IT in der Prozessindustrie/International verteilte Produktion bestimmt die Logistik

Chemiebranche braucht komplexe Lösungen

16.05.2003
Die deutsche Chemieindustrie ist international führend, hat aber einen schweren Stand: Umweltauflagen und globaler Wettbewerbsdruck setzen hohe Standards. Kooperation und Kostenkontrolle fordern effiziente Geschäftsprozesse - über Standort- und Firmengrenzen hinaus.Von Konrad Buck*

Deutschland ist nach den USA und Japan drittgrößter Chemieproduzent. Der Exportanteil dieser Industrie hat in den letzten zehn Jahren den stagnierenden Inlandsabsatz deutlich abgehängt. Über die Hälfte des Umsatzes wird direkt im Ausland erzielt. Mit einem Exportvolumen von 81,4 Milliarden Euro im Jahr 2002 erreichte die deutsche Chemieindustrie hinter den USA sogar Platz zwei - mit einer Quote von rund 60 Prozent. Eine Erfolgsstory, die längst über nationale Grenzen hinausgewachsen ist.

Produktionsstandorte und Forschungszentren rund um den Globus sowie internationale Beschaffung und Distribution prägen die Unternehmensstrukturen. Oft werden Stoffe in einem Werk vorproduziert, das Produkt selbst jedoch in einem anderen Werk fertig gestellt - nicht selten auf verschiedenen Kontinenten. Dabei bewegt man sich in einem Spannungsfeld nationaler und internationaler Auflagen zur Umweltverträglichkeit und Preisgestaltung, zur Dokumentation von Testreihen und Produkten sowie zum Verbraucherschutz und sicheren Transport von Chemikalien - komplexe Szenarien und Umstände, die zumindest Informationstechnologie im State of the Art erfordern.

Chemische Erzeugnisse umfassen neben Grundstoffen, pharmazeutischen Produkten und Chemiefasern auch Schädlingsbekämpfungs- und Pflanzenschutzmittel, Farben sowie Seifen, Wasch-, Reinigungs- und Körperpflegemittel. Bei den Grundstoffen läuft der Wettbewerb fast ausschließlich über den Preis. Firmen, die dem entgehen wollen, verlegen sich auf Spezialgebiete wie Siliziumchemie oder keramische Werkstoffe. Hier spielen Qualität und Produkteigenschaften sowie spezielle Verfahrenstechniken eine große Rolle.

Doch reichen herausragende Produkte allein nicht aus, um sich in Zeiten globaler Warenverfügbarkeit von der Konkurrenz zu unterscheiden. Zunehmend bestimmen weitere Faktoren den Wettbewerb: Effizienz, Flexibilität, Reaktionsschnelligkeit und Kundenorientierung.

Strukturwandel verordnet

Mit dem Ziel, Kosten sowie Kapitalbindung in Beschaffung, Lagerhaltung und Transport zu reduzieren und gleichzeitig die Produktionsanlagen möglichst gut auszulasten, hat sich die Chemieindustrie in den letzten Jahren einen erheblichen Strukturwandel verordnet, der nach wie vor andauert: Die Firmen reorganisieren ihre Abläufe in Produktion, Handel sowie weltweiter Logistik und öffnen darüber hinaus ihre Infrastrukturen für eine enge und direkte Kooperation mit Kunden und Geschäftspartnern. Dabei stehen Integrationsmaßnahmen im Vordergrund, um sowohl innerhalb des Unternehmens und zwischen verschiedenen Standorten als auch mit Kunden und Partnern durchgängige digitale Geschäftsprozesse zu schaffen.

Ein gutes Beispiel für diesen Umbau ist die in München ansässige Wacker Chemie GmbH: "Wir wollten die Komplexität der historisch gewachsenen Systemlandschaft entscheidend reduzieren, um flexibler auf neue Anforderungen reagieren und die Wartungskosten nachhaltig begrenzen zu können", begründet Oswald Schnappinger, Leiter Application Services, die Einführung einer ERP-Standardlösung vor etwa fünf Jahren. Dies war aber nur ein Argument von mehreren. Das Projekt zielte auf E-Business-Tauglichkeit sämtlicher Strukturen. Im Kern ging es um die Geschäftsprozesse selbst, darum, Automatisierungsgrad und Prozessgeschwindigkeit zu steigern und damit Effizienz und Produktivität, denn: "Die fortschreitende Prozessintegration bringt heute die entscheidenden Wettbewerbsvorteile", bestätigt Arno von der Eltz, IT-Leiter bei Wacker Chemie.

