"CIOs müssen Evangelisten des Enterprise 2.0 werden"

31.07.2007
Mit Frank Gens, Senior Vice President Research bei IDC, sprach CW-Redakteur Christoph Witte über die Veränderungen, die das Web 2.0 für Unternehmen bringt, und wie sich CIOs auf diesen Wandel einstellen können.

CW: Was verstehen Sie unter Enterprise 2.0?

GENS: Die Frage lautet: Wie lässt sich das Web 2.0 inklusive der neuen Interaktionsformen und der veränderten Kommunikationskultur in Unternehmen sinnvoll einsetzen? Im Enterprise 2.0 geht es darum, Zusammenarbeit auf eine breitere Basis zu stellen, sie über die Unternehmensgrenzen hinweg auf Geschäftspartner, Kunden und Lieferanten auszudehnen. Es geht nicht um Tools, sondern darum, wie man Zusammenarbeit und Kommunikation von viel mehr Leuten unterstützt - und zwar eine zumindest im Ergebnis zielgerichtete Kommunikation. Schließlich sollen Produktverbesserungen, Innovationen oder bessere Regeln mit dieser Art der Kommunikation entstehen. Wie bekommt man mehr Gehirne zusammen, um Werte für ein Unternehmen zu schaffen? Das läuft nach dem Motto: Zwei Köpfe sind besser als einer und zweitausend sind besser als zwei Köpfe. Die Menschen haben das zwar schon immer gewusst, aber das Internet und die neuen Tools erleichtern die Kollaboration erheblich. Unternehmen können das sogar ohne eine eigene IT und ohne eigene IT-Mannschaft machen. Die meisten dieser Tools kosten zudem nichts.

CW: Gibt es Beispiele für diese neue Form der Zusammenarbeit?

GENS: Procter & Gamble hat schon gute Fortschritte erzielt mit seinem Programm Connect and Develop. Vor sechs oder sieben Jahren hat das Unternehmen begonnen, Outsider – Einzelpersonen oder Firmen – einzuladen, ihnen Ideen für neue Produkte zu liefern. Heute kommen mehr als 50 Prozent der neuen Produktideen für P&C-Produkte von außerhalb des Unternehmens.

Ein anderes Beispiel für die Nutzung von Innovation Communities ist Innocentive.com. Innocentive bringt Unternehmen und Wissenschaftler zusammen. Die einen haben Forschungsaufträge zu vergeben, und die anderen können sich mit Lösungsansätzen dafür wissenschaftliche Lorbeeren und Forschungsaufträge sichern.

CW: Und die IT eines Unternehmens hat mit Enterprise 2.0 nichts zu tun?

GENS: Die IT muss helfen, diese neue Art der Zusammenarbeit zwischen In- und Outsidern zu fördern und zu verbessern. Es muss dem Business den Umgang mit Blogs, Wikis, RSS-Feeds, Podcasts etc. erleichtern. Das erinnert ein bisschen an das Auftauchen von Salesforce.com. Die Unternehmen brauchen nicht unbedingt mehr eine IT-Abteilung, um zu Lösungen zu kommen. Und einige Businessgruppen machen das auch auf eigene Faust. Da liegt auch die Herausforderung. Ein CIO traditioneller Prägung würde sagen, dass diese Tools nicht für das Enterprise-Umfeld gemacht worden sind, ihre Sicherheit und ihre Schnittstellen den Unternehmensansprüchen nicht genügen. Aber mit dem Rat, dass Anwender deshalb die Finger davon lassen sollten, bringen sich CIOs in eine missliche Situation. Damit erheben sie sich in Sachen 2.0 zur Straßensperre, genauso wie sie das schon zur Zeiten des PC und des Internets gemacht haben. Sie können es sich aber nicht noch einmal leisten, die Straßensperre zu spielen. Dann nimmt sie niemand mehr ernst.

CW: Was hat IDC als ein IT-Marktforschungs- und Beratungshaus mit Enterprise 2.0 zu tun? Warum nehmen Sie das Thema auf, wenn es überhaupt nichts mit IT im engeren Sinne zu tun hat?

