James Martin über die Rolle der IT im Unternehmen der Zukunft

Chefinformatiker werden zu Cybercorp-Architekten

28.03.1997

Ob der Begriff Cybercorp in einem Satz zu definieren sei? James Martin schüttelt den Kopf. "Vielleicht könnte man sagen: Es handelt sich um ein Unternehmen, das für das Zeitalter des Cyberspace optimiert wurde. Aber tatsächlich ist das ein sehr komplexes Thema. Eine Cybercorp weist nämlich viele unterschiedliche Charakteristika auf."

Die meisten dieser Merkmale benannte der Unternehmensberater in dem zweitägigen "Cybercorp"-Seminar, das er kürzlich in Frankfurt am Main abhielt. Das wichtigste Charakteristikum betrifft das Organisationsprinzip: Ein zukunftstaugliches Unternehmen orientiert sich an Wertschöpfungs-Prozessen - in der James-Martin-Diktion "Value Streams" genannt - und nicht an Funktionen.

Besonders erfolgreiche Organisationen zeichnen sich laut Martin dadurch aus, daß sie unter allen Wertschöpfungs-Prozessen diejenigen identifiziert und überarbeitet haben, die für das jeweilige Geschäft am wichtigsten sind. Art und Anzahl dieser "Killer Value Streams" seien von Betrieb zu Betrieb unterschiedlich.

Die komplette Erneuerung der wichtigsten Prozesse ("Value Stream Reinvention") sieht Martin als eine Weiterentwicklung des "Procedure Redesign" (Veränderung der Vorgänge), das wiederum eine Stufe höher stehe als das "Total Quality Management" (TQM) und "Kaisen" (der japanische Begriff heißt übersetzt soviel wie kontinuierliche Verbesserung aller Dinge durch alle Mitarbeiter). Bei der Value Stream Reinvention gehe es nicht darum, die bestehenden Prozesse zu überarbeiten, sondern sie komplett zu ersetzen. Dadurch könne sich das gesamte Unternehmen nach vorn katapultieren (siehe nebenstehende Grafik).

Neben der Orientierung an Prozessen zeichnet sich eine Cybercorp dadurch aus, daß sie mit kleinen, flexiblen Einheiten operiert, daß sie insgesamt eine hohe Lernkurve aufweist, daß sie vorhandene Informationen effizient zu nutzen weiß und daß sie sich, wie der Name bereits andeutet, über geografische und unternehmensbezogene Grenzen hinwegsetzt.

Neben der Personalentwicklung begreift Martin die Informationstechnik als die treibende Kraft auf dem Weg dorthin. Die meisten der in jüngster Zeit veröffentlichten Success-Stories (Martin nannte hier unter anderem Visa, Benetton, Walmart, Ford, Boeing und die Hong Kong Bank) seien mit hohen Investitionen in die IT einhergegangen.

In diesem Zusammenhang brach der Vater des "Information Engineering" eine Lanze für das totgesagt Computer-aided Software Engineering (CASE). Ungeachtet des derzeitigen Standardsoftware-Booms erfordere die Neugestaltung der Killer Value Streams unbedingt eine eigene oder zumindest eine indi- viduelle Software-Entwicklung (siehe das Interview mit James Martin in CW Nr. 12 vom 21. März 1997, Seite 8).

Mit dem Thema Outsourcing empfahl der Analyst hingegen äußerst vorsichtig umzugehen. Die Auslagerung der IT an einen Dienstleister sei nur in zwei Fällen sinnvoll: wenn das Unternehmen einen explodierenden Markt nicht allein beherrschen könne oder wenn es außerstande sei, ein neues Produkt selbst zu entwickeln.

Einem kompletten Outsourcing steht Martin auf jeden Fall kritisch gegenüber. Seine Begründung: "Die Outsourcing-Entscheidung wird oft vom Chief Financial Officer getroffen, und der kennt sich nur mit kurzfristigen Effekten auf die Finanzen aus, nicht mit den langfristigen Auswirkungen auf die Cybercorp." Die heute geschlossenen Outsourcing-Verträge könnten die Veränderungen, die auf die Betriebe zukämen, noch nicht berücksichtigen. Und wenn sie es doch täten, so wäre die Frage des Entgelts nur schwer zu klären.

Darüber hinaus plädierte Martin - entgegen anderslautenden Vorschlägen von seiten seiner Zunftgesellen - dafür, die Position eines obersten IT-Chefs zu erhalten. "Es ist unmöglich, ein Unternehmen zu betreiben, ohne daß es einen Mitarbeiter gibt, der mit hohen Kompetenzen ausgestattet für die Informationstechnik verantwortlich zeichnet." Allerdings sei Bedingung, daß sich diese IT-Manager dem Wandel des Unternehmens anpassen, vor allem aber die Nähe zur Firmenleitung und damit zum eigentlichen Geschäft suchen. "Aus dem Chief Information Manager muß der Chief Cybercorp Architect werden", forderte Martin.

Intranet bringt mehr Nutzen als Internet

Zusätzlich zur Orientierung am jeweiligen Business erwartet der Berater vom IT-Verantwortlichen der Zukunft vor allem die Beherrschung des Handwerkszeugs. Der Chefinformatiker sollte fähig und willens sein, sich die Technologien zunutze zu machen, die dem Unternehmen strategische Vorteile bringen.

Dazu zählt der Berater objektorientierte Software-Tools und Data-Warehouses mit Olap-Werkzeugen, vor allem aber unternehmensübergreifende Netze. Für sich genommen sei das Internet ein zweischneidiges Schwert. "Das Unsinnigste, das Ihre Mitarbeiter tun können, ist, im Netz umherzusurfen", lautet Martins Credo. Erst ein Intranet, also ein internes Netz, das für bestimmte Zwecke eingerichtet wurde, mache aus dem Internet ein strategisches Informationsmedium. Noch nützlicher als ein solches Inhouse-Netz sei jedoch ein Extranet, das Partnerunternehmen weltweit in den Informationsverbund einbeziehe.