Zukünftige Potentiale der Sprachkommunikation, Teil 2

Centrex als Konkurrenz für ISDN-Anlagen

02.09.1988

Das Stichwort "Value Added Services" oder kurz VAS skizziert einen Markt, der sich in Aufbruchstimmung befindet. Gemeint sind in der Regel allerdings meist datenkommunikationsorientierte Dienstleistungen. Dirk Nouvortne und Reiner Pliefke* zeigen in einer dreiteiligen Folge auf, daß auch dem Bereich Sprachkommunikation VAS-Potentiale innewohnen. Nachdem sie sich im ersten Teil, ausgehend vom Thema "Dokument", mehr grundsätzlich mit der sich abzeichnenden Integration der Kommunikationsformen beschäftigten, stehen nun "Centrex"-Systeme als eine mögliche VAS-Nutzung im Mittelpunkt. Als dritter und letzter Teil folgt in der nächsten Ausgabe das Thema "PABX-Networking".

Es ist weniger die reine Sprachkommunikation, die eine wirtschaftliche Privatisierung zuläßt, als vielmehr die immer größer werdende Vielfalt von Sprachleistungsmerkmalen, die gerade durch das ISDN ermöglicht und vorangetrieben wird.

Modern geführte Unternehmen richten sich bereits heute auf das ISDN ein, indem sie fällig werdende Reinvestitionen im Bereich der Nebenstellensysteme durch ISDN-Nebenstellenanlagen (PABX) vornehmen. Da diese Systeme sehr kostenintensiv sind - insbesondere, wenn die Fülle der Leistungsmerkmale benötigt wird -, müssen besonders kleinere und mittlere Unternehmen sowie kleinere Niederlassungen größerer Unternehmen gegebenenfalls mit höheren Kosten rechnen.

Darüber hinaus ist zu beachten, daß der Bereich der Telekommunikation einer sehr großen Innovationsgeschwindigkeit unterliegt. Im schlimmsten Fall können sich Investitionen für mittelständische Unternehmen in eine PABX mit Einbezug in ein hausinternes Kommunikationsnetz selbst überleben, bevor es vollständig entwickelt wurde. Zusätzlich ist zu beachten, daß sich Unternehmen auf einige wenige Spezialisten stützen müssen, die sehr teuer und am Markt sehr umworben sind.

Sich in solchen Situationen ausschließlich auf die Hersteller zu verlassen, bedeutet, sich in eine weitere Abhängigkeit zu begeben. Auch für kleinere Betriebseinheiten oder Niederlassungen eines Großunternehmens ist es nicht immer wirtschaftlich, sich eine ISDN-Anlage mit zeitgemäßen Leistungsmerkmalen zu erlauben. Um im Wettbwerb bestehen zu können, wird durch die modernen Leistungsmerkmale einer PABX der Anteil der Telekommunikationsko-sten an den Gesamtkosten eines Unternehmens immer größer werden.

Dabei ist zu beachten, daß große Unternehmen sich vielfach in einem ständigen organisatorischen Wandel unterziehen, indem Unternehmenseinheiten verkauft oder neu eingegliedert werden. Derartige Veränderungen werden Netzdesignern immer erst recht spät bekannt und zwingen zu permanenten Neuplanungen. Daneben wird die Bedeutung einer vermittelnden PABX im betrieblichen Ablauf immer mehr der Bedeutung einer verarbeitenden DV-Anlage ähneln, da sie neben der innerbetrieblichen (Sprach-) Kommunikation gerade auch die Kommunikation zur betrieblichen Umwelt gewährleistet, wobei eine PABX nicht nur Sprache, sondern zunehmend auch Daten und Texte vermittelt.

Angesichts der hohen Kosten einer PABX und auch der damit verbundenen Personal- und Wartungskosten sind hier durch Deregulierungsmaßnahmen bei der DBP durchaus Möglichkeiten gegeben, volkswirtschaftlichen Nutzen durch die Liberalisierung auch im Bereich der Sprachkommunikation zu erwirken.

Dabei bietet sich eine Anwendung an, die gerade für ein weitverzweigtes Unternehmen sowie für die mittelständische Wirtschaft eine Alternative zum Erwerb von PABX-Systemen sein könnte.

Gedacht wird dabei an Centrex-Systeme, die bereits heute in den USA und Großbritannien erfolgreich eingesetzt werden, in Deutschland jedoch noch nicht zulässig sind. Centrex (Central Exchange) erlaubt (öffentlichen und privaten) Netzwerk-Betreibern, Anwendern ein virtuelles privates Netzwerk zur Nutzung von integrierter Sprach- und Datenkommunikation zur Verfügung zu stellen.

