Chancen für Partizipation erhöhen

29.08.1986

Der Einfluß des technischen Fortschritts, verstanden als Steigerung der Produktivität der menschlichen Arbeit, auf die langfristige Entwicklung der Struktur einer Wirtschaft und auf Preis- und Beschäftigungsstrukturen ist theoretisch leicht zu erklären und empirisch auch gut belegt:

Lassen Sie mich - der Marxschen Methode folgend - einige Vermutungen über die Zusammenhänge von wissenschaftlichem und technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Bewußtsein in den nächsten Jahren und Jahrzehnten sowohl in den demokratischen Industrieländern als auch in den sogenannten sozialistischen Ländern anstellen.

Die zu beschreibenden Tendenzen im gesellschaftlichen Bewußtsein sind nach meiner Meinung nicht nur zurückzuführen auf den beschleunigten Fortschritt von Wissenschaft und Technik, sondern auch auf den dadurch ermöglichten höheren Lebensstandard, auf die gestiegenen Bildungschancen, auf mehr Freizeit und den unbezähmbaren Drang der Menschen nach mehr Freiheit und Sicherheit.

Zum ersten Mal in ihrer Geschichte arbeiten die Menschen mit einem Rohstoff, der "nicht nur beliebig ersetzbar und erneuerbar ist, sondern sich quasi selbst beständig erneuert und vervollkommnet."

Eine schnell fortschreitende Informatisierung der Arbeitswelt ist unübersehbar.

Einzeltechnologien ergänzen sich gegenseitig und verschmelzen miteinander, Büro- und Fertigungsautomatisierung verbinden sich zu einer einheitlichen Technologie.

Selbstverständlich kann niemand genau wissen, wie sich die in der Arbeitswelt und im Konsumbereich mit Macht durchsetzende Informatisierung auf den gesellschaftlichen Struktur- und Wertewandel und auf das gesellschaftliche Bewußtsein auswirken wird. Sie wird auf jeden Fall die Produktivität der menschlichen Arbeit enorm verändern.

Die neuen Techniken werden es ermöglichen und erzwingen, daß sich die Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft dezentralisiert.

Das veränderte gesellschaftliche Bewußtsein wird immer mißtrauischer gegenüber der Leistungsfähigkeit zentraler und kostspieliger Umverteilungs- und Betreuungsbürokratien sein. Bei aller Anerkennung der Notwendigkeit gegen die großen Lebensrisiken (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsunfähigkeit, Alter) versichert zu sein, steigt die Tendenz zur Selbsthilfe, zur Familien- und Nachbarschaftshilfe, gesundheitlicher Vorbeugung.

Es werden immer weniger materielle Güter und mehr Dienstleistungen nachgefragt. Unter dem Einfluß der neuen Technologien werden nicht nur die Arbeitnehmer gebildeter und selbstbewußter. Dezentralisierung und höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau werden auch zu stärkerem Selbstbewußtsein gesellschaftlicher Gruppen führen.

Um dem technischen Fortschritt optimale Entwicklungsbedingungen zu schaffen, sollten wir deshalb in unserem Lande bewußt und mit Nachdruck alles fördern, was die Fähigkeit der Bürger zur selbstverantwortlichen Lösung gesellschaftlicher und individueller Probleme im eigenen Lebens- und Arbeitsbereich verbessert und ihre Beteiligungsmöglichkeiten an Entscheidungsprozessen erhöht.

Im Arbeitsleben wird die persönliche Würde und Freiheit des einzelnen Menschen eine größere Rolle spielen. Das Bewußtsein wird zunehmen, daß jeder seine persönlichen Begabungen und Fähigkeiten noch freier entfalten können sollte, denn je interessanter und sinnvoller die Arbeit, je stärker umfassende und stetige Bildungsanstrengung ihre Grundlage sind, um so produktiver werden die Menschen sein.

Im gesellschaftlichen Bewußtsein wird es deshalb zunehmend als wichtig erscheinen, zur Förderung des Fortschrittes von Wissenschaft und Technik

* das Bildungswesen noch stärker mit dem Arbeitsleben zu verbinden und ein noch besseres und umfangreicheres System der inner- und außerbetrieblichen Weiterbildung und Umschulung zu schaffen;

* im Rahmen einer vorausschauenden und innovationsorientierten staatlichen Wachstumspolitik die Entwicklung neuer Technologien nachhaltig zu fördern sowie den technischen Fortschritt und die Veränderungen der wirtschaftlichen Strukturen bewußt zu steuern.

Fazit: Wenn wir in der Bundesrepublik und in den anderen westlichen Demokratien. In Zukunft die Vorteile des technischen Fortschritts voll nutzen, indem wir Vollbeschäftigung organisieren, die Natur schützen, die Arbeitswelt humanisieren, uns für mehr Mitbestimmung, gleiche Ausgangschancen und für eine demokratische Planung der Wirtschafts- und Technologieentwicklung einsetzen, dann wird es uns die Entwicklung der Produktivkräfte in den nächsten Jahrzehnten erlauben, den Menschen freier, unser Leben reicher, interessanter, bunter und die Gesellschaft vielfältiger und demokratischer zu machen.

Technischer Fortschritt und Entwicklung der Produktivkräfte werden auch im Ostblock, in den sogenannten sozialistischen Ländern, zu einem gesellschaftlichen Bewußtsein führen, das in zunehmendem Maße der augenblickliche autoritäre, bürokratische, korrupte und ineffiziente Organisationsform der Produktionsverhältnisse als Fessel für den weiteren wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt empfindet. Auch in diesen Ländern - Marx würde sich bestätigt sehen - werden die Produktivkräfte die Fesseln der sie behindernden Produktionsverhältnisse sprengen.

Wenn wir den Frieden sichern und den auf eine liberale, freiheitliche und demokratische Entwicklung drängenden Kräften in den Ostblockstaaten größere Bewegungsräume schaffen und die demokratischen Reformkräfte in den Ländern der Dritten Welt stärken, dann besteht eine große Chance, daß sich im Laufe einer langen Entwicklung die lebensbedrohenden Spannungen zwischen den Blöcken lösen. Der von vernünftigen Menschen gesteuerte technische Fortschritt und eine zunehmend problembewußte öffentliche Meinung werden uns dabei helfen.