Wesentliche Anstrengungen im Rahmen dieses Strukturwandels der Chemieindustrie beziehen sich auf das Supply-Chain-Management (SCM). Der Wacker-Konzern steuert die Lieferung von deutschen Vorprodukten zum Produktionsstandort in den USA so, dass eine optimale Balance zwischen Lagerhaltung vor Ort und Transportkapazitäten eingehalten wird. Verringerte Kapitalbindung in den USA, gesunkene Logistikkosten und ein gestiegener Auslastungsgrad der Produktionsanlagen sind die erfreuliche Folge. Im diesem Zusammenhang implementierte die Wacker Chemie eine SAP-Lösung zur Transportkostenabwicklung. Ziel war die automatische Ermittlung und Abrechnung der Frachtkosten für alle Verkehrsträger sowie ein entsprechendes Gutschriftenverfahren für die beauftragten Spediteure.

Hochgradig vernetzte Supply Chains

Dieses System sei hier nur stellvertretend genannt für die vielen hochgradig vernetzten Supply Chains, die sich quer durch die gesamte Chemieindustrie formieren. Angestrebt wird eine möglichst direkte Interaktion mit allen Beschaffungspartnern auch nachfolgender Ebenen sowie die weitgehende Automatisierung der Beleg- und Informationsflüsse. Dementsprechend verändern sich vormals lineare Ablaufsequenzen zu logistischen Netzen, die Kunden und Partner in mehrschichtige Lieferprozesse integrieren. Diese "adaptiven" Liefernetzwerke können sich schnell und ohne nennenswerten Aufwand an unterschiedliche Anforderungen anpassen: In einem oftmals sehr komplexen Gesamtgefüge bietet ein Logistiknetz den Beteiligten eine individualisierte und damit einfachere Sicht auf den gemeinsamen Informationspool unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Voraussetzungen, Kompetenzen und Berechtigungen der Partner. In der anderen Richtung reichen die Netze bis weit hinein in das Ablaufgefüge der Kundenunternehmen. Via Internet erhalten Partner und Kunden Zugriff auf die für sie relevanten Daten.

Diese horizontale Integration, das heißt die Verknüpfung von Lieferanten und Kunden in einem durchgängigen logistischen Geschäftsprozess, ist zurzeit in vollem Gang. Nachdem gerade in großen Unternehmen die konzerninterne Integration und Einführung standardisierter Geschäftsprozesse weitgehend abgeschlossen ist, werden nun die Geschäftspartner in das System eingebunden. Dabei erhalten Lieferanten Zugriff beispielsweise auf die Bestandsverwaltung ihres Kunden. Sie besorgen sich dort Daten über den Warenverbrauch, füllen dann den Bedarf selbständig auf und stellen am Ende des Monats eine elektronische Rechnung. In zehn Jahren dürfte die Mehrzahl der Geschäftsbeziehungen in der Chemieindustrie durch solche durchgängigen Geschäftsprozesse gekennzeichnet sein.

Drehscheibe für Kunden und Mitarbeiter

Gleichzeitig sind die Firmen bestrebt, die vertikale Integration von Informationen aus den Produktionsanlagen voranzutreiben und den Informationsfluss zwischen Prozessleittechnik und betrieblicher Ressourcenplanung zu verbessern. Ziel ist völlige Transparenz: Jede Information soll jederzeit in jeder Systemkomponente verfügbar sein. Allerdings müssen Komplexität und Informationsvolumen beherrschbar bleiben. Nicht nur in der Chemieindustrie werden Portaltechniken zunehmend genutzt, um Informationen individualisiert und situationsgerecht verfügbar zu machen. Denn nicht nur Mitarbeiter rund um den Globus, auch Partner und Kunden können über personalisierbare Portale gezielt, schnell und effizient angesprochen werden. Ein Kunde aus der Automobilindustrie erführe dann etwa alle Neuigkeiten des Bereichs Unterbodenschutz, und ein Elektrounternehmen würde mit dem Neuesten über Kunststoffe für Kabelisolierungen versorgt. In einer informationsintensiven Branche wie der Chemieindustrie ist das ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Außerdem lässt sich via Portal direkt bestellen, auch kann dieses den Kunden zeigen, wie weit ihre Aufträge schon bearbeitet sind.

Mobilität fördert Effizienz

Noch dominiert der PC die Geschäftswelt. Aber für Vertreter mancher Berufsgruppen ist selbst ein Notebook zu unhandlich, wenn sie im Gelände, beim Kunden, in Lagerhallen oder Fabrikgebäuden unterwegs sind. Ihnen stehen vom Handy über den PDA bis zum Handheld-Computer zahlreiche Geräte zur mobilen Datenerfassung zur Verfügung. Diese mobilen Frontends kommen auch in Verbindung mit ERP-Systemen zunehmend zum Zug. Bedienerfreundlichere Portaltechniken, höhere Übertragungskapazitäten in mobilen Netzen sowie Web-Service-Infrastrukturen werden in den kommenden Jahren dafür sorgen, dass tragbare Kleinrechner auch in Business-Szenarien immer wichtiger werden.

