Gründerfieber in Großbritannien

Cambridge: E-Revolution im Freilichtmuseum

19.01.2001
Cambridge ist zurzeit der wohl wichtigste Technologiestandort Europas. 5200 Hightech-Unternehmen haben sich hier angesiedelt - zur einen Hälfte auf IT und Telekommunikation spezialisiert, zur anderen auf Biotechnologie. Eine verblüffende Entwicklung für eine Stadt mit nicht mehr als 120000 Einwohnern, von denen jeder sechste studiert. Von Kaspar Meuli*

Nach dem Studienabschluss gibt es für die besten Computerwissenschaftler meist nur ein Ziel: auf ins Hightech-Mekka USA. Der Züricher Ralph Sommerer jedoch teilte diesen Traum nicht. "Ich konnte mit dieser Amerika-Philie nie etwas anfangen. Meiner Meinung nach sollte man Europa pushen." Forschen im Dienste von US-Giganten wie Sun und Microsoft stand für Sommerer (37) deshalb nie zur Diskussion - bis er von Bill Gates Plänen in Cambridge hörte. 1997 kündigte jener an, in der traditionsreichen englischen Universitätsstadt das erste Microsoft-Forschungszentrum außerhalb der USA aufzubauen.

Sommerer bewarb sich um eine Stelle, stieß als einer der Ersten zum Team von Hochbegabten bei Microsoft Research: "Mir gefällt die offene Atmosphäre, der Austausch mit anderen Labors. Ich habe die Freiheit zu machen, was mich interessiert. Im Unterschied zur Uni-Forschung kann ich auch auf Produkte Einfluss nehmen." Spezialgebiet des Schweizers: das elektronische Buch. Früchte seiner Arbeit sind zum Beispiel im Betriebssystem CE 3.0 für Taschencomputer integriert.

Dass sich der Softwaregigant aus Seattle ausgerechnet in Cambridge niederließ, ist kein Zufall. "Diese Stadt ist eine wahre Brutstätte für Hightech-Startups", sagt Professor Roger Needham, eine Kapazität auf dem Gebiet der Computersicherheit und Direktor von Microsoft Research. Cambridge ist zurzeit der wohl wichtigste Technologiestandort Europas. 5200 Hightech-Unternehmen haben sich hier angesiedelt. Das Wachstum - die Arbeitlosigkeit nähert sich dem Nullpunkt - verdankt Cambridge seinem Ruf als Forschungsstandort erster Güte. Die Aussicht auf Zusammenarbeit mit hochkarätigen Wissenschaftlern zog private Labors an, und daraus entwickelten sich neue Firmen.

"Die stimulierende intellektuelle Atmosphäre", sagt der 65-jährige Needham, "ist von größter Bedeutung, um erstklassige Forscher zu rekrutieren." Ein Ende des Booms ist nicht in Sicht. Monat für Monat werden durchschnittlich 20 neue Firmen gegründet. Vorwiegend Startups, die sich der Ausgestaltung des Internet und dem E-Commerce verschrieben haben.

Die Goldgräberstimmung bringt einen neuen Menschenschlag in die bis dahin von kultivierten Gelehrten geprägte Stadt. Zu besichtigen etwa am Bahnhof nach Ankunft des Schnellzuges aus London. Die Warteschlange am Taxistand nimmt erschreckende Ausmaße an. Dutzende von Geschäftsleuten stehen im Nieselregen, Handy am Ohr und Kontakt nach Paris, New York oder San Franzisko. Gekleidet mit nonchalanter Eleganz. Amerikanischer oder französischer Akzent - die Venture Capitalists sind im Land.