GENS: Es stellt die Fortführung vieler Dinge dar, um die wir uns bereits in der Vergangenheit gekümmert haben. Denken Sie nur an Dynamic Enterprise als Beispiel. Enterprise 2.0 treibt die Idee des flexiblen, aber in seiner IT-Struktur und den Prozessen sehr geordneten Unternehmens weiter voran. Mit neuen Tools werden die Fühler noch weiter über die Unternehmensgrenzen hinaus ausgestreckt.

CIOs müssen heute alles unterstützen, was ihren Unternehmen nützt, was für sie Mehrwert schafft. Filippo Passerini, CIO von Procter & Gamble beispielsweise hat viele der alltäglichen IT-Aufgaben ausgelagert. Er fokussiert seine ganze IT-Truppe darauf, der Geschäftsseite wertsteigernde (value added) Services anzubieten. Die Frage lautet, wie man in einem gegebenen Unternehmensumfeld IT einsetzt, um für das Unternehmen Werte zu schaffen, sei es in der Entwicklung neuer Produkte, dem Marketing oder der Produktion. Enterprise 2.0 gibt diesem Trend zusätzlichen Schub: nicht mehr nur das Unternehmen mit den eigenen Mitarbeitern voranzubringen, sondern auch andere Communities zum Beispiel, Geschäftspartner, Kunden oder Lieferanten anzuzapfen, um Abläufe oder Produkte zu verbessern oder sogar zu kreieren. Die neuen Tools wie RSS, Wikis, Blogs und Ajax bilden eine wichtige Komponente für die IT eines Enterprise 2.0.

Das bedeutet nicht, dass die anderen Dinge, die bisher die Enterprise-IT ausgemacht haben, verschwinden werden. Nein, Enterprise 2.0 ist eine Erweiterung der Möglichkeiten. Sie bringt diesen außerhalb kreierten Content in die Analysemaschinen der Unternehmen. Das stellt die nächste Aufgabe für die Cognos, IBMs oder Oracles dar. Wie lassen sich die Analysefähigkeiten von strukturierten auf schwach oder unstrukturierte Daten ausdehnen? Es muss eine Brücke geschaffen werden zwischen diesem unstrukturierten Content von außen und den von oben nach unten strukturieren Daten, die innerhalb des Unternehmens generiert und ausgewertet werden.

CW: Also stellt der so genannte User generated Content einen neuen, sehr großen Datenpool dar, der erst durch Analyse an Wert für das Unternehmen gewinnt?

GENS: Ja. CIOs und die Business-Verantwortlichen müssen ihre Fähigkeiten verbessern, Informationen zu analysieren und ein ganzes Portfolio von Quellen anzapfen. Die sehr strukturierten Finanz- oder Produktdaten brauchen wir natürlich weiterhin, aber es kommen andere, viel weniger strukturierte Informationen hinzu, die wir ebenfalls nutzen und systematisieren müssen. Wenn ich heute ein Problem mit einer Software oder einem Device habe, wende ich mich zuerst an die Site des Herstellers. Wenn ich dort nicht fündig werde, suche ich über Google. Das ist oft mühsam, weil ich erst die richtigen Antworten finden muss. In Foren beispielsweise kann ich nicht sofort erkennen, was richtig oder was falsch ist. Aber nach einer Zeit finde ich trotz dieses mühsamen händischen Verfahrens die richtige Antwort. Stellen Sie sich vor, eine Software könnte richtig und falsch unterscheiden. Auf diese Weise würde mein Problem viel schneller gelöst, und Unternehmen könnten ihren Kunden- und Partner-Input auch sehr viel besser analysieren und in die Produkt- oder Serviceverbesserung zügiger einfließen lassen.

CW: Wie groß wird die Veränderung durch Enterprise 2.0 werden, und wird sie alle Unternehmen in gleichem Maße betreffen?

GENS: In Unternehmen, die sich um Endkunden kümmern, werden wir die Adaption zuerst erleben. Finanzdienstleister und Hersteller von Konsumgütern profitieren wahrscheinlich am stärksten vom Input von draußen. Dabei werden die Veränderungen für diese Firmen radikal sein. Nicht so sehr, was den Einsatz von Tools betrifft, sondern die Einstellung. Die Mitarbeiter müssen lernen, etwas als genauso gut oder sogar besser zu betrachten, das von außen kommt. Das ist sehr radikal.