Futuristisch mutet das Konzept der "impliziten Interaktion" an. Dahinter verbirgt sich die Idee, Daten durch Berühren, Zeigen oder Bewegen zu erfassen. Der Mensch führt eine Handlung aus, das System registriert, was er tut, und reagiert entsprechend. Ein Lagerarbeiter verbucht beispielsweise den Wareneingang, indem er die Ware einfach ins Regal stellt. Die Information wird dabei mittels Handschuh automatisch beim Berühren eines Sensors registriert. Der Arbeiter benötigt keine Computerkenntnisse, sondern kann seiner Arbeit wie gewohnt nachgehen - der Spezialhandschuh ersetzt die Tastatur. Prototypen solcher Szenarien existieren bereits, es werden allerdings noch einige Jahre vergehen, bis sie serienreif sind. Ziel ist, mehr Menschen und ihre Tätigkeiten in die IT einzubinden und ihnen dafür Techniken zu liefern, die den arbeitsplatztypischen Anforderungen entsprechen. Damit werden Informationen erzeugt, die ohne manuellen Zwischenschritt maschinell weiterverarbeitet werden können.

Bei allen Unterschieden zwischen dem Tagesgeschäft verschiedener Industriezweige sind doch viele Kernprozesse der Unternehmensführung wie Finanzen oder Personalwesen weitgehend identisch. Daher werden diese zentralen Geschäftsabläufe meist mit einer einheitlichen Standardlösung abgedeckt, die übergreifende Funktionen, Infrastrukturen und Services bereitstellt. Darauf aufbauend unterstützen branchenspezifische Funktionen die besonderen Arbeitsprozesse der jeweiligen Industrie. Diesem Konzept folgt beispielsweise die Branchenlösung "SAP for Chemicals". Auf Basis übergreifender Kernfunktionen zum Beispiel für Customer-Relationship-Management (CRM) und Supply-Chain-Management (SCM) sowie zentrale ERP-Prozesse der Business-Suite deckt die Lösung die chemiespezifischen Ausprägungen ab. Dazu gehören die Vorbereitung und Kontrolle von Stabilitäts- und Labortests, das Labordaten-Management oder auch das so genannte Recipe-Management. Es erlaubt die Zusammenstellung, Versionskontrolle und Steuerung von Produktinhaltsstoffen. So können Chemiefirmen sowohl Entwicklung als auch Produktion und die damit verbundene Planung und Kostenkontrolle verbessern sowie permanent die Qualität absichern.

Konsequente Integrationsstrategie

Branchenlösungen helfen Unternehmen, auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet effizienter und kostengünstiger zu arbeiten. Durch Workflow-Technik und Integration von Daten können Firmen zum Beispiel ihre Transaktionskosten senken, neue Produkte schneller auf den Markt bringen, Fertigungs- und Produktionsabläufe straffen sowie ihre Planung, Prognosen und Marktanalysen verbessern.

Mit diesem Lösungsansatz betreibt auch der Wacker-Konzern eine konsequente Integrationsstrategie: Heute bildet das ERP-System die Basis, auf der weltweit einheitliche Prozessmodelle für die 24 Produktionsstandorte und über 100 Tochtergesellschaften und Dependancen etabliert werden. Im Bereich Product- Lifecycle-Management (PLM) implementiert Wacker derzeit Funktionen zur Prozesssteuerung für Umwelt-, Gesundheits- und Sicherheitsauflagen. Auch lassen sich damit Standards für den Arbeitsschutz und den Umgang mit Gefahrgütern etablieren. (bi)

*Konrad Buck ist freier Journalist in Düsseldorf.

Die Wacker Chemie

betreibt 25 Produktionsstätten in Europa, Amerika und Asien sowie mehr als 100 Vertriebsgesellschaften rund um den Erdball und beschäftigt zirka 17 000 Mitarbeiter. Im Jahr 2002 setzte der Chemiekonzern in den vier Kerngeschäftsfeldern Halbleitertechnologie, Siliziumchemie, Spezialchemie und keramische Werkstoffe rund 2,7 Milliarden Euro um. Mit einem Umsatzanteil von fast sechs Prozent für Forschung und Entwicklung zählt der Konzern zu den forschungsintensivsten Unternehmen der Chemiebranche.