IT in der Prozessindustrie/Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit

Chemieindustrie muß ihre Jahr-2000-Projekte neu ordnen

24.07.1998

"Weiße Flecken auf der Landkarte gibt es nicht mehr." Mit seiner optimistischen Aussage bezieht sich Frank Sempert, der Sprecher der Jahr-2000-Initiative, freilich nur auf jenen Teil der Umstellungsarbeiten, der sich auf kommerzielle Informationstechnologie konzentriert. Erfahrung und Werkzeuge stünden nach Meinung der Auguren ausreichend zur Verfügung. Auch die Öffentlichkeit hat das Thema längst auf die Tagesordnung gesetzt. Wer nun die Ärmel noch immer nicht hochgekrempelt hat, dem ist wohl auch nicht mehr zu helfen.

Doch unter Vorständen und Geschäftsführern machen sich dunkle Vorahnungen breit. Sempert: "Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt einem neuen Terrain, das völlig unübersichtlich ist." Neben zahlreichen Gebäudesystemen wie Fahrstühlen, Heizungen, Beleuchtungen, Zugangskontrollen, Notstromaggregaten und Telekommunikationsanlagen bereiten den Entscheidern vor allem Fertigungs- und Prozeßleittechniken Sorgen. Altbackene, zum Teil völlig überholte Systeme sowie eine Vielzahl von kaum identifizierbaren Mikrochips machen die bis dato einigermaßen überschaubaren Projekte zu einer reinen Sisyphusarbeit.

Als der TÜV Rheinland/Berlin-Brandenburg vor Jahresfrist seine Klientel auf die Bedeutung der Embedded Chips aufmerksam machte, ließ die Reaktion der angesprochenen Unternehmen nichts Gutes erahnen. Kaum jemand konnte sich vorstellen, wieso etwas anderes als selbstentwickelte oder kommerzielle Software von dem Problem betroffen sein könnte. "Heute", sagt TÜV-Sprecher Detlev Henze, "brauchen alle Hilfe für die Suche nach den Chips und vernachlässigen dabei die konsequente Fortsetzung ihrer ursprünglich aufgesetzten Projekte."

Daß sich Chemieunternehmen, Automobilfirmen oder Anlagenbauer so früh wie möglich mit dem Thema auseinandersetzen sollten, unterstreichen die nun allseits bekannten Szenarien. So unterbrechen Systemuhren einzelne Prozesse oder lösen ohne Grund Wartungsaktivitäten aus. Das bloße Aussetzen wichtiger Abläufe in Fertigung und Produktionssteuerung ist auf den ersten Blick nicht sonderlich dramatisch. "Richtig blümerant" werde einem erst zumute, so Sempert, wenn man sich den Grad der Vernetzung vor Augen führe. So steuern Sensoren und Temperaturfühler wiederum Ventile, Pumpen, Motoren und Dosiereinrichtungen. Die Freisetzung korrosiver Stoffe oder die Überhitzung von Reaktoren sind ernstzunehmende Gefahren. "Doch den Unternehmen sind in puncto Embedded Systems die Hände gebunden", nimmt TÜV-Sprecher Henze die Anwender in Schutz. Sie können ihre Anlagen nicht einfach für Testzwecke abschalten und sich damit einen hohen Produktionsausfall einhandeln. Zudem seien die meisten Systeme im Unterschied zu kommerziellen Softwareprogrammen proprietär und würden ständig vom Hersteller angepaßt.

"Riesige Probleme für die gesamte Chemieindustrie" sieht zum Beispiel Gerd Schmalenberger voraus. Der Jahr-2000-Projektleiter der Merck KG a.A. in Darmstadt, die weltweit mit 43 Produktionsstandorten vertreten ist, hält überhaupt nichts von den Beschwichtigungsformeln der Hersteller. "Egal ob Lieferant von Standardsoftware oder komplexen Prozeßsteuerungssystemen, niemand kann hundertprozentige Sicherheit bieten." Viele Unternehmen hätten keine Ahnung, was sich alles in ihren Black Boxes verbirgt.

Der Brachenriese Merck, der weltweit 30 000 Mitarbeiter beschäftigt und zuletzt einen Umsatz von sieben Milliarden Mark verbuchte, greift bei der Lösungsstrategie auf eigene Kräfte zurück. Erst vor wenigen Wochen hat Merck neue Projektleiter ernannt, "die richtig lästig sein sollen". Mit Hunderten von Rechner- und Steuerungssystemen im In- und Ausland sollen sie über die Einhaltung der vorgegebenen Schritte wachen. Mit externen Dienstleistern hat Schmalenberger nichts am Hut. Dies gelte auch für die Euro-Umstellung. Trotz aller Vorbehalte rechnet man in Darmstadt mit der rechtzeitigen Lösung der Probleme. "Unsere geschäftskritischen Prozesse kriegen wir in den Griff. In allen anderen Bereichen werden Bauchschmerzen nicht ausbleiben."

Überzeugt, die richtigen Mittel gewählt zu haben, sind auch die Verantwortlichen der Wacker Chemie GmbH in München und am Produktionsstandort Burghausen. Dort ist man auf externe Dienstleister ebenfalls nicht gut zu sprechen: "Unsere Erfahrungen haben gezeigt, daß diese Leute nur von ihrer Kundschaft profitieren und dieses Wissen dann in anderen Projekten teuer verkaufen." Um kaufmännische und technische Systeme rechtzeitig umgestellt zu haben, wurde die Verantwortung klar aufgeteilt. Von Burghausen aus werden auch alle internationalen Produktionsstandorte überwacht.