Ein zweiter Betrachtungswinkel ist die Unternehmensgröße, und das könnte besonders für Europa wichtig sein. Je größer ein Unternehmen ist, desto autarker fühlt es sich. Man glaubt, keine Hilfe von außen zu benötigen. Mittlere und kleinere Unternehmen, die ja das Rückgrat der europäischen Industrie bilden, plagen sich mit dieser Einstellung nicht so sehr. Sie sind offener für Ideen, die von außerhalb ihres Unternehmens kommen. Weil sie wissen, dass sie Beistand brauchen, werden sich mittlere und kleinere Unternehmen schneller bewegen. Netzwerke von Business-Partnern, die sich gegenseitig weiterhelfen können, dürften deshalb in Europa, speziell in Osteuropa schneller entstehen als in den USA. Diese Netze erachte ich als extrem wichtig für die weitere wirtschaftliche Entwicklung in Europa.

CW: Welche Rolle spielt in solchen Communities das geistige Eigentum?

GENS: Wenn es da keine klaren Regeln gibt, könnte das die Entwicklung solcher Netzwerke sehr stark gefährden.

CW: Was sind die wichtigsten Botschaften für IT-Manager im Zusammenhang mit Enterprise 2.0?

GENS: Die IT-Organisation muss diese Bewegung anführen, sie darf keine Straßensperre sein, die verhindert, dass Unternehmen sich mit Communities außerhalb ihrer Organisation verbinden. Es geht nicht um IT. Business-Verantwortliche suchen nach Wegen, schneller und besser zu innovieren. Die IT muss diese Suche entschieden unterstützen. CIOs müssen die Apostel für das Enterprise 2.0 werden. Unseren Untersuchungen zufolge werden leider schon heute die meisten Web-2.0-Aktivitäten in den Unternehmen nicht von der IT gesteuert, sondern von den Business-Leadern. Sie umgehen die IT, um die neuen Werkzeuge für sich zu nutzen.

CW: Also wiederholt sich die Geschichte wie beim PC und beim Internet, die die IT-Verantwortlichen zunächst auch verhindern wollten.

GENS: Ja. Und wenn die CIOs sich nicht schnell bemühen, die Web-2.0-Parade anzuführen, werden sie von ihr überrannt. Es gibt gute Möglichkeiten. Die Web 2.0 Tools sind ursprünglich für Privatanwender entwickelt worden, und wenn IT-Verantwortliche es gemeinsam mit den großen Business-IT-Anbietern schaffen, diese Tools unternehmensfähig zu machen, dann liegt darin eine große Chance, relevant zu bleiben.

CW: Können Sie CIOs konkrete Ratschläge geben, wie sie an dieser Entwicklung teilnehmen können?

GENS: Klar. Im September (10. bis 11.) findet unsere große europäische Konferenz in Berlin statt (siehe Kasten), da verraten wir das alles. Aber eine Sache kann ich hier schon sagen: CIOs sollten ihre Forschungs- und EntwickllungsaktivitätenR&D-Aktivitäten wieder aufleben lassen und verstärken. Eine solche Gruppe muss nicht groß sein. Sie sollte sich mit den neuesten Technologien befassen und untersuchen, wie sie sich für das Unternehmen einsetzen lassen. Heute gewinnt man manchmal den Eindruck die IT wüsste weniger über Blogs, Wikis, RSS-Feeds und so weiter als der private Endkunde.

Enterprise 2.0 -Capitalizing on Convergence

Das European ICT-Forum findet am 10. und 11. September 2007 in Berlin statt. Es ist ganz den Veränderungen gewidmet, die das Web 2.0 für Unternehmen bringen kann. Als Keynote-Speaker sind unter anderem Don Tapscott, Autor des Fachbuch-Bestsellers "Wikinomics: How Mass Collaboration Changes Everything" und der CIO von Procter & Gamble, Filippo Passerini, geladen. Mehr Informationen unter: www.idc.com/ictforum07 .

Einen Meinungsbeitrag zu diesem Interview finden Sie im Notizblog der Computerwoche