vom Computer erhoffte Verbesserung der Juristenschulung dachte, aber auch spekulativ bereits daran, später mit leistungsfähigeren Systemen "der Rechtspraxis selbst zu dienen".

Heute, im Zeitalter der billigen Mikros, ist der computergestützte Juristenunterricht hier und da auf der Welt bereits Realität - so etwa auch in den USA, wo es ein Zentrum für computergestützte Rechtslehre gibt. Es produziert didaktische Programme für Mikrocomputer - "mit amerikanischem Elan und vermutlich auch mit amerikanisch dimensionierten Ressourcen". In München arbeiten Philipps und der Lehrbeauftragte und Rechtsanwalt Dr. Jochen Schneider zusammen mit einer Gruppe Studenten in "wesentlich bescheiderem, aber ausbaufähigem Rahmen" nun eben auch an der Entwicklung juristischer Lern- und Übungsprogramme.

Zwar besteht, ist von computergestütztem Unterricht die Rede; immer leicht die Gefahr, daß hier bloß ein paar Freaks l'art pour l'art treiben also die Kunst um der schönen Kunst willen - ohne daß dabei etwas wirklich Besseres herauskommt. Aber Philipps widerlegt so einen Einwand recht entschieden am Beispiel von Computermodellen, die dem Juraschüler etwa die Begriffe der "Rechtsnormen" einerseits und der "Rechtsinstitute" andererseits nahe, bringen sollen.

Institut: Mikrokosmos von Interaktionen

Juristen, so erfährt man vorbereitend, unterscheiden zwischen "Rechtsinstituten" und "Rechtsnormen", wobei ein "Institut" ein "Mikrokosmos von Interaktionen oder Wertbewegungen" also ein "Rechtsgebilde wie zum Beispiel Eigentum Ehe oder irgend ein Verwaltungsakt" ist. Eine Norm hingegen ist "eine Verhaltensordnung " .

In Lehrbüchern werden umfassende juristische Zusammenhänge bis hin zur Darstellung kompletter Rechtsinstitute nun gern durch Pfeile und andere Symbole dargestellt wobei der Fachmann von "Modellen" spricht. Und genau diese Art von Modellen kann man nun auf dem Bildschirm des Rechners" unverhältnismäßig besser darstellen" als auf Papier, sagt Philipps. Denn die Darstellung kann ja dynamisch aufgebaut werden, wodurch sich dem Studenten direkt vor Augen führen läßt, wie einzelne Rechtsgebilde werden und wieder vergehen und welche einzelnen Abläufe in ihnen und zwischen ihnen vorkommen können.

Darüber hinaus kann man dank des Computers sogar an einem an sich unverändert bleibenden Gebilde die Perspektive des Beobachters verändern und man kann mit Hilfe von Farben und Farbänderungen kritische Zusammenhänge noch zusätzlich hervorheben und verdeutlichen.

Grafische Modelle von Rechtsnormen möglich

Und auch von Rechtsnormen lassen sich, in gleicher Weise, anschauliche grafische Modelle fertigen, die beispielsweise die "Möglichkeit eines alternativen Vorbringens" (so kompliziert drücken Juristen das logische ODER aus) durch eine Gabelung andeuten, die Möglichkeit einer Einwendung hingegen, also ein "wenn nicht" oder ein "es sei denn, daß" durch einen blockierenden Querstrich (CW-Leser pflegen hier von der NICHT-Funktion zu sprechen).

Interessant ist, daß hier einmal nicht ein Informatiker (oder gar ein Heimcomputerfreak) das hohe Lied des "kreativen" Umgangs mit dem Rechner singt, sondern einer der für gewöhnlich ja als stocknüchtern eingeschätzten Juristen. Es sei nämlich so, sagt Philipps aufgrund eigener Erfahrungen, daß der Dialog mit dem Computer "durchaus kreative Züge haben kann - je nachdem, wie der Benutzer ihn steuert. Und damit dürfte diese gern als "seelenlose Blechapparatur" abgewertete Maschinerie denn endlich auf dem besten Wege zu sein, zu einer wertvollen juristischen Hilfskraft zu avancieren; zu einer, die nicht nur für die Lehre, sondern auch für die Analyse und sogar für die Gestaltung rechtlicher Strukturen von Nutzen sein kann.

Sogar das in letzter Zeit vielleicht ein wenig hochgespielte Thema "Künstliche Intelligenz" scheut der Münchner Rechtsexperte in diesem Zusammenhang nicht. Denn, so zitiert ihn ein Uni-Bericht über seine Forschungsarbeiten, es sei zwar nicht schon so, daß man juristische Probleme maschinell "lösen" könne aber es sei doch möglich, sie mit Computerhilfe "bis zu einem gewissen Grade zu erkennen und vorzubehandeln". Das ist, angesichts des Paragraphenverhaus in unseren Gesetzen, doch schon eine ganz respektable Leistung.