Centrex ist für den (kleineren) Anwender eine interessante Alternative zu einer eigenen PABX, da alle gängigen Sprachleistungsmerkmale und Kommunikationsmöglichkeiten bereitgestellt und angeboten werden und die Systemwartung sowie (optional) das Netzwerkmanagement durch den Betreiber übernommen werden können.

Im Rahmen von Centrex vermieten/leasen Telefongesellschaften beziehungsweise PTTs Teile ihrer eigenen (öffentlichen) Vermittlungsanlage an geschäftliche (private) Nutzer. Hervorzuheben ist, daß öffentliche Vermittlungsanlagen in der Regel über einen hohen Sicherheitsstandard verfügen, etwa aufgrund von redundant vorgehaltenen Prozessoren, Batterie-Backup und einem stark ausgebauten Wartungsapparat, der mit privaten PABX-Installationen nicht vergleichbar ist. Öffentliche Betreiber fordern in der Regel bei Herstellern öffentlicher Vermittlungssysteme hinsichtlich der Systemverfügbarkeit eine Meantime Between Failure von 25 Jahren.

Wenn ein privater Anwender Centrex-Services nutzt, statt eine PABX zu installieren, stellt der öffentliche Vermittlungsrechner besondere Dienste bereit. Private Nutzer und Centrex-Anbieter sind durch normale Postleitungen verbunden, die sich nicht von denen normaler Telefonkunden unterscheiden. Die Anrufe werden aber unterschiedlich gehandhabt. Für Centrex-Nutzer sieht es so aus, als ob sie eine eigene PABX mit allen Leistungsmerkmalen hätten. Nebenstellen werden durch den Centrex-Anbieter bereitgestellt. Der Nutzer beantragt lediglich Anschlüsse und Leistungsmerkmale beim Betreiber.

Indem der Centrex-Anbieter alle Sprachleistungsmerkmale vorhält und diese einer Reihe von Nutzern anbietet, verbilligt sich die Nutzung für den einzelnen Anwender. Der Betreiber berechnet lediglich eine Miete pro Nebenstelle. Intern kommuniziert er kostenneutral. Extern angeschlossene Nebenstellen - wie abgesetzte Büroeinheiten - werden, sofern sie an Centrex angebunden sind, ebenfalls wie hausinterne Gespräche behandelt. Externe Verbindungen zu Dritten unterliegen der üblichen Tarifierung. Anrufe von Nebenstelle zu Nebenstelle sind - wie bei einer privaten PABX - kostenfrei. Durchwahl von innen und außen ist möglich, Sammelanschluß und Nachtschaltung ebenfalls. Accountingmöglichkeiten und Gesprächsaufzeichnungen pro Nebenstelle sind gewährleistet.

Der Anwender braucht sich um nichts zu kümmern. Die technische Wartung beispielsweise ist die alleinige Aufgabe des Centrex-Betreibers. Auch das Netzwerkmanagement - sofern nicht von einzelnen Anwendern gewünscht - wird durch den Betreiber wahrgenommen. Andererseits können größeren Centrex-Nutzern Netzwerkmanagement- und Steuerungsmöglichkeiten überlassen werden, um dem Nutzer direkten Zugang zu seinen eigenen Netzwerkinformationen zu geben und ihm Informationsmöglichkeiten einzuräumen.

Für Centrex prädestiniert sind Unternehmen mit einem weit verteilten Niederlassungsnetz sowie Unternehmen, die häufig innerhalb eines Ortes ihren Standort wechseln, jedoch für Kunden immer unter der gleichen Rufnummer erreichbar sein sollen. Auch schnell wachsende Unternehmen beziehungsweise Unternehmenseinheiten lassen sich so besonders gut versorgen, da sich Centrex-Systeme flexibel an die Anforderungen der Nutzer anpassen können. Schließlich kann ein räumlich verteiltes Unternehmen - sofern erwünscht - unter einer Rufnummer erreichbar sein.

Ein weiterer wesentlicher Gesichtspunkt gegenüber privaten PABX-Systemen ist der Schutz vor Veralterung. Während in der Bundesrepublik zur Zeit noch Abschreibungsfristen für Telefonanlagen von zehn Jahren bestehen, obwohl Vermittlungs-rechner von DV-Anlagen nicht mehr zu unterscheiden sind und mithin ebenso schnell veralten, werden Centrex-Systeme - gerade auch, um im Wettbewerb zu bestehen - ständig auf dem neuesten Stand der Technik gehalten.