Zu den Risikokapitalgebern, die in Cambridge nach zukunftsträchtigen Geschäftsideen Ausschau halten, zählt auch Emma Edelsohn. Die 26-Jährige ist die Mitbegründerin von Oxygen, einer Firma, die Unternehmertalenten direkt nach der Uni unter die Arme greifen will. Edelsohn hat den eingeflogenen Wagnisfinanziers etwas voraus - sie hat selbst in Cambridge studiert und verfügt über ein entsprechendes Beziehungsnetz. "Ich bekam mit, wie viele meiner Studienfreunde vergeblich nach Geld für ihre eigene Firma suchten. Diese Kids hatten tolle Ideen, aber entsprachen einfach nicht den Vorstellungen der traditionellen Kapitalgeber." Edelsohn - Abschluss in modernen und alten Sprachen, zwei Jahre Sport-Marketing bei IMG - beschloss, in die Lücke zu springen. Mit ihrem Vater, einem erfolgreichen Geschäftsmann und ehemaligen Verwaltungsrat von Manchester United, hat sie Oxygen gegründet. Sie hat sich Internet-Startups verschrieben, die nicht nach Millionen Ausschau halten, sondern nach einigen Hunderttausend Mark. Wichtiger aber noch als Kapital sei die Unterstützung in allen Fragen des Managements. "Viele der Ideen, die uns vorgelegt werden, wurden bei einem Bier im Pub ausgeheckt." Ungeschliffene Diamanten sozusagen.

Bereits bei 25 Jungunternehmen als Geburtshelfer gewirkt hat Hermann Hauser, ein österreichischer Physiker, der als Doktorand in die Unistadt kam und heute als zentrale Figur hinter dem "Phänomen Cambridge" (Financial Times) gilt. Nachdem sich der heute 51-Jährige in den 80er-Jahren mit dem britischen Computerhersteller Acron die unternehmerischen Zähne ausbiss und später am Erfolg des Chip-Designers ARM beteiligt war, ist er heute für einen Kapitalfonds verantwortlich, der in Technologie-Startups investiert. Die Zukunft für den Hightech-Standort Cambridge sieht Hauser als "sehr rosig". Enthusiastisch stimmt ihn die Tatsache, dass 1999 gleich drei lokale Firmen in die Liga der Börsen-Milliardäre aufgestiegen sind: ARM (Strom sparende Mikroprozessoren), Virata (Chips für schnellen Internet-Zugang) und Autonomy (Software zur Bewältigung der Informationsflut auf dem Net). "Ich verkaufe seit 20 Jahren Cambridge-Technologie in den USA", sagt Hauser, "und bekam dabei immer zu hören: Wenn Cambridge wirklich so toll ist, wo bitte ist dann eure Billion-Dollar-Company zum Beweis?"

Die Spötter sind verstummt. Unter den Geldgebern von Hausers Amadeus-Fonds finden sich heute mehr Amerikaner als Europäer. Zu den Investoren zählt unter anderem auch Microsoft. Für das Klima in Cambridge, so Hauser, sei aber nicht die Anerkennung von jenseits des Atlantiks entscheidend, sondern der Nachahmungseffekt, den die Erfolgsstories unter den Studenten ausgelöst haben. "Die Stimmung ist wie im Silicon Valley vor zehn Jahren. Die Erregung lässt sich mit Händen greifen." Kein Wunder also, dass Tony Blair die Nation von Cambridge aus dazu aufforderte, "die E-Revolution anzuführen." Seinen Gastgebern im Silcon Fen (deutsch: Moor - eine Anspielung auf das sumpfige Hinterland von Cambridge) bleute er ein, dem Silicon Valley Konkurrenz zu machen. Ein reichlich vermessenes Ziel: Noch sind die Firmen, die im Umfeld der Cambridge University entstanden sind, an der Börse 50 Mal weniger wert als die Spinoffs der kalifornischen Stanford University.