Laut Projektleiter Hermann Bommer sind die Hersteller inzwischen aufgewacht, "sogar Siemens". Das Team hat die Inventarisierung abgeschlossen und alle prozessorgesteuerten Anlagen auf Systeme mit Datumsfunktion überprüft. Dabei hat man sich auf die "Compliance"-Zusicherung von Meßgeräteherstellern wie Krohne oder Endress+Hauser verlassen. Problematischer hingegen seien programmierbare Steuerungssysteme, von denen einige durchaus betroffen gewesen seien. Im Scanning-Verfahren habe man das Problem aber gelöst.

In Zukunft will Bommer bei allen gesetzlich geregelten Anlagenüberprüfungen nicht nur die Mechanik, sondern auch die Elektronik checken lassen. Überhaupt hat der Experte den Eindruck, daß in der Chemieindustrie viel getan wird. "Wir sind auf einem guten Weg", meint er. Allein BASF suche bereits seit Jahren nach betroffenen Systemen und habe bislang noch kein einziges gefunden.

Auch bei der Bayer AG in Leverkusen und der Hüls Chemie AG im nördlichen Ruhrgebiet gibt man sich optimistisch: "Wir haben das Jahr-2000-Projekt auf den kaufmännischen Bereich, die Anlagensteuerung und die Haustechnik verteilt", so Unternehmenssprecher Hans-Bernd Schmitz. IT und zentrale Technik hätten die Oberhand und griffen auf Jahr-2000-Beauftragte in den einzelnen Betrieben zu. Anlage für Anlage sei gecheckt und in Tests nochmals überprüft worden. Überhaupt sei die Großtechnik wesentlich überschaubarer als die PC- und Softwarelandschaft, so Schmitz. Über eine eigens für das Problem eingerichtete Hot- line kämen laufend Hinweise aus den Reihen der Mitarbeiter, die beobachteten, wo sich eventuell ein neues Problem ergebe. Vorstandspriorität allerdings habe trotz allen Zündstoffs des Millennium-Bugs die SAP-Einführung.

Ähnlich lauten die Aussagen bei Hüls, wo man dem Vernehmen nach die Hersteller ins Gebet genommen hat. Jochen Gintzel, Leiter des IT-Managements: "Bei der Überprüfung unserer Anlagen und Prozeßsteuerungssysteme, die inzwischen abgeschlossen ist, mußten alle Lieferanten Farbe bekennen." Konzernweit werde derzeit auf SAP R/3 umgestellt, eine Entscheidung, die auch vom Jahr-2000-Problem beeinflußt wurde. Kurz und knapp dagegen der Kommentar von Heinz Ziesch, DV-Leiter der Deutschen Exxon Chemicals GmbH in Köln: "Wir werden von unserer US-Mutter gesteuert und haben mit der Umstellung, die Ende 1998 abgeschlossen sein soll, selbst nichts zu tun."

Die überwiegend selbstbewußten Prognosen der Unternehmen sind zu begrüßen, nähren jedoch auch einige Zweifel. So hatte die Kölnische Rück ermittelt, daß etwa die Hälfte der deutschen Industrieunternehmen sich noch nicht um mögliche Jahr-2000-Probleme ihrer Produktionsanlagen gekümmert hat. Wer dies jedoch tat, konzentrierte sich zum überwiegenden Teil auf Embedded Systems mit Zeitfunktionen. Mit einem Anlagenstillstand oder Fehlproduktion als drohender Konsequenz wird dabei eher gerechnet als mit Erkalten, Erhitzen oder Überdruck von Anlagen. Grundsätzlich, so die Kölnische Rück, sei das Problembewußtsein in der Chemieindustrie gestiegen, dagegen im Maschinenbau und in der Metallindustrie eher gesunken.

Für den TÜV Rheinland, der mittlerweile Audits und Zertifizierungen durchführt und auch Chemieunternehmen zu seiner Kundschaft zählt, sind die Aussagen der Unternehmen wie Wasser auf seine Mühlen. "80 bis 90 Prozent der deutschen Industrieunternehmen wissen überhaupt nicht, warum sie sich so sicher fühlen", geht Henze in die Offensive. Für einige Hersteller von Leitsystemen und Prozeßsteuerungsanlagen ist es völlig neu, daß viele Chips in ihren Maschinen den Takt angeben. Besonders prekär sei dieser Umstand für die Lieferketten, wie sich erst jüngst in der Automobilbranche gezeigt habe. "Wir stellen bei unseren Audits immer wieder fest, daß die Sicht der Unternehmen auf ihre elementaren Geschäftsprozesse völlig falsch ist."

Während der TÜV Rheinland einen Expertenpool aufbauen will, um den Firmen unter die Arme zu greifen, plant die Kölnische Rück eine weitere Untersuchung der gegenwärtigen Umstellungspraxis. Diesmal wollen sich die Versicherungsexperten ausschließlich auf die Produktions- und Prozeßsysteme konzentrieren und nicht mehr die DV-Leiter zu Wort kommen lassen. Betriebe wie der eidgenössische Chemiegigant Novartis heuern bereits Fremdfirmen an, die sich, mit Schaltplänen bewaffnet, an jeden einzelnen Gefahrenherd herantasten. Viele Wege führen nach Rom. Dennoch, so die Überzeugung von Merck-Projektleiter Schmalenberger: "Von Turbulenzen bleibt wohl niemand verschont."

ANGEKLICKT

Gut die Hälfte der deutschen Industrieunternehmen hat sich der Kölner Rück zufolge noch nicht um mögliche Jahr-2000-Probleme ihrer Produktionsanlagen gekümmert. Das Problembewußtsein in der Chemieindustrie sei gestiegen, in der Metallindustrie eher gesunken. Und beim TÜV Rheinland stellte man fest: "80 bis 90 Prozent der Industrieunternehmen wissen überhaupt nicht, warum sie sich so sicher fühlen."

Winfried Gertz ist freier Journalist in München.