Darüber hinaus bieten diese Systeme VAS, wie Diktiereinrichtungen, Personensucheinrichtungen, Datenverbindungen und Voice Mail an.

Centrex-Rechner lassen sich auch miteinander vernetzen. Zahlreiche Knoten helfen großen, weit verbreiteten Unternehmen, komplexe Netzwerke zu konfigurieren und bieten so darüber hinaus ein Mittel, verteilte Anwendungen für die Büroautomatisierung zu implementieren (DDP-Ansatz). In Nordamerika geht die Entwicklung in Richtung größerer und komplexerer Centrex-Systeme, die nationale und auch internationale Verbindungen umfassen. Ein nationales oder gar internationales Unternehmen wird hinsichtlich der Inhouse-Kommunikation zu einer logischen Gesamtheit (Mandantenfähigkeit).

Nutzen auch für die Datenkommunikation

Ein weiterer Nutzen besteht bei Unternehmen, die verschiedene Anlagen in unterschiedlichen Gebäuden über Querverbindungen zusammenschalten. Centrex macht derartige Verbindungen überflüssig. Gesprächsdaten werden von allen Mitarbeitern einer Unternehmung - etwa durch Kostenverteilung - bereitgestellt. Vermittlungspersonal kann reduziert und zentralisiert oder vom Centrex-Betreiber bereitgestellt werden. Jede Niederlassung, die eigenes Vermittlungspersonal bei einer privaten PABX benötigt, kann Einsparungen realisieren. Zentral bereitgestellte Ressourcen, wie Voice Mail, können allen Niederlassungen zur Verfügung gestellt werden.

Centrex-Systeme wurden bislang ausschließlich aus Sicht der Sprachkommunikation betrachtet. Interessant ist diese Netzwerkanwendung auch für die Datenkommunikation eines räumlich verteilt operierenden Unternehmens.

So läßt sich beispielsweise Datenkommunikation via PCs über Centrex-Telefonverbindungen realisieren. Eine andere Anwendung ist die Bereitstellung von zentral vorgehaltenen Büroanwendungen, wie Electronic Mail und einer Vermittlungsanlage, die komplette Datenkommunikationsdienste anbietet. Die Verbindung von dem Kunden zum Serviceanbieter kann je nach Aufkommen im Megabit-Bereich pro Sekunde (S2-Verbindung) liegen und erlaubt, zahlreiche Sprach- und Datenübertragungen simultan abzuwickeln.

Diese Variante ist besonders für kleine abgesetzte Betriebseinheiten bei der Anwendung X.400-Electronic Mail von Interesse. Aufgrund der neuesten CCITT-Standardisierung (Sitzungsperiode '88) lassen sich Teile des User Agents von der PC-Anwendung in einen größeren Rechner auslagern, wodurch sich die Performance kleinerer Systeme weiter erhöht (Protokoll P3+).

Alternativ besteht die Möglichkeit, nachts die Kapazität für Sprachkommunikation vollständig für die Datenkommunikation zu nutzen, um die gesamte Leitungskapazität zum Beispiel für File Transfer zu nutzen; Voraussetzung dafür ist ein dezentrales Netzwerkmanagement, wo die "Umschaltung" vollzogen wird. Auf diese Weise werden die Dienste eines großen zentralen Bürocomputers mit denen einer Vermittlungsanlage, die Daten der lokalen Welt zu weit entfernten Rechnern überträgt, kombiniert.

Dieser Dienst ist primär für private Netzwerke innerhalb einer Gesellschaft ausgelegt. Er erlaubt Unternehmen, sich innerhalb eines weitläufigen, Gebietes oder einer Stadt auszubreiten. Besonders für solche Betriebe, die sich über mehrere Etagen eines Hauses oder über unterschiedliche Gebäude verteilen und die Installation eines herkömmlichen LAN unmöglich machen, ist dies eine Alternative.

Schließlich kommt der Datenkommunikation via Centrex im ISDN besondere Bedeutung zu, können doch auch kleine Betriebe ohne die Installation einer ISDN-Anlage den vollen Anwendungsspielraum von ISDN ausnutzen. Die Sprach- und die Datenfähigkeit von Centrex ist ausgelegt auf die Möglichkeiten der ISDN-Vorgabe von zwei

B-Kanälen und einem D-Kanal.

wird fortgesetzt