So scheint denn auch vor Ort jeder Vergleich mit dem kalifornischen Hightech-Mekka an den Haaren herbeigezogen. Cambridge macht den Eindruck eines Freilichtmuseums. In den gepflasterten Gässchen sind Fahrräder mit Weidenkörben unterwegs, und den Studierenden empfehlen sich Geschäfte wie Ryder&Amies, deren Auslage Talare und Krawatten mit den Emblemen der einzelnen Colleges zieren. Bei genauerem Hinsehen aber lassen sich auch im mittelalterlichen Herzen der Stadt Spuren der Hightech-Euphorie erkennen. In der Mensa des ehrwürdigen Trinity College etwa, einem Saal mit der Raumhöhe einer Kathedrale, lädt ein Anschlag zu den ,Entrepreneur Lectures'' ein. Redner sind die CEOs der einheimischen Börsenstars. Sie sind in den Technoparks an der Peripherie groß geworden, wo in letzter Zeit so viele Firmengebäude aus dem Boden schossen, dass die Stadt mit akutem Mangel an Bauland kämpft. Bezeichnenderweise finden sich unter den Neubauten auch die Sitze von Beratungsunternehmen. In Cambridge sind zum Beispiel rund 1500 Anwälte tätig - ein untrügliches Zeichen für den Boom an Firmengründungen.

Vom kräftig sprießenden Unternehmergeist im Elfenbeinturm Cambridge zeugt auch der Business-Plan-Wettbewerb an der Uni. Auf Anhieb machten 1999 an der ersten Auflage 450 Teilnehmer mit. Organisator des Wettbewerbs ist Matt Schofield - ständig unter Strom und Prototyp eines Zampanos der Internet-Generation. Er studierte zuerst Psychologie und arbeitete danach als jetsettender Berater für McKinsey und Arthur Andersen. Im Moment beendet der 34-Jährige sein Zweitstudium als Manufacturing-Ingenieur. Thema seiner Dissertation: Erfolgsanalyse beim Chip-Designer ARM. Den Lebensunterhalt verdient er sich mit einer eigenen Firma als IT-Consultant in Kolumbien und der Türkei. Karrierebewusst? Keine Spur! Schofield sieht sich als Aussteiger und Weltverbesserer. Genau deshalb will er auch das Unternehmertum unter seinen Mitstudenten fördern: "Ich will keinen unserer hellen Köpfe an amerikanische Topunis abwandern sehen, bloß weil es ihnen in Cambridge an Unterstützung beim Aufbau einer eigenen Firma fehlt."

So viel Aufbruchstimmung versetzt alteingesessene Bewohner in Angst und Schrecken, denn sie sehen vor allem die Schattenseiten des Booms. Schon heute bricht im ehemaligen Marktstädtchen regelmäßig der Verkehr zusammen, und die Immobilienpreise steigen unaufhaltsam. Nun hat die Regierung Abhilfe versprochen: Bis zum Jahr 2016 sollen im Grüngürtel rund um Cambridge 80000 neue Häuser gebaut werden - eine Ankündigung, die bei Umweltschützern für einen Proteststurm sorgte.

Sorgen, die kaum bis zu Adam Twiss vorgestoßen sind. Der 23-Jährige ist voll und ganz damit beschäftigt, die rasante Entwicklung seiner Firma im Griff zu behalten. Zeus Technologies, die vor drei Jahren in einer Studentenbude ihren Anfang nahm, stellt Server-Software für einen effizienteren Betrieb von Websites her. Die Firma verzeichnete in der Vergangenheit Zuwachsraten von 200 Prozent und verfügt über Ableger in den USA und Japan. Twiss - Typ: Wunderkind von nebenan - gilt als Vertreter der neuen E-Elite Großbritanniens und ist ein Liebling der Medien. Geduldig erzählt er im brandneuen Zeus-Hauptquartier, wie ihn Kapitalgeber zum Umzug ins Silicon Valley bewegen wollten. Der freundliche Junge lehnte ab: "Wir wollen unsere Firma von Cambridge aus groß machen." Hier sei es noch möglich, gute Mitarbeiter zu zahlbaren Löhnen einzustellen und bei der Stange zu halten. "Im Gegensatz zum Silicon Valley ist bei uns auch der Zusammenhalt unter den Net-Unternehmern groß."

*Kaspar Meuli ist freier Journalist in Zürich.